Samstag, 30. April 2016

Blogstuff 39 – Parlando Mortale

„Selbst unser Protest dient den Herrschenden, denn sie beweisen aller Welt ihre Toleranz, indem sie ihn zulassen.“ (Lupo Laminetti)
Der Zug fährt ein, ich lese das Schild auf dem Bahnsteig: Göttinnen. Wo bin ich denn hier gelandet? Und wo sind sie? Aber dann schaue ich noch einmal hin: Göttingen. Und der Zauber verfliegt.
Er hatte eine flache, fleischige Nase mit riesigen Löchern, in die man hineinschauen konnte. Löcher wie ein Billardtisch. Firma Schorf & Grind, Vulkanisieranstalt und Sockenverleih seit 1875, N 65, Berlin. Wo sonst? Natürlich alles nur Fassade. Seine Fingernägel bogen und wellten sich wie Kartoffelchips. Er drehte den Schmuck vor seinen wässrigen, blutunterlaufenen Augen. Ein halbes Hähnchen ist kein Fasan, pflegte er zu sagen. Immer der gleiche Spruch. Aber er kaufte uns die Sore doch jedes Mal ab. Ich erinnerte mich an meine Zeit in New York. Ein braunes Backsteingebäude. Cross Bronx Auto Parts. Webster Avenue Ecke Claremont Parkway. Ich nannte mich damals Max Mustermann und hielt das für eine gute Idee … (Fragment)
Ich habe mich in diesem Blog schon zu vielen Themen geäußert. Aber ich habe noch nie über das Emsland geschrieben. Jetzt werden natürlich viele Leser fragen: Kiezschreiber, warum bewegt das Emsland dein großes Dichterherz nicht, wieso inspiriert dich die Gegend von Meppen nicht zu einer Erzählung oder wenigstens zu einem Gedicht? Ich will es Euch ganz offen sagen: Zum Emsland fällt mir nichts ein.
Ritual der Neunziger: der Gute-Nacht-Döner am Schlesi.
Wenn sie die Akribie, mit der sich viele ihrer Gesundheit, ihrer Ernährung und ihrer Fitness widmen, auch auf ihren Geist anwenden würden, statt sich den Kopf mit albernen Belanglosigkeiten, mit billigen Fernsehprogrammen, schlechten Büchern und oberflächlichem Popgeklimper vollzustopfen.
Ernüchterung nach einem Besuch im Job-Center: Es wird kein Polarforscher gesucht.
Sind es fremde Ketten, die ihn zu Boden ziehen, oder ist es die eigene Rüstung?
Die einen werden in einen Park gepflanzt, die anderen wachsen als Unkraut zwischen den Gehwegplatten hervor.
Es sind ja nicht nur Millionen Leben in den Weltkriegen vernichtet worden, sondern auch Milliarden Jahre, die nicht mehr gelebt werden konnten. Kinder, die nie geboren wurden, Bücher, die nie geschrieben wurden, Bilder die nie gemalt wurden, Lieder, die nie geschrieben wurden.
In der geschlossenen Welt des paternalistischen Staates gibt es für jede Handlung eine Norm, einen Paragraphen, eine Verordnung, eine zuständige Behörde und sogenannte Fachleute. Kann man in dieser Welt wirklich etwas Neues machen?
Die Gegner des Schreibens: lästig und lächerlich zugleich, zahlreich und sich unaufhörlich erneuernd wie Stechmücken.
FDP vor dem Comeback – der neue Slogan: Mehr Bretto vom Nutto.
Werbung: „Risco Tanner – Im Garten der Qualen.“ Unbeschreiblicher Schrecken – in allen Details! Diesmal wird es echt gefährlich! Ab Montag an Ihrem Kiosk!
Immobilienspecial: Partykeller – Hobbykeller – Folterkeller. Die neuen Trends für diesen Sommer.
Johannes der Blinde, König von Böhmen, ritt 1346 in der Schlacht von Crécy schutzlos mitten ins Kampfgetümmel und fand den Tod. Ist ein Blinder, der dennoch in die Schlacht zieht, ein Beispiel für Selbstvertrauen oder Opferbereitschaft, für Mut oder Wahnsinn? Und seit wann reiten Blinde?
Das Skrotum vergrößert sich im Alter, während der Penis in den Körper zurückwandert. Was hat sich die Natur dabei gedacht? Möchte sie uns damit etwas sagen?
Hätten Sie’s gewusst? Ein Aspirant ist ein Anwärter auf den Beamtenstatus, Aspiration das Einatmen von Erbrochenem.
Dürfen wir Sie demnächst in der altdeutschen Weinstube „Zum leiblichen Wohl“ in Bad Nauheim begrüßen? Jeden Mittwoch frische Schweineleber!
Hiermit reserviere ich den Begriff „Intensivtranse“ für zukünftige Erzählungen.
Unter den Flüchtlingen sind nicht nur Terroristen, sondern auch V-Leute vom BND, MAD und dem Verfassungsschutz, von der CIA, dem Mossad usw.
„Join us to see the invisible and do the impossible.” (Werbespruch auf der Internetseite des Mossad)
Hätten Sie’s gewusst? 2009 wurde Andy Bonetti zum hessischen Staatsschriftsteller ernannt. Außerdem war er der erste Autor im Weltraum.
The Adicts - You'll never walk alone. https://www.youtube.com/watch?v=lIYrffNGp90&nohtml5=False

