Sonntag, 30. April 2017

Weimar – eine Abrechnung

„Als in Amerika die Urwälder fast überall dem Erdboden gleichgemacht, beinahe alle edlen Tiere erlegt, die Indianer mit Branntwein und Flintenkugeln nahezu ausgerottet worden waren, zäunte man ein Stückchen ein und schuf den Yellowstonepark. Dann zeigte man ihn der Welt, zum Zeichen pietätvollen Verständnisses, das das angeblich so nüchterne Amerika der Natur entgegenbringe, und konnte ruhig den Rest der Urwälder, der Indianer und der Tiere vernichten. Wir hingegen haben Weimar.“ (Egon Erwin Kisch: Der Naturschutzpark der Geistigkeit)
Irgendwo im turborechtsradikalisierten Osten dieser Republik eitert eine Pilgerstätte aus dem Boden, die vor allem bei jungen Menschen gefürchtet ist: Weimar. Die Stadt ist der Wallfahrtsort des biederen deutschen Bildungsbürgers, wo er pflichtschuldig den literarischen Idolen der Vergangenheit – Goethe, Schiller, Herder, Wieland -, deren Schriften er zuletzt in seiner Schulzeit gelesen hat, seine Huldigung erweist. Hier verbinden sich Kultursinn und Nationalstolz, einige reichern diese Mischung mit ein wenig Geschichtsbewusstsein an, in dem sie dem nahegelegenen KZ Buchenwald einen flüchtigen Besuch abstatten, bevor es zu Schweinebraten und Thüringer Klößen in den Elephantenkeller geht. Kisch beschrieb Goethe als einen Autor, „der ein geschraubter Prosaschriftsteller, ein oft schwacher Dramatiker, ein mittelmäßiger Gelehrter, ein mustergültiger Untertan, ein kriecherischer Fürstendiener und eigensüchtiger, neidischer Mensch war.“ (Egon Erwin Kisch: Westfront 1918 – Französische Revolution – Goethe)
Wir sollten denen gegenüber misstrauisch sein, die uns als Vorbild verkauft werden.
Der Wolf – Gibt‘s doch gar nicht. https://www.youtube.com/watch?v=w4m3_LHFVVA

Donnerstag, 27. April 2017

Der Zorn des Lahn

https://www.youtube.com/watch?v=wKp2t7kW70E
Sie hatten drei Dinge gemeinsam: Schuhgröße 45, eine Vorliebe für Pelmeni und ihre Beteiligung an der „Aktion 83“, wie es in den Unterlagen des Geheimdienstes hieß, oder dem „Paderborn-Massaker“, wie es die Medien nannten.
Zehn Jahre später standen sie sich wieder gegenüber. Aber nur W. Lahn hatte eine Waffe in der Hand.
Geblendet von seinen glänzenden Erfolgen hatte der Schraubenzieher-Man übersehen, dass sich in seinem Schatten ein gefährlicher Gegner in Stellung bringen konnte.
***
Frau Leerhammer-Moppelstock, die große alte Dame des finnischen Tango und bekennende Passivraucherin, machte sich gerade eine Portion gummiartiger Mikrowellen-Cevapcici heiß, als das Gerät einen klagenden Laut von sich gab und kurz darauf in seine Einzelteile zerfiel. Die graubraunen Gekrösewürstchen rollten über die Arbeitsplatte ihrer Einbauküche, eines kullerte sogar auf den gefliesten Boden.
Die finsteren Jünger von W. Lahn hatten ihre Waffe zum Einsatz gebracht: den Korrosions-Strahl-O-Mat. Mit dieser Waffe rosteten alle Schrauben im Umkreis von fünfzig Metern in Windeseile und zerbröselten zu rotem Staub. Während die arme alte Frau gellende Schreie ausstieß, zerfielen auch der Kühlschrank, die Küchenschränke und Schubladen.
***
„Florian Herpesacker“, dröhnte es aus dem Lautsprecher im Klassenzimmer. „Kommen Sie sofort ins Büro des Direktors.“
Anerkennendes Lächeln der Schulkameraden. Das war der Ritterschlag an der Ernst-Huberty-Gesamtschule in Bad Gotham. Besser als ein Eintrag ins Klassenbuch. Imagefördernder als ein „Ausreichend“ in der Kopfnote für Betragen.
Während Herpesacker freudestrahlend das Klassenzimmer verließ, hörte er noch den Mathelehrer sagen: „Wir schreiben heute eine unangekündigte Hausaufgabenüberprüfung.“ Es folgte ein kollektives Aufstöhnen.
Im Zimmer von Schuldirektor Dieter Wohlgemuth, einem beleibten Mitfünfziger mit gigantischem Stirnrelief, wurde er gebeten, sich zu setzen.
„Commissioner Schmuhlke hat mich angerufen“, begann der Direktor. „Offenbar braucht die Polizei Ihre Hilfe. Können Sie mir erklären, was das soll?“
„Das ist leider streng geheim“, entgegnete Herpesacker kühl.
In Wirklichkeit war er nämlich der Kreuzschlitz-Boy. Jetzt zählte jede Sekunde!
„Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.“
Dann suchte er eine Telefonzelle, um sein Superheldenkostüm anzuziehen. Versuchen Sie heutzutage mal, eine Telefonzelle zu finden.
***
Währenddessen in einem düsteren alten Lagerhaus in Bad Gotham.
„Lass uns nicht streiten, Willibald“, versuchte es der Schraubenzieher-Man.
Seine Stimme klang verständnisvoll, geradezu konziliant, fast ein bisschen zärtlich. Was war los mit unserem Superhelden? Ansonsten war er doch so gradlinig wie ein Straight Flush.
„Keine Tricks, Andy“, sagte W. Lahn. „Deine Zeit ist abgelaufen.“
„Wollen wir um der alten Zeiten willen nicht mit einem Gläschen Champagner anstoßen, bevor ich abtrete? Es ist meine letzte Bitte. Das kannst du mir doch nicht abschlagen.“
Lahn war irritiert.
Der Schraubenzieher-Man lächelte und zauberte eine Flasche Veuve Cliquot aus seinem Umhang.
Jetzt grinste auch der Schurke. „Na gut. Ein letztes Glas Champagner, du alter Schlawiner.“
Der Schraubenzieher-Man schüttelte die Flasche und schoss den Korken auf den Hauptschalter des Korrosions-Strahl-O-Maten. Die Pistole in Lahns Hand zerfiel zu Schrott und der Rest ist schnell erzählt.
Handkantenschlag. Ein Springdrehwurf, „Hane-Maki-komi“. Ein Hebezughüftwurf, „Tsuri-Komi-Goshi“. Ein seitlicher Kopfwurf, „Yoko-Tomoe-Nage“. Sicherheitshalber noch ein Schlag mit dem Nunchaku über den Schädel – schon war die Sache erledigt.
P.S.: Während des Kampfs saß der Kreuzschlitz-Boy noch im Bus und verliebte sich gerade in ein Mädchen mit Zahnspange, das er aber nie ansprechen sollte.
Red Rockers – China. https://www.youtube.com/watch?v=N3a_gcBXJ0E

Montag, 24. April 2017

Demnächst im ICE

„Ursprüngliche Aufgabe der Polizei war der Schutz der Gesellschaft vor Verkehrsunfällen und vor Verbrechen. Längst aber ist sie darüber hinaus zu einer Waffe geworden, angewendet wider alle, die aufzumucken wagen gegen Willkür des Unternehmers, gegen Dünkel des Bürokraten und gegen Missbrauch der Gesetze. Die Polizei ist ausführendes Organ der Machthaber, und schrankenlos wütet sie in ihrem Wirkungsbereich.“ (Egon Erwin Kisch: Die Polizei und ihre Beute)
Diese neuen Datenbrillen sind einfach großartig. Sie erleichtern mir meine Arbeit und wir haben bei der Deutschen Bahn eine neue Dimension in Sachen Sicherheit erreicht. Mit dieser Brille kann ich nicht nur erkennen, ob sich im Gepäck oder unter der Kleidung verdächtige Gegenstände wie zum Beispiel Waffen verbergen, sondern ich bekomme auch die persönlichen Daten übermittelt, die jeder Fahrgast per Smartphone automatisch sendet.
So erkenne ich mühelos, dass sich vorne links an einem Vierertisch Studentinnen aus Magdeburg versammelt haben. Wenn ich wollte, könnte ich ihre Namen und Adressen in Erfahrung bringen, aber sie sind harmlos. Schräg rechts sitzt eine Geschäftsfrau in einem Business-Kostüm. Merkwürdig, dass sie nicht in der ersten Klasse fährt. Vielleicht ist sie einfach nur geizig oder will ihrem Vorgesetzten beweisen, dass sie das Geld der Firma nicht zum Fenster rausschmeißt. Selbst dürfte sie genügend Kapital haben, denn sie ist eine Alpha. Was Einkommen und Vermögen anbelangt, sind die Passagiere in vier Klassen eingeteilt. Die Besserverdienenden sind Alphas, die Normalverdiener sind Betas, die Geringverdiener sind Gammas und die Menschen ohne nennenswerten Geldbesitz, Schüler, Studenten und Kinder, sind die Omegas.
Einige Männer haben Bluthochdruck, einer hat besorgniserregende Cholesterinwerte. Die Frauen sind oft viel gesünder als die Männer. Bisher kein Vorbestrafter im Zug. Eigentlich alles ganz belanglos oder amüsant. Da sitzen ein Mann und eine Frau teilnahmslos und schweigend nebeneinander, die beide sehr aktiv auf Dating-Seiten unterwegs sind. Aber ich darf nichts sagen.
Nur zwei digitale Signaturen fehlen. Da ist eine ältere Dame, die in der Mitte des Großraumwagens am Fenster sitzt. Vermutlich hat sie kein Smartphone, obwohl es selbst für alte Menschen ungewöhnlich ist. Ich schätze sie jedoch als ungefährlich ein.
Die zweite Person ist ein junger Mann mit schwarzen Haaren und schwarzem Vollbart. Im Gepäckstück über ihm erkenne ich einen zylindrischen Gegenstand, der metallisch ist. Ich löse sicherheitshalber Alarmstufe C aus und spreche den Mann an.
„Entschuldigen Sie, kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?“
Er sieht mich verblüfft an. „Warum wollen Sie mich kontrollieren?“
Ich lasse mich von der Gegenfrage nicht irritieren. „Ich möchte Ihren Ausweis sehen. Sicherheitskontrolle.“
„Ich habe keinen Ausweis dabei.“
Ich löse Alarmstufe B aus. „Es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit. Können Sie sich über Ihr Smartphone legitimieren?“
„Ich habe kein Smartphone.“
„Kein Smartphone? Wie haben Sie das Ticket gekauft? Wie haben Sie den Sitzplatz reserviert?“
„Das hat ein Freund für mich erledigt.“
Inzwischen steht mein Kollege neben mir. „Wie heißen Sie?“
„Deniz Naki.“
„Türke?“
„Kurde.“
„Können wir mal einen Blick in Ihr Gepäck werfen?“
Der zylindrische Metallkörper ist ein Deo-Spray. Wir werden ihn trotzdem im Auge behalten. Er hat den Eintrag „V“ für Verdächtiger in seine Kundendatei bekommen. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein.
Eurythmics - Room 101. https://www.youtube.com/watch?v=AhhQK4xc7Ik

Sonntag, 23. April 2017

Blitz-News

Volkswagen, Telekom und die Deutsche Bank haben sich zur IG Profit zusammengeschlossen, Bayer, Daimler, Siemens und SAP zu BADASS. Die beiden neuen Großkonzerne haben beschlossen, die deutschen Parteien untereinander aufzuteilen.
Die Wähler haben bei der nächsten Bundestagswahl die Möglichkeit, die GLÜCK, die große landesweite überparteiliche christlich-soziale Koalition (Schwarz-Rot-Grün-Gelb-und-nochmal-Rot) anzukreuzen. Ihr Vorteil: Die Wahlentscheidung gibt es jetzt im Abo. Sie verlängert sich automatisch alle vier Jahre, wenn Sie das Abo nicht kündigen (0800-300133).

