Sonntag, 12. Juni 2016
Retrostuff: Ackerstraße
Wenn man von der Invalidenstraße die Ackerstraße bis zur ehemaligen Mauer an der Bernauer Straße weitergeht, gelangt man an einen einsamen Häuserblock, der von Gräberfeldern umgeben ist. Die Nordwestseite des altertümlichen Gebäudes, jene Seite also, die sich dem Todesstreifen und den ersten Häusern West-Berlins zuwendet, ist eine kahle leere Wand. Nur ein einziges winziges Fensterchen hoch oben unterm Dachgiebel bietet den Ausblick auf dieses Ende der Welt.
Zumindest muss es spielenden Kindern wie das Ende der Welt vorgekommen sein, falls es damals hier spielende Kinder gegeben hat. Ich stelle mir vor, dass zu jener Zeit das kleine Fenster vom Speicher aus durch die Wand gebrochen wurde. Sicher war es danach den Mietern des Hauses verboten, hinaufzusteigen und einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Womöglich hatte nur die Grenzpolizei oder der Geheimdienst einen Schlüssel zu diesem Ausguck. Weiter stelle ich mir vor, dass ein junger Mensch, den man wie alle jungen Menschen mit schlechter, ermüdender und geisttötender Arbeit belästigt, weil dies angeblich der Preis für eine spätere Karriere sei, dort oben als Wachposten seinen Militär- oder Polizeidienst zu leisten hatte.
Ich sehe ihn vor mir, wie er jeden Morgen um acht Uhr hier ans Ende der Welt heraus kommt, die Treppe zum Ansitz erklimmt, um von dort aus die Umgebung bis zum Abend zu beobachten. Anfangs nimmt er den Dienst sehr ernst und hält angestrengt nach sogenannten Grenzverletzern Ausschau. Er hat einige belegte Brote und eine Flasche Mineralwasser mit, vielleicht hat man ihm auch eine Toilette auf dem Dachboden installiert, so dass es keinen Grund zum Verlassen des Postens gäbe.
Mit der Zeit wird ihm langweilig. Es passiert nichts. Nur die seltenen Gespräche mit den Kollegen über Funk. Kein undienstlicher Satz, nur knappe Meldungen und Anweisungen. Schließlich kennt niemand den einsamen Kauz da oben. Der junge Mann beginnt, Bücher mitzubringen, um sich die Zeit zu vertreiben. Draußen geschieht nichts Ungewöhnliches - und wer kann ihn dort oben schon sehen? Möglicherweise ein Jemand mit einem Fernglas auf der anderen Seite der Welt – ein Gedanke, den man vernachlässigen kann. Wieder einige Zeit später bringt er sich Papier und Stifte mit. Er hat den ganzen Tag für sich, er hat Ruhe, er hat Muße. Er beginnt zu schreiben. Jahrelang führt er dort oben ein herrliches unberührtes Schriftstellerdasein. Er wird für das Schreiben bezahlt, der nachdenkliche Blick aus dem Fenster ist etwas Selbstverständliches geworden.
Was er wohl heute macht?
Killing Joke – Walking With Gods. https://www.youtube.com/watch?v=WALWEYQgymc
Falls der Grenztruppenangehörige vom Geschriebenen leben kann, wird er vielleicht weiterhin alle 2 bis 3 Jahre Prosa/Lyrik veröffentlichen können. Das ein Wohnklo in einem Berliner Außenbezirk finanziert.
AntwortenLöschenSollte er sich an Uniform, Befehl und Gehorsam gewöhnt haben, wird er heute als Bundespolizist, bis zur "verdienten Pensionierung", Flüchtlinge, "Illegale", Asylbewerber etc. abschieben.
Oder als Angehöriger von FRONTEX in nicht EU-Ländern, die "Aussengrenzen der EU schützen" (EU-Neusprech für Machtdemonstrationen des europäischen Kapitals).
Oder er hat sich in Afghanistan zusammenschießen, zumindest aber dauerhaft traumatisieren lassen.
Danke für einen abermaligen Mucke-Retro-Link - ich kam danach auf Orchestral Manoeuvres In The Dark - Enola Gay
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