Freitag, 29. April 2016

Rhoihesse

Also mir san ja Rhoihesse. Des is uff die ling-ge Seit vum Rhoi. Mir habbe frieher zu Hesse gehöäd unn babbele aach genauso awwer mir sin hald koi Hesse. Rhoihesse geheert zu „Rheinland-Pfalz“, des is e Bundesland wo sisch die Amerikaner nochem Kriesch ausgedachd hunn. Mir sinn jo koi Rheinländer, des sin die Leud, die wo de Rhoi nunner leewe, in Köln un so weidä. Mir sin die Rhoihesse unn uff de anner Seit hogge die Hesse. Uns nenne se immä die „ebsch Seit“ unn mache ihr Witzjer iwwer uns. Aber mir sin ned sou. Mir rede ned schlescht iwwer annere Leit … babbische Dreckshesse … denke immä, sie wärn was Besseres. Isch saans nur ... hinnäfotzische Nuttepreller. Mit dem Woi, den wo se do driwwe hun, dede mir uns noch ned emol die Fieß wasche. Awwä alleweil s Schlappmaul uffgerisse, die dabbische Babbler … isch saans nur!
Joachim Witt - Die Flut. https://www.youtube.com/watch?v=lUUdni8fTxw

Neues aus Packstadt

„SPD: Sozialabbau und Altersarmut an einer Essenz aus Dilettantismus und Lahmarschigkeit.“ (Lupo Laminetti)
Um die Politik der SPD zu verstehen, muss man den euklidischen Raum unserer alltäglichen Anschauung verlassen und sich beispielsweise mit dem Begriff der riemannschen Mannigfaltigkeit befassen. So kann die kürzeste Strecke zwischen zwei unterschiedlichen Punkten nicht die Gerade, sondern eine gekrümmte Kurve sein. Nehmen wir die Rentenpolitik: Da wird das Rentenniveau auf 43 Prozent des Nettoeinkommens abgesenkt und die Versicherungswirtschaft mit der Riester-Rente auf neue Höhen geführt (das sogenannte Maschmeyer-Axiom), um dann in Tippelschritten (Mütterrente, Lebensleistungsrente usw.) für Kleinstgruppen, die mit einer aufwändigen Bürokratie erst ermittelt werden müssen, wieder um geringe Beträge angehoben zu werden, derweil aber der siebzigste Geburtstag als Zeitpunkt für den Renteneintritt diskutiert wird.
Ähnlich wie Neil Armstrong ist Norbert Blüm mit nur einem Satz in die Geschichte eingegangen: „Die Rente ist sicher“. Die SPD hat sich beim Aufbau eines ganzen Kartenhauses aus leeren Versprechungen, gesellschaftsfeindlichen Gesetzen und Mauscheleien mit der Wirtschaft um Kopf und Kragen geredet. Wer dem großen Parteivorsitzenden nicht in den n-dimensionalen Raum der Sozialdemokratie folgen möchte, wird von „Porky“ Gabriel inzwischen einfach als „Pack“ bezeichnet. Dabei wäre die Lösung so einfach: sozialdemokratische Politik. Unter Willy Brandt lag der Spitzensteuersatz für die Beschäftigten bei 56 Prozent und die Unternehmen haben ihre Steuern nicht in Panama oder Luxemburg bezahlt, sondern an ihrem tatsächlichen Unternehmenssitz. Niemand hatte Angst vor Altersarmut, denn es gab Tariflöhne und keinen Niedriglohnsektor. Aber in der SPD ist Euklid leider nicht bekannt.
Was kommt nach dem Verfall der Volksparteien? Die Politik wird wie die Formel 1: Niemand versteht mehr die Technik, die in den Fahrzeugen steckt, und ein Haufen austauschbarer Deppen jagt sich gegenseitig mit rasender Geschwindigkeit auf einer medialen Kreisbahn.
P.S.: Als Gabriels Meisterstück geht sicherlich TTIP in die Geschichte ein. Wir sollen einen Vertrag unterschreiben, den wir aber auf keinen Fall vorher durchlesen sollen. Hatte der Mann keine Mutter, die ihm erklärt hat, dass man solche Verträge niemals unterschreiben darf?
Porky's Pledge of Allegiance. https://www.youtube.com/watch?v=33-5MbIE7eQ