Samstag, 22. April 2017

Gedanken aus dem Wirtshaus

„Auf dem Lande geschieht im Grunde genommen auch mehr, als in der Stadt; denn dort liest man die Geschehnisse kalt und gelangweilt aus der Zeitung, während sie hier von Mund zu Mund fieberisch und atemlos erzählt werden.“ (Robert Walser: Geschwister Tanner)
Wie frei ist man in einem Land, in dem selbst eine so harmlose und friedfertige Sache wie der Schlaf vielerorts verboten ist? Ich sitze im Wirtshaus, auf dem Tisch stehen die sanft und schön geschwungenen Weizenbiergläser, und achte kaum auf die Erzählung meines Gegenübers. Was wäre, wenn ich an diesem Tisch einschliefe? Die Kellnerin würde mich sicher wecken, denn es ist nicht erlaubt, im Wirtshaus zu schlafen. Wo ist das Schlafen erlaubt? In einer Bankfiliale, in einem Supermarkt, in einer Bäckerei? Kann ich mich einfach auf den Bürgersteig legen und schlafen? Der Schlaf ist von Verboten umzingelt. Für den Schlaf haben wir das Schlafzimmer und im Schlafzimmer wiederum das Bett. Das eigene Bett natürlich, denn wir haben es hier mit Begriffen wie Besitz und Territorium zu tun. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn ich ungefragt in ein anderes Haus ginge und mich dort in ein Bett legte. Man würde die Polizei rufen. Oder stellen Sie sich vor, sie wären zum Essen bei Freunden eingeladen und gingen nach dem Essen in deren Schlafzimmer, zögen sich aus und würden in deren Bett schlafen. Es wären keine Freunde mehr.
Wo kann ich also ungestraft einschlafen? In der U-Bahn? Nur begrenzt, denn an der Endstation heißt es: „Alle aussteigen“. Auf einer Sitzbank oder im Park ist es bestenfalls geduldet und die Schläfer stehen im Regelfall außerhalb der bürgerlichen Ordnung. Sie haben kein Geld, keine Adresse, keine Zukunft – sie haben nichts mehr zu verlieren. Wir schauen an diesen Schläfern vorbei, mancher rümpft missbilligend die Nase und klagt über den Verfall der Sitten in seiner schönen Stadt. Der Schlaf ist nicht frei, der Schlaf ist an feste Regeln und Gesetze gebunden. Aber der Gedanke ist tröstlich, dass der Schlafende in seinen Träumen von all dem nichts merkt. Ja, der Schlafende ist frei, wenn auch nur innerlich. Seine Freiheit endet, wenn er aufwacht. Oder wenn man ihn weckt.
Während die Erzählung meines Gegenübers kein Ende nehmen will, trinke ich in langen Zügen mein Bier und freue mich an meinen kleinen Wirtshausbeobachtungen. Am Nachbartisch ist eine große Familie versammelt, vielleicht sind es auch zwei oder drei Familien, denn es sind viele Erwachsene und wenige Kinder. Eine Frau hat gerade verkündet, sie sei Fan von Borussia Dortmund. Ein Mädchen, sie ist vielleicht vier Jahre alt, antwortet fröhlich: „Ich bin Fan von Biene Maja.“ Später fragt sie, wie das Schwein heißen würde, dessen Fell an der Wand hängt. Tatsächlich hängt ein großes Wildschweinfell im Wirtshaus. Hat sich jemals ein Mensch die Mühe gemacht, nach dem Namen des Tiers zu fragen? Selbstverständlich bekommt das Kind keine Antwort. Nur die Unfreien haben Namen, die Tiere im Wald brauchen diese Albernheiten nicht.
Bald darauf gehen die Familien und ich sehe das kleine Mädchen, als es ausgiebig den ausgestopften Fuchs in der Ecke streichelt, den noch nicht einmal die Hunde beachten. So sanftmütig und naiv möchte ich noch einmal sein. Sie denkt vermutlich, der Fuchs würde nur schlafen. Ich weiß, dass sie eine Leiche liebkost. Mit gutem Appetit verspeise ich mein Rumpsteak und bestelle noch ein Hefeweizen.
Blondie – Denis. https://www.youtube.com/watch?v=ahGxiSV_LH0

Donnerstag, 20. April 2017

Schraubenzieher-Man – Jenseits der Donnerkuppel

https://www.youtube.com/watch?v=wKp2t7kW70E
Cybert Blonk, Sohn eines einfachen Wanderurologen und einer Leukoplastverkäuferin, war ein Elektriker, der eigentlich immer mit seinem Leben zufrieden gewesen war. Aber die Verachtung gegenüber Handwerkern, die ja gerade in den wohlhabenden und gebildeten Schichten dieser Stadt ums sich griff, hatte ihn zunehmend verbittert. Und dann kam der schlimmste Tag in seinem Leben: Er wurde entlassen.
Mit der ganzen Niedertracht eines Emporkömmlings, der von seinem kleinbürgerlichen Größenwahn längst selbst geblendet worden ist, verteilte der Chef an diesem Morgen die Kündigungsschreiben. Mit triumphalem Gebell rief er die Namen der Mitarbeiter einzeln auf, die vortreten und sich das Schreiben abholen mussten.
Diese haarsträubende, um nicht zu sagen herzzerreißende Unbarmherzigkeit seines hochverehrten Vorgesetzten und Meisters gab den Ausschlag. So wurde aus einem aufrechten Handwerker ein fürchterlicher Verbrecher. Meistens erfahren wir ja gar nicht, warum ein Mensch zum Verbrecher wird. Aber das muss einmal gesagt werden: Diese Kündigung hat ihn zu dem gemacht, was er heute ist.
Herr des Lichts, so nannte er sich von nun an. Cybert Blonk wurde ein größenwahnsinniger Elektriker und der nächste Endgegner von Schraubenzieher-Man. Sein Ziel war es, die gesamte Stromversorgung Bad Gothams unter seine Kontrolle zu bringen.
***
Es war in der Stunde vor Sonnenaufgang, wenn die Nacht am kältesten ist. Der Schraubenzieher-Man aß gerade Würstchen aus der Dose. Um weder Teller noch Besteck benutzen zu müssen, hatte er sich über die Spüle gebeugt. Früher hätte man dieses Verhalten als asozial oder bestenfalls als schamlos bezeichnet, aber der Neoliberalismus hat auch sein Gutes. Er war effizient und hatte den Prozess des Essens rationalisiert. Er hatte den ganzen Ablauf um einige Arbeitsschritte verschlankt, quasi Lean Management im Kitchen-Bereich.
Da klingelte das Schraubenzieher-Man-Phone. Der Schraubenzieher-Man schlurfte in seinen Schraubenzieher-Man-Häschengesichtpantoffeln zum Apparillo, den Mund voller Wurst, und nuschelte ein Hallöchen in die altertümliche Sprechmuschel aus Bakelit.
„Hier ist Commissioner Schmuhlke.“
„Schmuhlke, Sie alter Archivaxolotl! Wie geht’s, wie steht’s?“ Der Schraubenzieher-Man war wie immer guter Laune, weil er gerade etwas gegessen hatte.
„Es geht und es steht noch. Doch deswegen rufe ich nicht an. Die Mächte der Finsternis bedrohen die Stadt.“
„Zombie-Vampire?“
„Schlimmer.“
„Nordkoreanische Zombie-Vampire?“
„Nein, eine Bande von Elektrikern. Sie wollen Dunkelheit über die Stadt bringen.“
***
Bei Kreuzschlitz-Boy klingelte der Notalarmwecker. Aus riesigen Lautsprechern in seinem Schlafzimmer dröhnte die Stimme von Schraubenzieher-Man: „Auf zum Elektrizitätswerk!“
‚Prima‘, dachte der Kreutzschlitz-Boy. ‚Dann muss ich keine Mathe-Hausaufgaben machen. Und wenn der Kampf gegen das Böse bis um zehn Uhr dauert, muss ich auch nicht in den Kunstunterricht.‘
***
Das Elektrizitätswerk war draußen vor der Stadt, wo sich die Betongeschwüre der Gewerbegebiete unaufhörlich in die Landschaft hineinfressen.
Vor dem Tor stand bereits Cybert Blonk, der Herr des Lichts, wie sich dieser mit allen Abwassern gewaschene und durchtriebene Halunke zu nennen pflegte. Gerade baute er mit seinen Schergen eine geheimnisvolle Waffe auf. Um gerade die älteren Leser, die ohnehin nicht mehr lange leben, nicht allzu lange auf die Folter zu spannen: Es war ein hyperphantastischer Temporal-Antimaterie-Inhalationsnihilator. Dieses unglaubliche Gerät machte einfach alles langsamer. Außerdem sah es so widerlich aus, als hätte man es im Bauchnabel von King Kong gefunden. Und es war spülmaschinenfest.
„Halte ein, du schlimmer Finger!“ rief der Schraubenzieher-Man.
Aber der Herr des Lichts hatte den Inhalationsnihilator bereits in Betrieb gesetzt. Während wir auf die Antwort des Erzschurken warten, zirpt eine Grille. Sie zirpt und zirpt. Dann geht es endlich weiter.
Wie in Zeitlupe taumelte der Schraubenzieher-Man auf den Bösewicht zu und wollte ihn angreifen. Aber seine Schläge kamen so langsam, als hätte er sie mit der Post geschickt.
Doch bevor der Kampf auf Leben und Tod spannend werden konnte, war der Akku leer. Daran hatte der Elektriker nicht gedacht. Ironie des Schicksals? Oder war Cybert Blonk einfach nur der Karpfen im Hechtteich des Verbrechens, das Schaf im Wolfspelz, die Tofuwurst auf der Grillparty einer Biker-Gang?
Seien Sie auch nächste Woche wieder dabei, wenn Sie unseren Held sagen hören: „Wo sind die Frauen hundsgemein? In Frankfurts Stadtteil Rödelheim.“
Stevie Wonder – Superstition. https://www.youtube.com/watch?v=0CFuCYNx-1g

