Samstag, 24. September 2016

Worms

„The whole image is that eternal suffering awaits anyone who questions God's infinite love. That's the message we're brought up with, isn't it? Believe or die! Thank you, forgiving Lord, for all those options.“ (Bill Hicks)
Eigentlich ist es ja eine Bildungslücke. Da ist man fünfzig Jahre Rheinhesse und ist immer nur in Mainz, Ingelheim und Bingen. Also habe ich mir auf einer Tagestour einmal die Perlen des Hinterlands angeschaut: Alzey und Worms.
Der Zug, den ich in Gensingen besteige, fährt durch Orte, deren Namen ich noch nie gehört habe. Albig oder Nieder-Flörsheim-Dalsheim, wo ich auf dem mit Brettern vernagelten Bahnhofsgebäude das rätselhafte Graffito „Alle gegen Francesco“ lese. Rebhügel mit Waldmütze.
Alzey hat bis auf ein paar Winkel in der Altstadt mit Fachwerkhäusern und einem Brunnen, aus dem ein lebensgroßes Metallpferd trinkt, wenig zu bieten. Die Stadt nennt sich „die heimliche Hauptstadt Rheinhessens“ – das wird bis auf weiteres auch so bleiben.
In Worms besuche ich zunächst das „Brauhaus Zwölf Apostel“, wo man an diesem Tag im Biergarten in den blitzblauen Himmel blinzeln kann, und stelle fest, dass die Firma Eichbaum immer noch nicht brauen kann. Zuletzt hatte ich diesem Bier in den achtziger Jahren eine Chance gegeben. Sie lernen es einfach nicht.
Hinein in die Altstadt. Worms, die Nibelungenstadt. Hier spielte sich die Heldensage um Siegfried, Kriemhild und Hagen, um Drachen und Schätze ab. Worms, Hauptstadt des Königreichs Burgund und uralter Bischofssitz, von Attila im Hunnenkrieg geplündert, als es Städte wie Berlin, Hamburg oder München noch gar nicht gab.
Ich besichtige den Dom, der im Vergleich zu den beiden anderen Kaiserdomen in Mainz und Speyer prächtig ausgestattet ist. Hier fand der Reichstag zu Worms statt, bei dem Martin Luther vor dem Kaiser 1521 seine Thesen verteidigte. Mit dem Wormser Edikt wurde die Reichsacht über Luther verhängt und seine Schriften verboten. Die zweite Spaltung der christlichen Kirche, etwa fünfhundert Jahre nach dem Schisma (Rom vs. Konstantinopel), war damit besiegelt.
Der „Heilige Sand“ ist der schönste Friedhof, den ich je gesehen habe. Eine versunkene Welt unter ausladenden Baumkronen. Der älteste jüdische Friedhof Europas, manche Gräber sind tausend Jahre alt. Die Grabsteine neuerer Zeit sind auf Deutsch beschriftet. Alexander Sinsheimer: 1824 in Worms geboren, 1912 in New York gestorben, hat sich in seiner Heimat beerdigen lassen. Sannchen Levita, geb. Mandel, 1867 – 1908.
Seltsam: Als die Juden endlich integriert waren – viele traten gleich zum Christentum über wie Tucholsky -, haben ihre deutschen Mitbürger sie ermordet. Eine ältere Dame, begleitet von ihrem hünenhaften Enkel, fragt mich nach dem Sinn der Steine und Zettel auf den Grabsteinen. Ich erkläre ihr den alten jüdischen Brauch (v.a. an den Gräbern des berühmten Talmudgelehrten Rabbi Meir von Rothenburg und von Alexander ben Salomon Wimpfen) und erzähle dem Enkel, dass wir Männer eigentlich eine Kippa tragen müssten. Als sie weitergeht, tupft sie sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Alles Jüdische gibt uns immer noch ein beklemmendes Gefühl oder macht uns zumindest verlegen und stumm.
Der Stadtkern ist im Wesentlichen das Ergebnis des Wiederaufbaus nach dem Krieg, als Zeit, Geld und Phantasie fehlten. Man merkt es bis heute. Zwanzig Minuten haben kurz vor Kriegsende gereicht, um die Altstadt durch einen Luftangriff zu zerstören. Damit wollte man den Starrsinn eines Diktators in Berlin brechen, dem längst alles egal war.
Ich spaziere zum Rhein hinunter. Ein Schablonengraffito auf einer Hauswand: „Achtung Chemtrails“ mit zwei Pfeilen, die in den Himmel zeigen. In einem Brauhaus am Ufer, das von ganzen Busladungen lärmender Rentner belagert wird, beschließe ich den Tag. Deutschland 2016.
Simon & Garfunkel – Scarborough Fair. https://www.youtube.com/watch?v=P9ngGDrDmFU

1 Kommentar:

  1. Eine beliebige Kopfbedeckung reicht nach jüdischem Recht aus. Muss keine Kippa sein.

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