Donnerstag, 28. April 2016

Nimm das Geld und verschwinde

„Bring me my gun of itching desire / Bring me my bullets and I will fire“ (Depeche Mode: Told You So)
Man sollte über Tote nichts Schlechtes sagen. Man sollte die Toten auch nicht bestehlen. Und wenn man sie bestiehlt, während sie gerade beerdigt werden, ist das persönliche Karmakonto schnell in den Miesen, aber dieses Risiko musste Norma Winckler eingehen. Der Termin der Beerdigung stand in der Zeitung. Zu diesem Zeitpunkt würde also garantiert niemand im Haus des Verstorbenen sein und zum anschließenden Leichenschmaus wurde ins Café Bloch geladen.
Bequemlichkeit, Eitelkeit und Leichtsinn der Kundschaft gehören zur Grundausstattung eines erfolgreichen Einbrechers. Die Vordertür war aus massiver Eiche und wies zwei Sicherheitsschlösser auf. Die Fenster waren vergittert. Norma ging zur Rückseite des Hauses. Ein Wintergarten. Unvergittert – alles andere wäre unästhetisch gewesen. Und von Ästhetik hatte der Tote etwas verstanden. Der frühere Bankier galt als versierter Kunstsammler und Mäzen.
Sie holte den Glasschneider aus der Jackentasche und arbeitete sich durch zwei große Scheiben ins Innere des Hauses. Sie stand im Schlafzimmer des alten Mannes, der in der vergangenen Woche gestorben war. Es roch nach Desinfektionsmitteln, Hautcreme und aufgegebenen Träumen. Durch den angrenzenden Flur kam sie ins Wohnzimmer. Voila. Ein Matisse und ein Van Gogh, dazu eine filigrane Statuette von Giacometti.
Sie trug alles in den Lieferwagen, den sie vor dem Haus geparkt hatte. Im Haus gegenüber war die ganze Familie ausgeflogen. Doppelverdiener mit schulpflichtigen Kindern. Die Nachbarhäuser lagen verborgen hinter hohen Hecken und alten Bäumen. Ein ruhiges Wohnviertel, keine Durchgangsstraße. Kunstsammler verstecken ihre schönsten Stücke nicht in einem Safe. Nur hässliche Dinge wie Bargeld oder Wertpapiere verbannt man in ein finsteres Verließ.
Beim Gang durch das Wohnzimmer, den Salon und das Arbeitszimmer des Verstorbenen war ihr ein Sparschwein aufgefallen, das auf dem Schreibtisch stand. Eine Spielerei? Ein Erinnerungsstück? Sie drehte es um und öffnete den Verschluss am Boden. Es waren etwa hundert Krügerrandmünzen, die ihr entgegenklimperten. Etwa hunderttausend Euro in Gold. Hatte der Bankier das Porzellanschwein etwa für ein raffiniertes Versteck gehalten oder war er im Alter einfach leichtsinnig geworden?
Benedikt Lautenschläger hatte seinen Traum wahrgemacht. Er war Privatdetektiv geworden. Hatte ein schäbiges Büro gemietet und eine Fünf-Watt-Birne in die Fassung geschraubt, die von der Decke baumelte. Hörte die ganze Zeit melancholische Saxaphonsoli. Trug auch im Hochsommer einen zerknitterten Trenchcoat und einen lächerlichen Hut. War chronisch pleite, weil natürlich keine einzige atemberaubende Blondine jemals sein Büro betreten hatte, die in Lebensgefahr war und ihn um Hilfe bitten musste. Der Auftrag des Hehlers kam zum richtigen Zeitpunkt. Und der war bei Lautenschlägers finanziellen Lage jeden Tag.
Er folgte Normas Lieferwagen so auffällig, dass sie es merken musste. Und sie merkte es ziemlich bald. Wer fuhr in Magdeburg schon einen schwarzen Chevrolet? In aller Seelenruhe lenkte sie den Wagen in ein Parkhaus und fuhr hinauf in den letzten Stock. Dann stieg sie aus.
Lautenschläger stieg auch aus. Er war klein und mager, blass und kahl. Aber er hatte eine Pistole in seiner Hand.
„Sie sind Norma.“
„Wer will das wissen?“
Der Privatdetektiv grinste. „Wie die Supermarktkette?“
„Den Spruch höre ich heute zum ersten Mal, Süßer.“
„Kleine Planänderung. Ich übernehme die Bilder.“
Alles klar, dachte Norma. Ihr Tippgeber und Auftraggeber hatte sie verarscht. Ockhams Rasiermesser: Die einfachste Erklärung ist die richtige. Wenn sie überhaupt Geld sehen würde, dann höchstens einen Bruchteil der vereinbarten Summe.
Sie trug die Bilder zum Kofferraum des Chevrolet. Eins nach dem anderen. Am Schluss nahm sie die Statuette in die Hand und ging zu Lautenschläger hinüber, der die Waffe längst gesenkt hatte.
„Das ist das letzte Stück,“ sagte sie.
Und dann warf sie den Giacometti mit einer solchen Wucht gegen den Schädel des kleinen Mannes, dass er bewusstlos zusammenbrach.
Sie stieg in ihren Wagen und fuhr auf die Straße. Ein paar Minuten später hatte sie die 110 gewählt und die Polizei informiert. Das Telefon warf sie wenig später in die Elbe. Den gestohlenen Lieferwagen würde sie am Bahnhof stehenlassen und mit dem nächsten Zug die Stadt verlassen. Egal wohin.
In ihrer Jackentasche klimperten die Goldstücke. Pippi Langstrumpfs Schatztruhe.
Depeche Mode - Told You So. https://www.youtube.com/watch?v=U4Bj6hhwWYA

Mittwoch, 27. April 2016

Dieser Mann wollte einfach nur zelten – was dann passiert, verschlägt einem den Atem!