Mittwoch, 19. April 2017

Der seltsamste Job meines Lebens

„Seit Jahren habe ich mir vorgenommen, mal wieder ein echtes Wiener Schnitzel zu essen. Wie lange habe ich kein Wiener Schnitzel mehr gegessen, sondern immer wieder nur Schnitzel Wiener Art? Aber jetzt bin ich in einem österreichischem Lokal in Berlin und es ist endgültig vorbei mit der sogenannten deutschen Küche, mit der sogenannten gutbürgerlichen Küche, die ich seit Jahren in der Provinz durchlitten habe. Jetzt gibt es ein richtiges Wiener Schnitzel, goldgelb gebacken und mit warmem Erdäpfelsalat serviert. Keine Pommes frites, keine Jägersoße, keine Kompromisse. Und ich werde gleich morgen hier ein Kaisergulasch essen und übermorgen ein Bluntzengröstel, weil ich es satt habe. Weil ich in meinem Dorf nichts zu essen bekomme, weil es dort kein Gasthaus gibt, aber wenigstens kann man zum Winzer gehen und sich für Münzgeld zu Tode saufen. Herrgott, habe ich einen Hunger. Und hinterher gibt’s noch einen Kaiserschmarrn!“ (Andy Bonetti: Hunger und andere Gefühle)
„Ist das Gulasch schön zart?“
„Ja, es ist ausgezeichnet“, antwortete ich. „Es zergeht auf der Zunge wie Butter. Man könnte es mit einem Löffel zerteilen.“
Er hob seinen Kopf. Es strengte ihn sichtbar an. „Ich rieche Rotwein. Ist etwas Wein in der Soße?“
„Sie haben einen ausgezeichneten Geruchssinn. Es ist tatsächlich Rotwein in der Soße. Er passt hervorragend zum Rindfleisch.“
Er lächelte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Das mährische Kraut ist mit Kümmel angemacht. So mag ich es.“
„Ich finde es viel besser als unser ordinäres Sauerkraut. Kümmel gehört einfach dazu.“
Er betrachtete aufmerksam, wie ich die Gabel zum Mund führte, wie ich kaute und schluckte. Der Mann schien es wirklich zu genießen.
„Würden Sie jetzt bitte die Kartoffelchips für mich essen?“
„Gerne.“ Ich nahm eine Handvoll Chips aus der Porzellanschüssel und kaute krachend.
Der Mann verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, als er mir zuhörte. „Es sind Paprikachips, oder?“
„Ja, ganz schön scharf. Ich glaube, ich muss etwas trinken.“
„Ja, bitte trinken Sie.“
Ich hob das Bierglas und trank in langen Zügen, während der Mann abwechselnd das Glas und meinen auf und ab hüpfenden Kehlkopf beobachtete.
„Jetzt noch ein bisschen Apfel.“
Ich biss herzhaft in die Frucht und verzog leicht das Gesicht, als ich die Säure schmeckte.
Es schien den Mann zu freuen, denn jetzt lehnte er sich in seinem Bett zurück und sah sehr zufrieden aus.
„Kennen Sie Kafka?“ fragte er mich.
„Ja. Soll ich Ihnen etwas vorlesen?“
„Danke. Nicht nötig. Kafka hatte Tuberkulose und konnte am Ende nicht mehr schlucken. So wie ich. Freunde saßen an seinem Bett und mussten Bier trinken. Er hatte seine Freude daran, sie zu betrachten.“
„Ihnen scheint es ja auch großen Spaß zu machen. Wie lange werden Sie schon durch den Schlauch ernährt?“
„Seit zwei Wochen. Aber jetzt habe ich ja Sie. Sie essen und trinken für mich.“
So ging es noch vier Wochen, bis er an Kehlkopfkrebs gestorben ist. Jeden Tag kam ich zwei Stunden bei ihm vorbei. Seine Frau hatte alle Speisen und Getränke vorbereitet. Ich musste nur essen und trinken. Ganz nah bei ihm, damit er alles hören, sehen und riechen konnte.
Ich habe nie wieder auf so eine seltsame Annonce geantwortet: „Guter Esser und Trinker gesucht.“ Und ich hatte nie wieder so einen Job wie bei Herrn Warmsroth.
Holger Czukay, Jah Wobble, Jaki Liebezeit - Full circle (rps no.7). https://www.youtube.com/watch?v=wWAplMCK03Q

Dienstag, 18. April 2017

Der typische Berliner

Ich bin 1991 nach Berlin gezogen und wohne seit 25 Jahren im selben Kiez. Um es mit Kennedy zu sagen: Ich bin ein Berliner. Bin ich ein typischer Berliner? Nein. Ich sehe mich in keiner Schublade – höchstens in der Rubrik „verkannte Genies“. Was ist ein typischer Berliner? Ich kann es nicht sagen.
Möglicherweise braucht man einen großen Abstand zu einem Ort, um völlig ironiefrei mit Stereotypen arbeiten zu können. Ich bin vermutlich zu nah an der Stadt dran, um sagen zu können, was typisch für Berlin ist. 1991 hätte ich es vielleicht noch geschafft, den typischen Berliner zu beschreiben.
In all den Jahren habe ich nur zwei gebürtige Berliner näher kennengelernt. Beide waren sehr freundlich und dem Neu- oder Nichtberliner gegenüber aufgeschlossen, nix große Klappe und Arroganz der Hauptstädter. Alle anderen Menschen waren Zugereiste wie ich. Ich habe Menschen aus fast allen Bundesländern in Berlin kennengelernt. Jeder hatte seine eigene Geschichte. Niemand war typisch für irgendwas, weder für Berlin, noch für seine alte Heimat, teilweise waren und sind sie noch nicht mal typisch deutsch. Einige waren tatsächlich überhaupt keine Deutschen. Ich habe Türken, Afghanen, Italiener, Franzosen, Syrer, Russen, Österreicher, Amerikaner, Dänen und Schweizer in Berlin näher kennengelernt oder habe mit ihnen zusammengearbeitet. Christen, Muslime, Juden, Atheisten.
Neulich habe ich mich im Zug mit einer Frau aus Bielefeld unterhalten, die seit einigen Jahren in Berlin lebt. Sie war vorher in München und erzählte mir, man käme als Nicht-Münchnerin einfach nicht in München an, man bliebe auch nach Jahren immer fremd. Selbst die Anschaffung eines Dirndls und eines einheimischen Lebensgefährten hätten diese Situation nicht geändert. Berlin sei da ganz anders, sagte sie. Berlin ist wie eine Party. Jeder kommt von irgendwo anders her, jeder hat eine andere Geschichte zu erzählen. So betrachtet ist die deutsche Hauptstadt der wahre Melting Pot der Republik.
Was zeichnet den typischen Berliner aus? Ich recherchiere kurz im Netz. Der Schubladen-Berliner ist unhöflich, gleichgültig, meckert gerne rum und hat einen trockenen Humor. Positiv ausgedrückt: Er ist kein Schleimscheißer, lässt sich nicht alles gefallen, ist kein Pedant, kommt gleich auf den Punkt und bleibt auch im Chaos gelassen. Aber was bleibt von diesen Stereotypen, wenn gefühlte neunzig Prozent der Menschen, die man in der Innenstadt trifft, nicht aus Berlin kommen, vielleicht als Tourist oder Student nur eine begrenzte Zeit bleiben oder ohnehin eine andere kulturelle Sozialisation mitbringen? Vielleicht sollte man mal an den Stadtrand fahren, nach Frohnau oder Lankwitz, um dort den typischen Ureinwohner in seinem Habitat zu studieren?
Für mich ist die Frage nach dem typischen Berliner nicht mehr zu beantworten. Ich habe zu viele Berliner kennengelernt, um diesen Haufen von Idioten und charmanten Dilettanten, von Schlipsträgern und Pfandflaschensammlern mit ein paar Adjektiven zu verschlagworten. Versuchen Sie es doch mal mit Ihrer eigenen Heimat. Es ist gar nicht so einfach. Denken Sie in aller Ruhe an Ihre Freunde, Nachbarn und Kollegen. An Erlebnisse, an Momente, in denen Sie sich gefreut oder in denen Sie sich geärgert haben. Was ist Klischee, wie ist es wirklich?
Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, ist es eigentlich gar nicht so übel, dass sich die Kulturen in Städten wie Berlin vermischen. Der Typus, das Stereotype oder das Typische lösen sich auf, es entsteht eine neue Vielfalt, die man auch nicht mehr auseinanderdividieren kann. Wenn ich drei Farben mische, entsteht eine neue Farbe. Es ist technisch nicht möglich, die drei Farben wieder zu entmischen. Wenn in Berlin ein Australier mit einer Brasilianerin drei Kinder hat, dann gibt es drei australisch-brasilianische Gören, die „Icke“ sagen und vielleicht mal Hertha-Fan werden. Wie soll man das je wieder rückgängig machen? Nationalistische Demagogen wollen uns das einreden, aber glücklicherweise ist es längst zu spät. Daher freue ich mich, dass ich die Frage, was ein typischer Berliner ist, nicht beantworten kann. In meiner Ratlosigkeit steckt also letzten Endes eine gute Nachricht.
The Mamas & The Papas - California Dreamin'. https://www.youtube.com/watch?v=N-aK6JnyFmk

Montag, 17. April 2017

In Bed With Andy Bonetti

„Breit und träge wie ein Fluss, der in der Sonne schimmert, lag er auf dem Sofa und döste.“ (Johnny Malta: Ein Tag mit Andy Bonetti)
Da ich demnächst von einem publizistischen Hochkaräter befragt werde, hier eine kleine Übungseinheit in Sachen Interview.
***
Wann haben Sie mit dem Schreiben angefangen?
Erste kleine Berichte und Notizen setzen im Jahr 1975 ein, ab Januar 1977 habe ich täglich geschrieben, 1978 hatte ich die erste Kurzgeschichte in der Schülerzeitung. Da war ich zwölf Jahre alt.
Welche Autoren haben Sie beeinflusst?
Das waren anfangs Astrid Lindgren, Enid Blyton und Jules Verne. Starken Einfluss hatte das Mad-Magazin. Ich lernte, alles nicht mehr ernst zu nehmen. Don Martin lehrte mich, mich von der Frage nach irgendeinem Sinn zu lösen. Später kam „Titanic“ und die Neue Frankfurter Schule, die mich stark geprägt hat. Es folgten Franz Kafka und Eckhard Henscheid.
Vermissen Sie selbst den Ernst in Ihrer Arbeit?
Wäre ich ernst geblieben, hätte ich längst den Literaturnobelpreis. Wenn ich tiefsinnige Geschichten mit geheimnisvollen Figuren entwickelt hätte, wäre ich jetzt reich und berühmt. Aber ich habe diesen unseligen Hang zu Ironie und völligem Blödsinn, dem ich hemmungs- und schamlos nachgebe. Eigentlich verachte ich den Nobelpreis, weil ihn so viele Idioten bekommen haben, die als Schriftsteller weit unter mir stehen wie beispielsweise Günter Grass. Aber die fette Kohle hätte ich natürlich gerne gehabt, weil ich damit standesgemäß leben könnte.
Leben Sie nicht so, wie es Ihnen zustünde?
Sehen Sie, wenn ich in Sils bin, wo sich alle Künstler treffen, habe ich immer das billigste Hotelzimmer. Schwachköpfe wie Jonathan Meese, ein nichtsnutziger Schmierfink, oder Donna Leon, eine drittklassige Krimiautorin, residieren im Waldhaus, im ersten Haus am Platz. Ich wohne immer im letzten Haus am Platz. Ich treffe diese Versager dann auf der Chasté oder am Seeufer und ärgere mich. Eigentlich müsste ich aufgrund meiner Fähigkeiten im Waldhaus residieren und nicht sie.
Arbeiten Sie viel?
Ich arbeite jeden Tag, an sieben Tagen die Woche. Ich lese und ich schreibe. Ein ganz normales Arbeitsleben, so wie ein Datenschützer oder eine Bürolampendesignerin jeden Tag arbeiten. Mal arbeite ich viel, mal wenig. Im letzten Jahr lag der Rekord bei 320 Seiten, die ich an einem Tag gelesen habe. Aber es gibt auch Tage, an denen ich unterwegs bin. Dann lese ich gar nichts. Ich schreibe bis zu drei Seiten am Tag. Früher, als ich noch an Romanen oder Sachbüchern geschrieben habe, waren es bis zu zehn Seiten. Aber heute schreibe ich nur noch nach dem Lustprinzip. Das heißt: Wenn ich keine Lust mehr habe, höre ich auf. Das ist der Vorteil, wenn man völlig frei ist und ohne Termindruck oder Vorgesetzte schreibt. Dennoch schreibe ich inzwischen mehr als früher. Als lohnabhängiger Schreiberling habe ich etwa 200 Seiten im Jahr geschrieben, jetzt sind es regelmäßig über 400 Seiten.
Wie wichtig ist Ihnen das Publikum?
Ich erwarte bedingungslose Verehrung und Hingabe von meinen Lesern. Kritik ist für mich ein Zeichen mangelnder Literaturkenntnis. In diesem Jahr hatte ich bis zu 2500 Leser am Tag im Blog. Von meinen beiden E-Books, die vor kurzem herauskamen, habe ich insgesamt nur vier Exemplare verkauft. Amazon hat mir 11,50 € überwiesen und das empfinde ich als Beleidigung. Davon kann ich mir gerade mal eine Pizza und ein Bier kaufen. Das Publikum hat also in letzter Zeit jegliche Bedeutung für mich verloren. Richtig gute Texte behalte ich daher für mich und veröffentliche sie nicht mehr online. Das hat dieses undankbare und geizige Pack nicht verdient.
Möchten sie zum Abschluss des Gesprächs noch jemanden grüßen?
Nein. Alle Menschen, die literarisch von Bedeutung sind, leben nicht mehr.
Haben Sie in diesem Interview eine Frage vermisst?
Ja, sogar zwei: "Woher haben Sie all die genialen Ideen?" und "Warum hat es jemand, der so verflucht gut aussieht wie Sie, noch nötig, Texte zu schreiben?"
Talking Heads - Once In A Lifetime. https://www.youtube.com/watch?v=I1wg1DNHbNU

