Freitag, 3. Juni 2016
Retrostuff: Der Auftrag
Wieder einer dieser grauen Großstadtvormittage. Trotz des bevorstehenden Schneefalls, der in diesen Tagen regelmäßig um diese Uhrzeit mit ungeahnter Wucht einzusetzen pflegte, hatte mich der Bürovorsteher zur Erledigung einiger Botengänge fortgeschickt. Missmutig – ohne dies gegenüber dem Vorgesetzten auch nur entfernt anzudeuten – machte ich mich auf den Weg. Auf den Straßen war wenig Verkehr, im Nachhinein erscheint es mir fast, als wäre ich allein gewesen. Man bereitete sich also offensichtlich auf den Wetterumschwung vor, der dann natürlich allen Verkehr lahmlegen musste.
Bald kam ich an die großen Eisengitter, die den Schulhof umzäunten. Es war gerade Pause und die Kinder standen in weit verstreuten Gruppen herum, unruhig von einem Bein auf das andere tretend, als erwarteten sie eine Veränderung der Verhältnisse. Ich hatte gerade das Schultor erreicht, da läutete die Glocke das Ende der Pause ein. Als ich schon fast vorüber war, hörte ich eine mächtige Stimme hinter mir. „He du! Komm wieder rein! Der Unterricht beginnt gleich.“ Obwohl ich natürlich nicht gemeint sein konnte, drehte ich mich mit einem unbehaglichen Gefühl um. Ein schwerer Mann in einem grauen Kittel – anscheinend der Hausmeister – ging nun sehr schnell über den leeren Hof auf mich zu. Er kam bedrohlich nahe vor mir zum Stillstand, trotz meiner nicht unbeträchtlichen Größe überragte er mich um Haupteslänge. Ein massiger, rot geschwollener Schädel mit kleinen, tief im Fleisch sitzenden Augen und ärgerlich verzerrtem Mund schwebte wie ein böser Mond über mir. Ich war über den schnellen Wandel der Verhältnisse so erschrocken, dass ich kein Wort hervor brachte.
Er packte meinen Unterarm mit seiner behaarten Pranke und zog mich ein Stück in den Schulhof hinein. „In welcher Klasse bist du?“ fragte er barsch, und ich wusste, jede weitere Sekunde meines Schweigens würde ihm mehr Recht geben. Ich ordnete also alles für diese Angelegenheit wichtige in meinem Geist, nahm auch weiterführende Erklärungen in meine geplante Gegenrede mit auf, da kamen einige Jungen über den Hof gelaufen. „Aber Jonas, wo bleibst du denn?“ rief einer schon von weitem. „Herr Baumann muss jeden Moment kommen!“ Schon hatten sie uns erreicht und umringten mich. Der Hausmeister ließ mich augenblicklich los, ich rieb verärgert meinen schmerzenden Arm. Ein schmaler blonder Junge, offenbar ihr Anführer, erklärte nun: „Der Jonas ist schon ein Träumer.“ Eine Bemerkung, die von den Umstehenden wohl bis in letzte Einzelheiten hinein verstanden wurde, denn alle lachten und klopften mir dabei abwechselnd auf die Schulter. Mit diesem Klopfen trieben sie mich unaufhaltsam ins Klassenzimmer. Keine Sekunde zu früh, denn schon bog Studienrat Baumann, der Geographielehrer, mit langen gleichmäßigen Schritten um die Ecke.
P.S.: Die Geschichte habe ich am 19. März 1987 geschrieben.
Passend zu Kafkas Todestag.
AntwortenLöschenGut beobachtet ;o)
LöschenEigentlich heiße ich Sherlock Ackerbau.
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