„Eine Gesellschaft von Schafen muss mit der Zeit eine Regierung von Wölfen hervorbringen.“ (Juvenal)
Politiker neigen bisweilen zu bizarren Aktionen. Rudolf Heß flog mitten im Zweiten Weltkrieg nach England. Und Norbert Blüm verbrachte eine ganze Nacht im griechischen Flüchtlingscamp Idomeni. Ein Ex-Rentenminister in Jeans, ausgerüstet mit Batschkapp und Bierbauch. Leider verrät uns die Presse zu wenig über den Katastrophentouristen mit Pensionsberechtigung. Kam er mit dem Privatjet? Hatte er Fertiggerichte nebst Propangaskocher und ein Sechserpack Henninger dabei? Musste er den Syrern Autogramme geben? War das eine Bewerbung für das RTL-Dschungelcamp? Wer hat sein Zelt aus der Globetrotter-Einkaufstüte geholt und aufgebaut? Wette verloren? War ihm langweilig? Oder ist er einfach nur Stefan Raab zuvorgekommen?
Wozu haben wir unsere Prominenten? Um von ihnen Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu bekommen. Franz Beckenbauer zum Thema Zukunft der künstlichen Intelligenz: „Sokrates, Aristoteles, Platon und diese Leute haben sich vor zweitausend Jahren Gedanken gemacht, da sind wir noch auf den Bäumen gesessen und haben uns vor den Wildschweinen gefürchtet. Seither haben sich nur ganz wenige weiterentwickelt.“ Was sagt Helene Fischer zur Altersarmut? „Ich weiß gar nicht, warum da immer so große Schlagzeilen mit gemacht werden.“ Was sagt Sigmar Gabriel zum Oktoberfest? „Wenn wir jeden, der bei uns mal Blödsinn erzählt oder uns Probleme macht, ausschließen, dann wird's auf die Dauer einsam.“ Alle Zitate sind natürlich komplett aus dem Zusammenhang gerissen. Na und? Alte Journalistenregel: „Den Anfang eurer Rede haben wir vergessen und das Letzte nicht verstanden“ (Herodot).
Die „Elite“, die uns in den Medien präsentiert wird, ist Teil der ubiquitären Desinformationskampagne. Dieter Bohlen, die Geissens, Boris Becker und Andrea Nahles gehören zur öffentlichen Präsenzelite. Die eigentliche Elite findet man weder in den News noch bei Wikipedia, weder im Bundestag noch bei ominösen „Konferenzen“. Die Namen, so man sie denn kennt, sucht man vergeblich. Ein Beispiel: Ich saß vor einigen Monaten mit einem älteren Herrn in einer Runde bei Kaffee und Kuchen. Und er sagte tatsächlich: „Ich habe sieben bis acht Milliarden Euro Spielgeld.“ Es ist wirklich wahr, er benutzte das Wort „Spielgeld“. Wenig später erfuhr ich aus der Wirtschaftspresse, wie er einen Teil seines Geldes angelegt hat. Den Namen dieses Mannes oder gar Bilder von ihm werden Sie im Internet nicht finden.
Wir leben in einer Fünf-Klassen-Gesellschaft: Ganz oben die unverschämt Reichen; dann kommen die Chefs, die Direktoren, die Manager; danach das mittlere Management, die Handwerkermeister, die Abteilungsleiter; und darunter das namenlose Heer der Arbeitnehmer, der Befehlsempfänger; ganz am Ende kommen die Überflüssigen, die Hartz IV-Empfänger, die Behinderten und Asylanten. So ist die deutsche Wirtschaft aufgebaut. In welchem Stockwerk der Pyramide leben Sie?
The Adicts - Viva La Revolution. https://www.youtube.com/watch?v=vvWEKhGU6X4&nohtml5=False

Dienstag, 26. April 2016

Tanzgott

„Wenn man Andy Bonetti persönlich kennt, denkt man unwillkürlich: Da gibt es keine Steigerung mehr. Und trotzdem wird dieser Mann von Jahr zu Jahr immer besser.“ (Heinz Pralinski)
Während ich auf die Tanzfläche gehe, ziehe ich meine schwarze Lederjacke aus, lasse sie am Zeigefinger ein paar Mal um den Kopf kreisen und dann in irgendeine Ecke fliegen. Mit einem dreifachen Flickflack nähere ich mich der schönsten Frau in der Disco. Ich sehe ihr tief in die Augen, zeige mit beiden Zeigefingern auf sie und halte dabei lächelnd den Kopf etwas schräg (wie im Film). Dann lasse ich das Hüftgold kreisen, bis die ersten Mädels ohnmächtig werden. Ich tanze wie ein Gott. Regelmäßig werde ich mit John Travolta verglichen. Moonwalk? Habe ich praktisch erfunden. Sixstep und Babyfreeze (Luschen sollten diese Begriffe nachschlagen) sind meine Vornamen. Ich gelte bei sämtlichen Gummistiefeldiscos im Hunsrück als der unsterbliche Elvis. Sie wollen Unterricht bei mir? Keine Chance. Ich bin bis 2030 ausgebucht – weil ich so geil bin. Sie wollen ein Kind von mir? Kein Problem, ich will welche loswerden.