Sonntag, 16. April 2017

Lob der Machtlosigkeit

„Unser Meer ist grau und grausam, und es hat die Menschen, die daran wohnen, traurig und still gemacht. (…) denn viele, viele bringt das Meer und legt sie in der Nacht an den Strand, und wer sie findet, erschrickt nicht, sondern nickt nur, nickt wie einer, der es längst weiß. Es gibt bei uns einen alten Mann, der hat von einer kleinen Insel zu erzählen gewusst, zu der das graue Meer so viel Tote brachte, dass den Lebenden kein Raum mehr blieb. Sie waren wie belagert von Leichen.“ (Rainer Maria Rilke: Der Totengräber)
Wir verdanken der Machtlosigkeit die schönsten Perlen unserer Kulturgeschichte. Als Portugiesen und Spanier, später Franzosen, Engländer und Holländer große Entdecker und Eroberer, Feldherren und Kaufleute hervorbrachten, hatten die Deutschen, die weder über eine Flotte noch über geopolitischen Einfluss verfügten, die Zeit ihrer großen Komponisten, Literaten und Philosophen. Während andere europäische Nationen die Welt in ein Schlachthaus verwandelten – als Stichworte seien hier nur Völkermord, Sklaverei, Kolonialismus, Plünderung der Bodenschätze, Imperialismus sowie die Auslöschung ganzer Kulturen genannt -, wanderte Alexander von Humboldt durch Brasilien, um Schmetterlinge zu sammeln und Blumen zu pressen.
Als die „verspätete Nation“ Deutschland 1871 die Bühne der Weltpolitik betritt, Kolonien erwirbt und sich für den Flottenbau begeistert (überall im Land trugen die kleinen Jungs Matrosenanzüge!), beginnt sein kultureller Stern zu sinken. Nach 1933 gibt es praktisch keinen Beitrag der Deutschen zur Weltkultur mehr: Grass und Böll halte ich – trotz ihrer Nobelpreise – für nachrangige Schriftsteller, durch die Philosophie geistern Vollidioten wie Precht oder Sloterdijk, in der Musik dominiert provinzielle Peinlichkeit mit Grönemeyer, Lindenberg und den Scorpions.
Dafür sind wir jetzt Exportweltmeister und bedeutender Waffenlieferant, wir haben Weltmarken wie VW, Mercedes oder SAP, die auf den Weltmärkten erfolgreich sind. Die kreativen Köpfe zieht es ins Management oder in die Forschungslabore der Konzerne, Kultur ist nur noch eine Fußnote des ökonomischen und militärischen Neokolonialismus.
Tina Charles – I Love To Love. https://www.youtube.com/watch?v=dSuulW6XqSA

Donnerstag, 13. April 2017

Ein Junggeselle


Er antwortet dem Fernseher
Und spricht mit den Gegenständen wie ein Dompteur

Er sieht nicht das Eigelb an seinem Kinn
Und trägt die Mode seiner Jugend

Er ist als Kranker wochenlang allein
Und sieht am Abend in sein leeres Zimmer

Er ist alt geworden
Und alle nennen ihn dennoch Junggeselle

Neulich auf dem Ginahsion

„Es ist ja geradezu fürchterlich, zu denken, was aus diesen Irrsiglerkindern eines Tages wird, sagte Reger, wenn ich diese Irrsiglerkinder sehe, sehe ich heute schon ganz und gar nicht einmal durchschnittliche, sondern weit unterdurchschnittliche Menschen mit einem wenigstens zwiespältigen Charakter. Der Begriff der dummen Brut fällt mir dabei immer ein, sagte Reger, das ist das Unerfreuliche an der Irrsiglerfamilie.“ (Thomas Bernhard: Alte Meister. Komödie)
Die Tochter eines befreundeten Paares, beide haben einen Doktortitel in Geisteswissenschaften und sind Suhrkamp-Autoren, geht in die achte Klasse eines Kreuzberger Gymnasiums. Sie schreibt das Wort „Zimmer“ immer noch „Zima“. Man nennt das vornehm Legasthenie, ich sage, das Kind kann nicht richtig lesen und schreiben. Aber heute sagt man im modernen Pädagogendeutsch ja auch nicht mehr Blödheit, sondern Lernschwäche. Vor allem in Berlin. Wer in der achten Klasse, also im vierten Jahr auf dem Gymnasium (Gott allein weiß, wie die Berliner zählen!), das Wort „Gymnasium“ noch nicht schreiben kann, hat an dieser Schule nichts verloren. Punkt. Dazu passt die Meldung, dass die Zahl der Abiturzeugnisse mit einem Notenschnitt von 1,0 sich an Berlins Schulen in den letzten zehn Jahren vervierzehnfacht hat. Hoffentlich haben die Maschinen die Macht (oder zumindest die Rechtschreibung) übernommen, bis diese Berliner Generation ins Berufsleben eintritt. Was sagen die betroffenen Eltern dazu? Nichts. Ratloses Schulterzucken. Sie nehmen es mit der üblichen Kreuzberger Kiffergleichgültigkeit hin. Schließlich sind die Nachbarskinder ja auch nicht besser.
Tom Waits - Jockey Full Of Bourbon. https://www.youtube.com/watch?v=54YhQZN5Uq8

Dienstag, 11. April 2017

Der junge Künstler

„Was werden wir in diesen Frühlingstagen tun, die jetzt rasch kommen? Heute früh war der Himmel grau, geht man aber jetzt zum Fenster, so ist man überrascht und lehnt die Wange an die Klinke des Fensters.“ (Franz Kafka: Zerstreutes Hinausschaun)
Meine ersten Schritte als Zeichner liegen im Verborgenen, aber ich nehme an, dass ich, wie die meisten Menschen, mit abstrakten Werken begonnen und mich anschließend der gegenständlichen Darstellung angenähert habe.
1972 sehen wir zwei lächelnde Westernhelden mit Sheriff-Stern und gezogenen Pistolen. In ihren Hüten stecken diverse Indianerpfeile. Ein weiteres buntes Bild zeigt einen Western-Mexikaner mit Blumen am Sombrero und Blumen in der Hand. Hinter einem Felsen lauert ein Indianer mit einem Speer.
Das erste Bild, das ich in einer vergilbten Mappe finde, zeigt allerdings abstrakte Formen: mit dem Lineal gezogene Felder, die im Wechsel gelb und hellblau ausgemalt oder frei geblieben sind. Auf dem DIN A4-Blatt sind folgende Angaben vermerkt: „Matthias Eberling, 13.10.1973. Telefon 2925. Ingelheim.“ Damals war ich sieben Jahre alt.
Ein weiteres Bild von 1973 zeigt ein Porträt meines Lieblingsteddys Heinrich in einem Stillleben aus Fernseher, Blumenvase, Waschmaschine, Kühlschrank und Stehlampe, die einzeln um ihn herum dargestellt sind.
Auf einem Bild von 1974 ist ein heruntergekommenes Wohnhaus mit eingeworfenen Fensterscheiben dargestellt, das mit Graffiti bemalt ist: „Ja“, „Erwachsene haben hier nichts zu suchen“, „Hier wohnt niemand“ und „Für Kinder“. Ein Zeichen früh einsetzender Autonomie?
Im gleichen Jahr entsteht eine Zeichnung, die einen schreienden Tarzan auf einem Felsen zeigt. Unter ihm im Urwald seine Frau und sein Sohn, der gerade mit einer Liane von Baum zu Baum schwingt. Sicherheitshalber sind alle Figuren mit einer Bezeichnung versehen. Dann gibt es die Zeichnung eines leeren Segelschiffs mit zerfetzten Segeln. Ein Geisterschiff?
Rätselhaft auch das bunte Bild eines Hauses, in das gerade ein Blitz einschlägt. In den Fenstern erkennt man Menschen, die – vor Schreck oder jubelnd? – ihre Arme erhoben haben. Gleichzeitig schlägt ein Blitz im Baum rechts neben dem Haus ein.
Ebenfalls 1974: eine junge Frau mit Minirock und Plateauschuhen. In einer Sprechblase steht: „Hallo, ich bin Fräulein Sirebix. Ich war gerade beim Bäcker und gehe jetzt nach Hause. (16.11.1974)“. In der Hand hält sie eine kleine Tüte, auf der steht: „Brötchen (5,25 DM) Bäckerei“.
1975, Kugelschreiber auf Papier. „Alte Frau“. Mit Hut, Regenschirm und einem „neuen Faltenrock“, wie auf der Rückseite vermerkt ist. Der Rock ist mit strahlenförmigen Strichen und Sternchen als neu und glänzend hervorgehoben. Außerdem eine Zeichnung von Pippi Langstrumpf vor ihrer Villa Kunterbunt. Sie winkt uns aus ihrem Swimming Pool zu. Das nächste Blatt zeigt ein Raumschiff, das gerade auf dem Mars landet.
1976 wurden Bleistiftzeichnungen von einem Handball-Siebenmeter und einem Fußball-Elfmeter angefertigt. Ich denke an Uli Hoeneß und das Finale in Belgrad. Weitere Skizzen, die ein Fußballspiel aus der Perspektive einer Fernsehkamera zum Inhalt haben.
Im selben Jahr folgt die Zeichnung „Christine beim Fernsehen“. Ein Porträt meiner Schwester in der Pose einer Betenden. Ironie? Und „Die Leseratte“, die einen Mann zeigt, der mit aufgeschlagenem Buch auf der Straße geht. Selbstironie?
Eine ganze Serie von 1976 zeigt Indianer und Soldaten in typischen Western-Szenen. In diesem Jahr entsteht jedoch auch die erste politische Zeichnung. Sie zeigt das Innere einer Kirche, im Mittelpunkt ein Kreuz, das mit kryptischen Zeichen bemalt und mit Kerzen geschmückt ist. Auf der linken Seite des Kreuzes steht ein dicker Pfaffe, der ein kleines Kreuz hochhält. Neben ihm ist ein Plakat, das unter der Überschrift „Reich“ einen fies grinsenden Mann zeigt, der Geldbündel in beiden Händen hält und dem Geld aus allen Taschen quillt. Auf der rechten Seite sieht man einen jungen Soldaten, der beide Arme hochgerissen hat. Neben ihm ein Plakat, das unter der Überschrift „Arm“ einen gebückten bärtigen Bettler zeigt, der die Hände nach einem Almosen ausstreckt. Die Bänke vor diesem Altar sind leer.
Auffällig viele Zeichnungen meiner Grundschulzeit befassen sich mit Militär und Gewaltszenen aus Western-Filmen, mit Robotern und Technik. Es sind aber auch etliche abstrakte Zeichnungen in allen Farben zu finden, die mit Kreisschablonen und Lineal angefertigt wurden.
Dean Martin – Dreamer With A Penny. https://www.youtube.com/watch?v=IOl7Ft7VchU