Rede an die Rhabarbermafia

Ich habe Euch lange genug zugehört. Darum sage ich nun: Redet nicht, sondern kocht. Der Kampf zwischen Veganern und Karnivoren wird nicht über den Kopf entschieden. Es ist uns allen klar, wie schrecklich die Tierhaltung, die Schlachthäuser und der Fleischkonsum sind. Er wird über den Bauch entschieden. Und der Bauch denkt nicht, er redet nicht – aber er ist sehr mächtig. Er trifft letzten Endes die Entscheidungen. Also überzeugt ihn und nicht den Kopf. Vegane Gerichte müssen einfach besser schmecken als Fleischgerichte. Lernen kann man dabei von der indischen und der chinesischen Küche.
Menschen wie ich wollen nicht wie eine Mischung aus Zeugen Jehovas und Marathonläufer leben. Ich will einen Schoppen trinken, ohne vorher die Genehmigung meiner Krankenkasse einzuholen. Und wenn ich darum nur siebzig werde und nicht achtzig, ist mir das auch egal, weil ich wenigstens jeden Tag das gemacht habe, wonach mir gerade war. Also appelliert nicht an meinen Verstand, sondern an meine Lust. Hört auf zu reden, fangt an zu kochen! Und zwar jetzt gleich, denn ich habe Hunger.
Grüße an das Möhrenmilieu
Lothar Zeisig
Hans Söllner - Hey Neger. https://www.youtube.com/watch?v=oPRPP9Pumxk

Blogstuff 38

„Da ich noch ein stilles Kind war und von dem allem, was uns umgibt, nichts wusste, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all den Mühen des Herzens und all dem Sinnen und Ringen? Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist. Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön. Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein. In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichtum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.“ (Hölderlin: Hyperion)
Unser Wissen beschränkt sich auf die Menschenwelt, auf unsere Maschinen und Rituale. Über das Leben außerhalb der Menschenwelt haben wir bislang nur eine Ansammlung vager und egozentrischer Hypothesen entwickelt.
Mit der 1995 gegründeten Zeitschrift „Das geflügelte Wort“, dem anerkannten Organ des literarischen Ästhetizismus, tritt Andy Bonetti endgültig aus dem Dunkel der hessischen Kulturferne und begründet seinen Ruhm als Großschriftsteller, der die Zeichen seiner Zeit nicht nur erkennt, sondern auch souverän zu setzen weiß.
Große Koalitionen bieten den Vorteil politischer Stabilität. Leider ist mit dieser Stabilität im Regelfall politischer Stillstand verbunden. Sämtliche Themen drehen sich im Kreis, sie wandern vom Eingangskorb zur Wiedervorlage und zurück. Die Apotheose der großen Koalition ist die EU-Administration, in der sich 28 Regierungen gegenseitig neutralisieren und blockieren.
Werbung: Lesen Sie jetzt den brandneuen Andy Bonetti! „Der permanente Kampf gegen das prämortale Sinndefizit“. Ab Montag an Ihrem Kiosk!
„Ist das jetzt ironisch gemeint, im Sinne postmoderner Kulturkritik, oder protokollieren Sie damit lediglich Ihren Lebensstil?“ (Johnny Malta beim Besuch eines Kollegen, als er dessen Eiche-rustikal-Wohnzimmerschrankwand und die karamellfarbene Polstersitzgruppe betrachtet)
Kokser darf man nie mitten im Satz unterbrechen. Das haben mir meine Eltern beigebracht.
„Wie mühselig und erschöpfend ist doch die Arbeit des Dichters“, schreibt Bonetti in seinem Tagebuch. „Es ist eine vorwiegend landwirtschaftlich und handwerklich geprägte Tätigkeit. Ich sähe Buchstaben und ernte Wörter, die hernach in der Werkstatt zu ganzen Sätzen verbunden werden müssen. Seite für Seite entsteht, bis am Ende der Woche wieder ein Risco-Tanner-Heft mit sechzig Seiten fertig ist. Und so ringe ich in aller gebotenen Demut und Beharrlichkeit dem kargen hessischen Boden das Lebensnotwendige ab.“
Tiere sterben nicht, sie „verenden“. Was soll das? Sie haben keinen Mund, mit dem sie essen, sondern ein Maul, mit dem sie fressen. Vielleicht sollten wir diese sprachlichen Hierarchien einfach aus unserem Vokabular streichen?
„Der Erfolg ist nicht wichtig, das Verständnis der Leser ist nicht wichtig - es geht darum, aus der Quelle in uns möglichst unverfälscht den puren Stoff der Erzählung zu schöpfen (schon unsere Worte sind natürlich eine Fälschung, eine Konvention, um sich verständlich zu machen – aber das ist der letzte Kompromiss, den wir ertragen müssen). Wenn es zu fließen beginnt, heißt es nur: Herbei mit Schüsseln und Eimern!“ (Heinz Pralinski: Literatur leicht gemacht)
Gourmet-Tipp: Involtini primavera alla cinese.
Florenz, Uffizien. Millionen Menschen trotten jedes Jahr durch das Museum. Wie eine Viehherde werden sie an Michelangelos und Botticellis vorbeigetrieben, ich höre lautes Rufen und Peitschenknallen. Während ich fasziniert die Meute betrachte, dieses Sinnbild menschlicher Albernheit, betrachtest du die Statuen, die Sinnbilder menschlicher Größe.
Unser Lieblingssport: Wir rufen fünf Lieferdienste gleichzeitig an und lassen sie ein Rennen gegeneinander fahren. Das ist internationaler Wettbewerb: ein Italiener, ein Chinese, ein Inder, ein Türke und ein Albaner, der so tut, als sei er Italiener (bei der Bestellung sagt er am Ende immer „Gracias“ – damit verrät er sich). Wer das Essen als Erster bringt, hat für seinen Kunden den Jackpot gewonnen.
Meine Nachbarin ist gestorben. Leukämie. Am ersten Mai wäre sie sechzig Jahre alt geworden. Morgen ist der Gedenkgottesdienst in der katholischen Kirche neben dem Gasthaus. Beide Gebäude in der Mitte des Dorfes stehen leer. Es gibt keine Gottesdienste und keine Tresenrunde mehr in Schweppenhausen. Den Gottesdienst hält ein Pfarrer aus Nigeria, der für unser ganzes Tal zuständig ist. Natürlich gibt es zu diesem Todesfall keinen ARD-Brennpunkt, obwohl ich die Frau besser gekannt habe als Genscher oder Westerwelle.
Erasure - Sometimes (12" Mix). https://www.youtube.com/watch?v=I7I_VOwB26Y