Montag, 10. April 2017

Dialog der Woche

A: „Ich vermisse meine Demokratie.“
B: „Wo hast du sie denn zuletzt gesehen?“

Sonntag, 9. April 2017

Zufall, Ironie und tiefere Bedeutung

„Die Romanschreiber missbrauchen unser Vertrauen, indem sie Individuen darstellen, deren Einengung durch die Umwelt sie außer Acht lassen. Der Wald gestaltet den Baum. Wie wenig Platz ist dem Einzelnen gelassen!“ (André Gide: Die Falschmünzer)
Was ist in einer Erzählung möglich? Sie kann nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit oder der Phantasie sein. Je kürzer sie ist, desto kleiner ist der Ausschnitt. Wo setze ich als Erzähler den Schnitt an? Zu welcher Zeit und an welchem Ort beginnt die Geschichte, wo hört sie auf?
Da ist diese Frau, die mich vor dem Bahnhof anspricht. Sie hat nachtschwarzes Haar und riecht nach Armut. Ich bin fremd an diesem Ort und gebe ihr offenbar zu viel Geld, als sie mich um ein Almosen bittet. Sie folgt mir, als ich weitergehe.
Ich fliehe in den Lärm und das Gewühl der Bahnhofshalle. Aus den Lautsprechern werden offenbar Züge, Gleise und Abfahrtszeiten gerufen. Ich verstehe kein Wort. Der verlockende Geruch von Süßigkeiten, als ich an einem Stand vorbeikomme. Die Frau hat nichts mit dieser Geschichte zu tun, aber ohne sie wäre ich nicht in den Bahnhof gegangen.
***
Schließfächer. Immer wieder tauchen Schließfächer in Erzählungen auf. Viel häufiger als im wirklichen Leben. Der Gang mit den Schließfächern ist leer. Ich atme tief durch. Endlich allein. Ich setze mich auf eine Bank, ohne auf etwas zu warten. Natürlich dauert es nicht lange und die Geschichte geht weiter. Keine Erzählung erträgt die Leere. Weiße Seiten ergeben kein Buch. Also kommt ein Mann, der nicht weit von mir entfernt ein Schließfach öffnet. Sein Haar ist so grau wie ein Zimmer in der Abenddämmerung.
Ich sehe nicht, was er hineinlegt. Er wirft eine Münze ein und dreht den Schlüssel im Schloss. Dann höre ich in der Ferne den harten Aufschlag von Absätzen. Kurz darauf sehe ich drei junge Männer, die in unsere Richtung rennen. Der Klang ihrer Schritte hallt bedrohlich von den Wänden wider.
Der Mann ist längst in die andere Richtung davongerannt. Ich sehe, wie er am Ende des Ganges den Schlüssel in einen Papierkorb wirft. Er ist schon verschwunden, als die Männer an mir vorbeistürmen. Ihre Mantelschöße wehen wie schwarze Banner. Sie beachten mich gar nicht.
Als es wieder still geworden ist, gehe ich zum Papierkorb und finde den Schlüssel zum Schließfach.
***
Ich öffne die Tür zu einem neuen Kapitel. Am Ende des Textes haben wir kein Ziel erreicht, sondern einen neuen Ausgangspunkt.
P.S.: Im Vergleich mit der Literatur sind die Malerei und die bildende Kunst viel weiter gekommen. Sie haben sich von der gegenständlichen Darstellung gelöst, von der Logik und der Chronologie, von Harmonie und Symmetrie. Sie sind viel freier in ihren Werken als die heutige Literatur, die so konventionell wirkt wie die Malerei des 17. oder 18. Jahrhunderts. Üblicherweise gibt es eine Romanstruktur von der Stange nebst herkömmlichen Charakterzeichnungen und braven Ursache-Wirkungs-Ketten („Handlungsmotive“), einen Anfang und ein Ende. Wo ist der Anfang eines abstrakten Gemäldes? In der Literatur folgt stumm und ergeben Seite auf Seite, der lineare Ablauf einer Textkarawane. Selbst mit Farben wagt man nicht zu experimentieren, obwohl es längst möglich wäre: schwarze Buchstaben auf weißem Hintergrund – selbst bei E-Books und im Internet. Die Erzählung tritt auf der Stelle. Wer Neues wagt, wird durch Nichtbeachtung bestraft. In der Literatur hat die digitale Revolution noch gar nicht stattgefunden. Die Debatte um den „Hypertext“ aus der Frühphase des Netzes in den neunziger Jahren endete im Nichts.
„Man entdeckt keine neuen Weltteile, ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren. Doch unsere behutsamen Literaten fürchten sich vor dem hohen Meer: das Geschäft, das sie betreiben, ist Küstenschifffahrt.“ (André Gide: Die Falschmünzer)
Genesis – Squonk. https://www.youtube.com/watch?v=TzL-up4ZKgI

Samstag, 8. April 2017

Siebzehn Gramm Finsternis

„Als Gott die Welt erschuf, überließ er dem Teufel ein kleines Fleckchen Erde, das er selbst gestalten durfte. So entstand Bad Gotham.“ (Lupo Laminetti)
https://www.youtube.com/watch?v=wKp2t7kW70E
(unofficial video)
***
Der Schraubenzieher-Man alias Andy Bonetti, in vollem Bewusstsein seiner Schönheit und Intelligenz, geduscht, geföhnt, rasiert und parfümiert, betritt den Saal. Applaus brandet auf und schallt durch die Bad Gotham City Hall. Die Menschen erheben sich von den Sitzen, rufen „Bravo“ und werfen ihre Hüte in die Luft.
Dann hält Commissioner Schmuhlke eine lange und ergreifende Rede. Ruhm und Ehre dem Schraubenzieher-Man. Die Menge ist ergriffen, hie und da hört man ein Schluchzen. Bonettis angeborene Bescheidenheit wird durch die nicht enden wollenden Lobeshymnen des Commissioners einer harten Prüfung unterzogen. Oben rechts leuchtet jetzt auf Ihrem Bildschirm das Ironie-Lämpchen auf.
Nach Verleihung des höchsten Verdienstordens begibt sich unser Held auf den Weg zum Flughafen, um drei Wochen Urlaub auf Teneriffa zu machen. Ganz alleine entspannt er sich am Strand der Ferieninsel und steckt Marshmellows oder Würstchen auf seinen Schraubenzieher, den er über die Flammen eines Lagerfeuers hält.
Und jetzt das: Kaum ist der Schraubenzieher-Man weg, regiert das Verbrechen wieder die Stadt. Ein unbekannter Schuft hat sich in die Datenbank des hessischen Geheimdienstes gehackt und kompromittierendes Material über die Prominenz von Bad Gotham gestohlen. Er erpresst Politiker und Schauspielerinnen, wer sich weigert, wird auf der Homepage „Zum güldenen Pranger“ bloßgestellt. Fürwahr: Ein schauderhaftes Verbrechen, gewürzt mit den Tränen der Entehrten. Sapperlot!
Diese Homepage wird von diversen Internetcafés in Bad Gotham und Umgebung mit Material gefüttert. Die Polizei ist völlig hilflos, weil sie einfach nicht schlau genug ist, den perfiden Erpresser dingfest zu machen. Es ist uns allen klar: Nur der Schraubenzieher-Man kann jetzt noch helfen.
***
Rodriguez „The Pain“ Calimero war der härteste Mitarbeiter von Crazy Monk. Crazy Monk war der König der Abzocker. Seine erste Million hatte er mit einer Klage gegen McDonald’s gemacht, weil er in der Filiale am Bahnhof auf seiner eigenen Kotze ausgerutscht war.
Sie hatten sich bei einer nächtlichen Verkehrskontrolle kennengelernt. Crazy Monk saß in Handschellen gefesselt auf der Rückbank eines Polizeiwagens, weil er ohne Papiere in einem gestohlenen BMW unterwegs gewesen war. The Pain war gerade auf dem Weg zu einem Überfall und hatte eine Uzi im Heck. Als er den Kofferraum öffnen musste, schnappte er sich die Maschinenpistole und erschoss die beiden Polizisten. Dann sah er, wie ihn Crazy Monk durch die Windschutzscheibe angrinste. Er ging zu ihm hinüber und öffnete die Tür.
„Was grinst du so, du Arschloch?“
„Wenn du zwei Bullen umlegst, muss es mindestens um eine Million gehen oder du bist ein Vollidiot.“
The Pain stutzte. Es ging bei den Crack-Dealern höchstens um 50.000. Aber sie würden auch nicht die Polizei rufen.
Crazy Monk bemerkte sein Zögern und sagte: „Also bist du ein Vollidiot. Sie werden Bad Gotham nach dir absuchen. Ich wette, die Stadt ist deine Home Base. Hier kennst du dich aus. Und hier kannst du dich mindestens einen Monat nicht mehr auf der Straße blicken lassen.“ Er konnte in seinem ruhigen, charmanten Tonfall die größten Unverschämtheiten sagen.
„Ich kann noch einen zweiten Mann gebrauchen.“ The Pain holte sich in aller Seelenruhe die Schlüssel von den Toten und öffnete die Handschellen von Crazy Monk.
An Crazy Monk war alles breit: sein Grinsen, seine Backen, seine Hüften. Er packte mit seinem neuen Partner die toten Polizisten in den Kofferraum des Streifenwagens und sie fuhren mit beiden Autos zu einem Waldsee, wo sie den Wagen mit den Leichen versenkten. Er schlug zehn Meter unter dem Felsvorsprung auf dem Wasser auf und verschwand gurgelnd.
In dieser Nacht wurden sie zu einem Team. Crazy Monk war der Kopf, The Pain die Hände einer Gang, die schnell auf zehn Männer anwuchs.
***
Der Schraubenzieher-Man entdeckt Crazy Monk und The Pain da, wo man alle Gangster erwischt, die gerade die fette Kohle eingesackt haben: im Puff von Mary Jane. Hier gibt es die schönsten Frauen der Stadt und keine Nacht kostet weniger als tausend Euro. Das volle Programm mit drei Bitches, Whirlpool, Champagner und Koks ist nicht unter zehntausend zu haben.
Die zügellosen Schwerverbrecher sitzen gerade im Whirlpool, trinken Schampus und lassen sich an den Genitalien herumspielen. Es läuft irgendein Gangster-Rap, als der Schraubenzieher-Man durch das Fenster ins Schlafzimmer steigt. In einem Koffer aus Schlangenleder ist das Notebook von Crazy Monk. Der Schraubenzieher-Man gibt sein Passwort ein, das heißt: er steckt seinen Schraubenzieher tief ins Getriebe der Maschine und bricht das Gerät auf. Dann übergießt er die Festplatte mit einer Spezialsäure.
Aber es muss noch ein Back-Up von den Daten geben, mit denen Crazy Monk die Menschen erpresst. Der Schraubenzieher-Man durchwühlt die Klamotten des Unterweltkönigs, die auf dem Bett liegen, und findet einen USB-Stick in der Hose. Natürlich hat Crazy Monk die Daten nicht in der Cloud gespeichert, da die Cloud vom hessischen Geheimdienst überwacht wird. Dann klicken im Whirlpool die Handschellen, die Weiber kreischen - und fertig ist die Laube.
P.S.: Was macht eigentlich der Kreuzschlitz-Boy? Er arbeitet an einem Spin-Off unter dem Titel „Die Mutter aller Schrauben“.
Pink Turns Blue - I Coldly Stare Out. https://www.youtube.com/watch?v=yqCy29-DDm8

Freitag, 7. April 2017

Kurzanleitung zur Weltrevolution


„Armut ist Reichtum - Muße ist Krieg - Askese ist Revolution.“


(Die drei Grundsätze der Bonettistas)
Wer wenig braucht, ist schwer zu verführen. Kein Mensch braucht mehr als zwei Hosen und zwei Paar Schuhe. Wir erschaffen das wenige selbst oder kaufen es bei Handwerkern und Bauern, die wir persönlich kennen.
Wer nicht arbeitet, sündigt nicht gegen Mensch, Tier und Pflanze. Malerei statt BWL, Literatur statt Konsum. Was nichts kostet, ist gut: Gespräche, Liebe, Gesang. Ohne Uhr und Kalender leben wir nach den Rhythmen unserer Körper und des Planeten.
Der Verzicht ist die beste Waffe gegen den Kapitalismus. Wir hungern die Reichen aus. Wer nichts besitzt, dem kann nichts genommen werden. Wir lernen, jeden Tag auf etwas Neues zu verzichten.

Die Organisation der Macht

„Die Macht ist kein Mittel, sie ist ein Endzweck.“ (George Orwell: 1984)
Warum existiert eigentlich die katholische Kirche als Organisation seit vielen Jahrhunderten immer noch? Weil ihre Macht langfristig nicht an konkrete Personen oder Familien gebunden ist, sondern an Prinzipien, zu deren Erhaltung sie immer wieder neue Personen rekrutiert und ausbildet. Adelsfamilien kommen und gehen, weil sie auf dem Prinzip der Vererbung beruhen. Die Kirche vererbt die Macht nicht vom Vater auf den Sohn – mit dem Zölibat lehnt sie dieses Prinzip sogar explizit ab -, sondern erneuert permanent das Personal ihrer Organisation. Daher können auch Menschen aller Hautfarben, Schichten und Kulturen in der Kirche Karriere machen. Obwohl es sich um eine Oligarchie handelt, wirkt sie durch diesen Ausleseprozess weltoffen.
Die großen Aktiengesellschaften, die heute unsere Welt beherrschen, haben dieses Erfolgsprinzip kopiert. Das Management steht prinzipiell jedem offen, während die Familienunternehmen nach dem alten Adelsprinzip der Vererbung funktionieren. Durch Heirat können die Familienunternehmen zwar ihr Blut auffrischen, die Aktienunternehmen mit ihrer höheren Fluktuation und dem größeren Leistungsdruck auf das Management, der durch die Großaktionäre (z.B. Hedgefonds) ausgeübt wird, sind ihnen dennoch langfristig überlegen.
Auch der deutsche Parteienstaat funktioniert auf die gleiche Weise. Es geht nicht um das Vererben von Machtpositionen, sondern um die Ausbildung neuer Funktionäre, die das Prinzip des Parteienstaats nicht in Frage stellen. So kann die Macht dieser Organisation in wechselnden Konstellationen erhalten werden, ohne jemals ernsthaft gefährdet zu werden. Schwarz-Rot, Rot-Grün, Schwarz-Gelb, Grün-Schwarz - es ändern sich die Farben und die Parolen, aber nicht das System. Das Spiel kann man auch in Dreierkombinationen durchführen. Im September haben wir die Wahl zwischen Schwarz-Grün-Gelb und zwischen Rot-Rot-Grün. Vermutlich bekommen wir aber wieder Schwarz-Rot.
Der Einzelne kann nicht mehr für sich selbst sorgen, er hat es verlernt. Er ist von der bis ins letzte Detail durchorganisierten Gesellschaft und damit auch von den Organisationen abhängig, die diese Gesellschaft strukturieren und lenken. Er braucht die unsterblichen Kirchen, Konzerne und Parteien. Im Grunde genommen gibt es zu dieser Symbiose zwischen Obrigkeit und Masse keine Alternative. Am wenigsten geeignet für eine Revolte ist das Proletariat, das instinktiv den Zusammenbruch seiner Versorgung mit billigem Nahrungsschrott und Unterhaltungsmüll befürchtet, weswegen es die Erniedrigung und die Lüge akzeptiert.
Die schärfsten Kritiker dieses Systems eliminiert man entweder durch Ausschluss oder Aufstieg. Sie machen entweder keine Karriere und enden als Hartz IV-Empfänger oder sie machen eine glänzende Karriere und werden durch ihren Erfolg ruhiggestellt. Ich kenne einen ehemaligen Klassenkämpfer, der zu unseren Doktorandenzeiten noch Seminare in Marxismus gegeben hat. Inzwischen dreht er mit einem Dutzend Angestellten Werbefilme für die deutsche Industrie, deren erklärter Feind er noch vor zwanzig Jahren gewesen ist. Wenn ich in seiner Villa zu Gast bin, stößt er mit mir immer auf Fidel Castro an. Seine Frau bezeichnet sich ab dem zweiten Glas Wein ernsthaft als Kommunistin.
„Die schärfsten Kritiker der Elche / Werden später selber welche.“ (Lupo Laminetti)
P.S.: Die orthodoxen Marxisten haben ebenfalls von der katholischen Kirche gelernt. Auch sie verbindet ein tiefer Glaube und sie verehren eine Heilige Schrift („Das Kapital“). Erstens glauben sie an das Paradies, in das sie ein Erlöser (Marx, Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot, Kim der Dritte usw.) führen wird. Zweitens an das Jüngste Gericht, das vor dem Eingang ins Paradies kommen wird: die sozialistische Weltrevolution. Drittens an Marienerscheinungen wie die Pleite einer einzelnen Bank (Lehman Brothers) oder die Wahl eines neuen US-Präsidenten (Reagan, Bush Jr., Trump), die uns ein Zeichen für das bevorstehende Ende des Kapitalismus sein sollen. Die wahren Marxisten sehen überhaupt - so wie ein fanatischer Christ - regelmäßig und überall neue Zeichen, die ihren Glauben bestätigen (Armut, Reichtum, Umweltzerstörung, Kriege usw.). Leider sind sie nicht so gut organisiert wie die Kirche.
Jean-Michel Jarre – Zoolook. https://www.youtube.com/watch?v=-F36bJ57TmM

Donnerstag, 6. April 2017

Die Zerstörungskraft der Gleichgültigkeit

Blogstuff 120
„Einer, der Aphorismen schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplittern.“ (Karl Kraus)
Politiker wie Gauck haben den weinenden Mann salonfähig gemacht, aber dem wütenden Mann gilt immer noch die öffentliche Verachtung. Warum? Weil Zorn die Basis von Ungehorsam, Protest und Rebellion ist. Wir haben es zugelassen, dass man uns die eigene Feigheit als Gelassenheit, als edle Gesinnung und vornehme Bürgerlichkeit verkauft.
Mein Haus hat einen Speicher, ebenso wie mein Computer. An beiden Orten finden sich viele Dinge, die wir nicht brauchen, von denen wir uns aber auch nicht trennen können. Ein dunkles, staubiges Zwischenreich, weder tot noch lebendig, weder nützlich noch sinnlos. Wir betreten es nur selten. Es ist uns vertraut und fremd zugleich.
Erdogans Pöbeleien auf dem Niveau eines hormonell fehlgesteuerten Halbstarken haben letztlich nur zwei Folgen. Erstens wird er von den Regierungschefs in Washington, Paris, Berlin usw. nicht mehr eingeladen. Ich bin gespannt, wo dieser Mann überhaupt noch einen Staatsbesuch machen wird. Würden Sie Herrn E. gerne in Ihrem Haus zu Gast haben? Zweitens wird niemand mehr zu Gast bei ihm sein wollen. An den Türkei-Ständen der ITB herrschte jedenfalls gähnende Leere.
„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, hat Herberger einmal gesagt. „Nach dem Arbeitstag ist vor dem Arbeitstag“, „Nach dem Terroranschlag ist vor dem Terroranschlag“, „Nach dem Essen ist vor dem Essen“ usw.
Man ist entweder Arbeitnehmer, Arbeitsloser, Student, Rentner usw. Dass man nichts ist, dass man in keine Kategorie eingeordnet werden kann, ist offenbar nicht vorgesehen.
Alle halten Einstein für bedeutend, aber wie viele Menschen haben seine Schriften tatsächlich gelesen?
Von einer Villa zu träumen ist nicht viel besser als in einer Villa zu leben.
Was macht eigentlich Heinz Pralinski? Er schreibt an einer Ästhetik des Scheiterns.
Das Gesicht eines alten Politikers, in dem sich die Lügen vieler Jahrzehnte abgelagert haben wie toxischer Müll. Da die Lügen, die Vereinfachungen, die Verzerrungen, die Verblödungsversuche, täglich dutzendfach vor Mikrophonen wiederholt werden müssen, erscheinen sie dem Parteifunktionär in seiner unappetitlich klebrigen Scheinheiligkeit recht schnell als strahlende Wahrheit. Die penetrante Redundanz und degoutante Ignoranz dieser Dauerlautsprecher ist in Wahljahren besonders schwer zu ertragen. Und Wahlen sind schließlich fast immer.
Andy Bonetti ist inzwischen so reich, dass er neulich einem Flaschengeist drei Wünsche erfüllt hat.
Manche Träume vergehen von selbst. Als junger Mann habe ich von einem Ferrari oder einem Porsche geträumt. Heute hätte ich Schwierigkeiten, in eine solche PS-Flunder einzusteigen. Das Lenkrad hätte ich quasi auf dem Schoß und die Knie würden an die Windschutzscheibe stoßen. Ohne fremde Hilfe käme ich aus dem Auto gar nicht mehr heraus. Mit fünfzig hat der Ehrgeiz mich längst verlassen und ich habe einen ganzen Rucksack voller Wünsche hinter mir gelassen. Morgens ohne Schmerzen aufstehen, ein gutes Abendessen. Die Ziele werden immer kleiner. Aber man erreicht sie auch leichter.
Die Rolle des Fernsehens als chemiefreie Einschlafhilfe wird leider zu selten gewürdigt.
Im Frühling hat mein Urgroßvater immer Weidenruten geschnitten und gewässert. Dann kam ein Korbflechter, die zu dieser Jahreszeit von Hof zu Hof wanderten, und machte aus den Weidenruten Kartoffelkörbe und anderes. Dafür gab es freie Kost und Logis, bis er weiterzog.
Ein Video der legendären Anarcho-Punk-Band „Die Bäckar“. Früher traten sie unter dem Namen „Die drei lustigen Vier“ auf, weil das vierte Bandmitglied Sid Vicious nie zu den Proben erschien. Sie treten gelegentlich in Bonettis hauseigenem U-Bahnhof auf. Bitte nicht füttern! https://www.youtube.com/watch?v=BdQkrrBfGzI

Mittwoch, 5. April 2017

Das Glück

Ich brauche so wenig, um glücklich zu sein. Nur ein Glas Weißwein und einen Menschen, der Reinsch heißt.
http://www.anwalt-lichtenberg.de/

Ich weiß es, Sie wissen es

„Du schreibst einen Text und hast etwas Neues erschaffen. Diesen Text hat es am Morgen, als du aufgestanden bist, noch nicht gegeben. Jetzt ist er in der Welt. Das ist es, Baby, das ist Kunst.“ (Andy Bonetti: Nussecken, Straßenecken, Geheimratsecken – eine Autobiographie)
Ich weiß es. Sie wissen es auch schon lange und können es nicht mehr hören. Trotzdem sage ich es zum tausendsten Mal: Aus dem Fußballsport ist ein dreckiges Geschäft geworden. Ein Industriezweig, der Milliarden umsetzt. Verseucht von Managern, Spielerberatern und Rechtsanwälten. Junge Ferrarifahrer und neureiche Villenbesitzer stehen auf dem Fußballplatz. Als ich anfing, Fußball zu gucken, verdiente ein Spieler des FC Bayern 1200 DM im Monat. Das klingt nach wenig, oder? Das ist auch wenig. Dafür wäre ein Handwerkermeister morgens nicht aufgestanden. Eine Grundschullehrerin auch nicht. Ein Weltmeister von 1974 wie Schwarzenbeck hat nach seiner Karriere am Kiosk gestanden und Zeitungen verkauft. Ein Weltmeister von 1954 wie Fritz Walter hat abends als Kartenabreißer im Kino gearbeitet. Gestern ist dein Bild in der Zeitung, morgen stehst du schon wieder an der Werkbank. So war Fußball früher. Haben Sie gewusst, dass der mit Regenwasser vollgesogene Lederball des Endspiels 1954 in Bern drei Kilo gewogen hat? Man muss sich erst mal trauen, mit voller Wucht gegen das Ding zu treten. Wenn man heute einen Fußball in der Hand hält, hat man das Gefühl, er wiegt nicht mehr als eine Tafel Schokolade. Die Jungs haben neunzig Minuten mit der Pille durchgehalten. Sie haben nichts gesagt, hinterher zusammen einen gesoffen und dann ging’s mit dem Bus wieder nach Hause. Ein verwöhnter Multimillionär wie Ronaldo würde sich das gar nicht antun. Ich weiß, sie wollen es nicht hören. Aber ich sage es trotzdem. Das Geld verseucht die Menschen. Geld ist eine Pest, die uns alle krank macht.
Die schönste Frau der Welt mit der besten Stimme aller Zeiten: https://www.youtube.com/watch?v=coy6CGYN-nA

Wilde Maus

Sie kommt auf mich zu gerannt, als wollte sie in Richtung New York abheben.
„Na, du wilde Maus“, sage ich, als ich sie in die Arme nehme und einmal die vollen 360 Grad herumwirbele.
„Na, du Wurstriese“, sagt sie zu mir, weil ich ihr mal erzählt habe, dass ich nur so groß und breit geworden wäre, weil ich riesige Mengen Wurst in mich hineingefressen habe.
Dann hatte ich auf meinen Bauch gezeigt und lachend gerufen: „Beweisstück A.“
Natürlich hatte sie mir nicht geglaubt. Dieses Kind ist schlau, auch wenn es noch nicht in die Schule geht.
„Ich weiß genau, was du willst“, sage ich zu ihr und grinse.
„Weißt du nicht.“
„Du willst ein Eis essen.“ Denn wir gehen oft zu Dolomiti in der Leibnizstraße.
„Nein.“
„Nein?“
„Nein.“
Ich bin überrascht. Kein Eis? „Was willst du denn?“
„Ich will in den Zoo.“
Ich stutze einen Augenblick. Wir haben gar keinen Zoo in unserer kleinen Stadt. „Okay“, sage ich und überlege fieberhaft.
Inzwischen geht sie an meiner Hand und wir laufen vom Kindergarten zum Frauenlobplatz.
„Weißt du, die Stadt ist sehr klein und genau darum haben wir einen sehr großen Zoo. Siehst du die Tauben? Die sind aus Afrika. Und die Spatzen? Eine amerikanische Sorte, die sich nur von Erdnüssen ernährt.“
Wir gehen weiter durch die Straßen.
„Der haarige Mann, der dort vor der Bäckerei steht. Das ist ein Höhlentroll. Er verwandelt sich nachts in einen Wolf.“
„Kann man da gar nichts machen?“, fragt sie mich.
„Natürlich“, antworte ich. „Man muss ihn vor Mitternacht mit einem Stück Streuselkuchen füttern, dann bleibt er friedlich.“
Und so gehen wir eine Stunde durch die Stadt, bis die Kleine müde wird.
Sie haben ja keine Ahnung, welche Tierarten in dieser Stadt leben. Das Leben ist einfach unglaublich.
David Bowie - Teenage Wildlife. https://www.youtube.com/watch?v=_Yhd_qhIr2g

Dienstag, 4. April 2017

Manuela

Und dann gibt es noch die dauersonnenstudiogebräunte Frau in den Wechseljahren, die den ganzen Tag allein zu Hause ist, während ihr Mann als Zahnarzt das Geld für die nächste Luxuskreuzfahrt verdient, und die sich natürlich nicht ihre Fingernägel selbst schneiden kann, weswegen sie einen Termin in einem Nagelstudio ausmacht, mit ihrem Mercedes dorthin fährt, eine halbe Stunde lang einer vietnamesischen Mutter mit Holzbein ihr Leid über das ach so schwere Leben als Zahnarztgattin klagt, zwanzig Euro bezahlt und wieder heimfährt, während ich dem Herrgott danke, dass man in Deutschland nicht einfach so eine Pumpgun und Munition kaufen kann, weil ich das ansonsten schon eine Million Mal gemacht hätte, um Menschen wie dieser aufgeblasenen Trulla das Hirn wegzublasen.

Hypochondrie ist heilbar

Eines Abends lag Wehrlein gemeinsam mit seiner Frau im Bett. Nachdenklich betrachtete sie seine nackte Brust.
„Ist dir schon mal aufgefallen, dass deine Brustwarzen seit dem letzten Jahr gewachsen sind?“
„Nein“, antwortete er überrascht.
„Außerdem ist die linke Brustwarze größer als die rechte.“
„Das kann nicht sein.“ Ärger hatte sich in seine Stimme geschlichen.
Seine Frau lächelte. „Schau es dir doch selbst an.“
Wehrlein versuchte, im Liegen auf seine Brust hinunterzuschauen, aber sein kräftiges Kinn verhinderte, dass er den Kopf weit genug senken konnte. „Ich seh nix“, antwortete er trotzig.
Damit hatte er sogar recht, aber seine Frau interpretierte den Tonfall seiner Antwort als Leugnung der Tatsachen und sagte: „Dann schau doch mal in einen Spiegel.“
Für seine Verhältnisse sprang Wehrlein fast behende aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Waren seine Brustwarzen wirklich gewachsen? Er hatte nie darauf geachtet. Aber es schien, als sei die linke Brustwarze tatsächlich etwas größer als die rechte. Oder bildete er sich das nur ein? Sollte er einen Zollstock holen? Und was konnte das bedeuten?
Die Fragen schossen nun unkontrolliert durch seinen Kopf. Waren die Östrogene im Bier daran schuld? Tschernobyl oder der Klimawandel? Bekam er Brustkrebs? Als Mann? War das möglich? Und wie sollte man einem Mann die Brust amputieren? Vorsichtig tastete er seine Brustwarzen ab. Waren darunter nicht kreisrunde Knoten?
Beunruhigt ging er ins Schlafzimmer zurück.
„Du hast recht.“
„Siehst du. Geh doch mal zum Arzt. Vielleicht ist es was Ernstes.“
Am nächsten Tag ging Wehrlein in die Praxis seines Hausarztes. Er wollte wissen, wie lange er noch zu leben hatte.
Hypochonder warten ihr ganzes Leben auf einen solchen Moment. Er musste ein Testament machen. Sich von seinen Liebsten verabschieden. Die letzten Dinge regeln. Er schluchzte vor Selbstmitleid, als er sich seine eigene Beerdigung vorstellte.
Wehrlein gab der Arzthelferin mit einem tiefen Seufzer seine Versicherungskarte und setzte sich ins Wartezimmer. Er sah die Werbeplakate für den nächsten Christopher-Street-Day und die Schwulenberatung an den Wänden, dachte sich aber nichts dabei. Nervös blätterte er in einer alten Illustrierten und tat das, was man in diesen Zimmern zu tun pflegte: warten.
Endlich saß er im Behandlungszimmer Dr. Mühsam gegenüber und schilderte ihm seinen Fall.
„Ziehen Sie bitte mal das Hemd aus.“
Dann stand Wehrlein vor dem Arzt, der routiniert seine Brust abtastete. Angestrengt sah er an dessen Gesicht vorbei und konzentrierte sich auf einen Farn, der aus einem Terrakottatopf wuchs. Dann fiel sein Blick auf die Schwarz-Weiß-Fotografien von muskulösen Männerkörpern an der Wand.
In diesem Augenblick wurde ihm alles klar. Schlagartig. Als ob ein jäher Blitz die finstere Landschaft seiner Schande beleuchten würde: Ein Schwuler begrabschte gerade seine Biertitten.
Es war wie ein Alptraum, aus dem er nie wieder erwachen würde. Er hatte sich komplett zum Idioten gemacht. Wie konnte er auch nur eine Sekunde annehmen, er wäre an Krebs erkrankt? Es war ein herzzerreißend peinlicher Augenblick und die Diagnose unterstützte das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben.
Er habe keinen Brustkrebs, sagte der Doktor ruhig. Und die unterschiedliche Größe der Brustwarzen ließe sich darauf zurückführen, dass er als Linkshänder eben eine größere linke Brustwarze und Brust hätte. Das sei vollkommen normal. Natürlich konnte Wehrlein nach diesem Ereignis die Praxis seines Hausarztes nicht mehr betreten. Niemals. Unter keinen Umständen.
Billy Idol – White Wedding. https://www.youtube.com/watch?v=AAZQaYKZMTI

Montag, 3. April 2017

Neulich in meiner Abteilung

Kalheimer betritt mein Büro.
Er: Na, was gibt’s Neues?
Ich: Nichts. Wieso?
Er: Sie können es mir nicht sagen, oder?
Ich: Was kann ich Ihnen nicht sagen?
Er: Ich verstehe. Ist es was Persönliches?
Ich: Nein. Ganz bestimmt nicht, Herr Kalheimer.
Er: Was hört man denn so?
Ich: Worüber?
Er: Sie wissen schon.
Ich: Ehrlich. Ich weiß gar nicht, worum es geht.
Er: Sie vertrauen mir nicht. Schon klar. Sie fürchten, dass ich mich verplappern könnte.
Ich: Was meinen Sie damit? Um was geht es denn überhaupt?
Er: Das fragen Sie mich? Es hieß, Sie wüssten Bescheid.
Ich: Über was?
Er: Kommen Sie! Die ganze Abteilung redet darüber. Es heißt, es gäbe schon eine Liste.
Ich: Was für eine Liste?
Er: Eine Namensliste. Sie wollen mir doch nicht erzählen, sie hätten über die Pläne nichts gehört.
Ich: Welche Pläne?
Er: Über eine Zusammenlegung. Mit einer anderen Abteilung.
Ich: Mit welcher Abteilung?
Er: Das weiß ich auch nicht.
Ich: Sie können es mir nicht sagen, oder?
Er: Was kann ich Ihnen nicht sagen?
Ich: Ich verstehe. Ist es was Persönliches?
Er: Nein. Ganz bestimmt nicht, Herr Feldmann.
Ich: Was hört man denn so?
Er: Worüber?
Ich: Sie wissen schon.
Er: Ehrlich. Ich weiß gar nicht, worum es geht.
Dann ist er wieder gegangen. Seitdem lebe ich in Angst.
Tom Waits - Downtown Train. https://www.youtube.com/watch?v=ja2evWhGWHA

Sonntag, 2. April 2017

Goethes schillernde Vergangenheit

Oder einfach:

Blogstuff 119
„The more I work, the more I think I don't know what I am doing. I have absolutely no idea what I am doing. It is like sweat or shit. It comes out as I go along … Art is shit. Art galleries are toilets. Curators are toilet attendants. Artists are bullshitters.“ (Martin Creed)
Auf Wahlplakate sollen jetzt auch Schockfotos gedruckt werden, die vor den Folgen der Politik warnen: Eine Menschenschlange vor der Essensausgabe einer Tafel, eine verrottete Schule, ein qualmendes Kohlekraftwerk, ein Obdachloser, ein abgeholzter Wald, eine marode Brücke usw.
Was kann ich besonders gut? Mal überlegen. Ich bin sehr gut im Essen, aber auch im Bereich des Trinkens gehöre ich zu den Hochbegabten. Ist Stammgast ein Beruf in der Gastronomie? Gut sichtbar am Fenster eines Restaurants? Wer braucht mich?
Und dann sind da noch die Typen, die als kleine Fische nach Berlin gekommen sind und jetzt den Miethai spielen.
Ich habe mich während meiner Studienzeit mit keinem zeitgenössischen Denker so intensiv auseinandergesetzt wie mit Jürgen Habermas. Aber ich bin bei seiner Lektüre kein Habermarsianer geworden. Heute erscheint mir seine Idee des herrschaftsfreien Diskurs‘ aus seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ gnadenlos naiv. Es gibt diesen herrschaftsfreien Diskurs nicht in der Öffentlichkeit, in vielen Ländern gibt es noch nicht einmal einen repressions- oder wenigstens angstfreien Diskurs. Dort wo in der Kneipe oder im Uni-Seminar noch offen diskutiert wird, sitzen nicht die Herrschenden. Wer in einer Partei den Mund aufmacht, versichert sich vorher, in welcher Gesellschaft er dann mit seiner Meinung wäre und ob es seiner Karriere schadet. Ansonsten beobachte ich auf dem Pavianhügel der „sozialen“ Medien nur Streit und Gruppenbildung. Auch der Verfassungspatriotismus, eine weitere Idee des Sozialphilosophen, spielt in Zeiten des wiedererwachten Nationalismus und Rassismus keine Rolle mehr. Es ist sehr still um Haberrmas geworden.
„Auf’m Damenklo / Im Bahnhof Zoo“ (Nina Hagen). Alle Herrentoiletten sind besetzt, aber die Wehen kommen jetzt in immer kürzeren Abständen. Ich spreche mit dem zahnlosen Saubermann, der hier zuständig ist. Die Toiletten wären mit Obdachlosen besetzt, die hier oft drei Stunden schliefen und in den Kabinen sogar rauchen würden. Nix mehr mit den Junkies aus der Christiane F-Ära. Der Sicherheitsdienst sei schon auf dem Weg. Ich darf auf eine Damentoilette. Am Bahnhof Alexanderstraße sei es noch schlimmer, erklärt der Diensthabende zum Abschied.
1990: Früher war aus West-Berliner Perspektive alles Osten, plötzlich ist aus Ost-Berliner Perspektive überall Westen. Ich habe mir die Fotos angesehen, die ich im Januar 1990 bei einem Berlin-Besuch gemacht habe. Die Mauer in der Abrissphase, Altbauten mit Einschusslöchern. Ein Foto zeigt mich auf dem Schoß von Karl Marx, das Denkmal für Marx und Engels in Mitte ist vermutlich zum ersten Mal mit Graffiti verziert. Vorne steht: „Wir sind unschuldig“. Hinten: „Beim nächsten Mal wird alles besser.“ Ein Jahr später wohne ich in Kreuzberg.
Ein Burger-Restaurant in einer der 67 Shopping Malls der Hauptstadt. Klopfender HipHop-Rhythmus aus den Lautsprechern. Ich betrachte den jungen Angestellten, der hinter dem Tresen Gläser spült und versucht, bei jeder Bewegung lässig und weltmännisch zu wirken. Er wirft das gespülte Glas in die Luft, wo es sich einmal um die Längsachse dreht, fängt es wieder auf und stellt es ins Regal. Wie lange wird es dauern, bis er seine Begeisterung verliert?
Die vier lustigen alten Frauen in einem Gasthaus in Dinkelsbühl. Sie sitzen des Abends bei Bier und Schweinebraten wie die Orgelpfeifen. Die kleinste Orgelpfeife ist eine schlohweiße Greisin, die kaum über den Tischrand blickt. In ihren Händen, die auf Kopfhöhe sind, wirken Messer und Gabel riesig. – Die zwei alten Frauen in einem Berliner Restaurant, die sich schweigend und mit verbitterten Mienen gegenüber sitzen. Sie wirken hart und kalt mit ihren modischen Kurzhaarschnitten. Ich stelle mir vor, dass sie Witwen sind und früher ihre Männer gequält und gedemütigt haben. Jetzt suchen sie neue Opfer.
Der Unterschied: Wenn ich in Schweppenhausen am Sonntag noch eine Flasche Bier oder eine Flasche Wein kaufen möchte, schaue ich ohne Auto in die Röhre, von meinem Berliner Domizil erreiche ich im Umkreis von etwa hundert Metern einen Späti, einen Dönerladen, eine Tankstelle und das kleine Geschäft in der U-Bahn-Station. Zusätzlich habe ich die Auswahl zwischen hundert Lieferdiensten, die mir zu den Getränken auch noch Pizza, Burger, Sushi usw. bringen können. Die einzige Pizzeria, die nach Schweppenhausen liefert, weigert sich beharrlich, Wein und Bier in ihr Sortiment aufzunehmen.
Frankie goes to Hollywood - Lunar Bay. https://www.youtube.com/watch?v=g2wXo-cBvRM

Samstag, 1. April 2017

Ammenmärchen

„Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ (Ingeborg Bachmann)
Ammenmärchen 1: Durch politische Reformen wurde die Zahl der Arbeitslosen halbiert
Erinnern Sie sich noch an die Horrorzahl von fünf Millionen Arbeitslosen Anfang 2005? Das lag daran, dass mit der Agenda 2010 der Regierung Schröder/Fischer die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger zusammengerechnet wurden. In Deutschland haben nicht über Nacht zwei Millionen Leute ihren Job verloren, sondern die zwei Millionen Sozialhilfeempfänger wurden mit den drei Millionen Arbeitslosen in einen statistischen Topf geworfen. Tatsächlich ist die Zahl der Arbeitslosen nur um einige hunderttausend gesunken. Diese Reduzierung verdanken wir dem demographischen Wandel, d.h. es gehen jedes Jahr mehr Menschen in Rente als junge Leute auf den Arbeitsmarkt kommen. An der Zahl der Hartz IV-Empfänger kann man unschwer erkennen, dass auch im Bereich der ehemaligen Sozialhilfeempfänger durch die Agenda 2010 kein Fortschritt erzielt wurde.
Ammenmärchen 2: Die Wirtschaft hat Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen
Das stimmt nur auf dem Papier. Tatsächlich sind viele Teilzeitstellen neu geschaffen worden, d.h. Arbeitsplätze, von denen man kaum leben kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht die Statistik über die Zahl der Arbeitsplätze oder die Arbeitslosenstatistik, sondern eine andere Statistik, die aus guten Gründen nie in der Berichterstattung oder politischen Diskussionen vorkommt: die Statistik über das Arbeitsvolumen. Wieviel Erwerbsarbeit gibt es tatsächlich in Deutschland? Wie viele Stunden arbeiten die Menschen in diesem Land insgesamt? Das Arbeitsvolumen ist in Deutschland seit Jahrzehnten konstant. Die Arbeit nimmt also nur auf dem Papier zu.
Ammenmärchen 3: Wir sind besser als andere Länder
Unseren Erfolg als Exportweltmeister haben wir der Währungsunion zu verdanken, nicht unseren Konzernen. Wir sind nur deshalb siegreich auf den Weltmärkten, weil wir mit dem Euro eine Weichwährung haben. Hätten wir noch eine harte Währung wie die D-Mark, ginge es uns wie der Schweiz mit ihrem Franken: Wir wären mit unseren Produkten viel zu teuer. Außerdem leben wir vom Wohlwollen unserer Handelspartner, die ihre Wirtschaft nicht mehr durch Zölle schützen.
Diese drei Ammenmärchen gehören zu den Lebenslügen dieser Republik. Wir sonnen uns gerne in Erfolgen, die wir nie hatten. Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Die SPD klopft sich selbst auf die Schulter, weil sie mit der Agenda 2010 den Grundstein zu einer Ära des Erfolgs gelegt hat. Die Union klopft sich selbst auf die Schulter, weil seit dem Agenda-Jahr 2005 mit Merkel eine CDU-Kanzlerin das Gesicht dieses Erfolgs ist. Die Wirtschaft klopft sich selbst auf die Schulter, weil das BIP gestiegen und die Arbeitslosigkeit gesunken ist. Nichts davon ist wahr.
Fakt ist: keiner der drei Akteure hatte einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung. Die Währungsunion wurde in Maastricht 1992 von einer anderen Generation von Politikern beschlossen und der Geburtenrückgang hat gesellschaftliche Gründe; seine Ursache liegt weder in der Politik, noch in der Wirtschaft.
Warum spricht niemand über die Wahrheit hinter diesen Ammenmärchen? Den Journalisten fehlen das Fachwissen und der Überblick. Die Partei- und Wirtschaftsfunktionäre haben kein Interesse, diese Geschichte zu erzählen. Sie leben alle vom Märchenglauben der Bevölkerung.
P.S.: Wissen Sie, wo die Agenda 2010 tatsächlich – und bei etlichen Flaschen italienischem Wein – entstanden ist? In der Osteria No. 1 in der Kreuzbergstraße in Kreuzberg. Ich weiß es vom Kellner, der dabei war. Vergessen Sie also die Story von irgendeinem Parlament. Der damalige Wirt der Osteria, der aktuell im Sale e Tabacchi in der Rudi-Dutschke-Straße zu finden ist, war übrigens bis 1977 Mitglied der Roten Brigaden, dem italienischen Pendant zur RAF.
Human Tetris - Things I Don't Need. https://www.youtube.com/watch?v=ALk3o7m5Jt8