Fränkische Impressionen

„Schlagen Sie einen Pflock in die Erde und ketten Sie einen Menschen daran. Alsbald wird dieser Mensch einen Platz wählen, an dem er sich regelmäßig entleert, und einen Platz, an dem er regelmäßig schläft. So entstand der erste Grundriss.“ (Lupo Laminetti: Über Architektur)
Alt-Ringlein, Bamberg. Wir sitzen mittags bei Bier und Bamberger Würsten, als eine junge Frau schüchtern den Kopf durch die Gasthaustür schiebt und eine der Kellnerinnen nach einem Platz für zehn Gäste fragt. Die Kellnerin nickt und weist auf einen großen Tisch am Fenster. Die junge Frau gibt die Zusage leise nach hinten durch, worauf eine Männerstimme kurz und zackig „Einmarsch“ bellt. Ich zucke zusammen, das Wort „Polen“ schießt mir durch den Kopf. Einen Augenblick später strömen zehn deutsche Rentner, teilweise mit Hut, ins Gasthaus.
Gerüche in Bamberg: der Malzgeruch der Brauereien, dann wieder Bratwurstduft. Im Dom riecht es nach Stein und Weihrauch.
Fassbier ist – aus der Perspektive des einzelnen Trinkers - in räumlicher Hinsicht immobil und in zeitlicher Hinsicht instabil. Man muss es vom Fass trinken und nach dreißig Minuten ist es ungenießbar. Das schützt die kleinen fränkischen Brauereien, die keinen Vertrieb haben, vor dem Abstieg zur Massenware, denn nur wenige Menschen machen sich die Mühe, sie zu besuchen. Wein und Spirituosen kann ich mir im Internet bestellen, es sind hochmobile und praktisch unbegrenzt haltbare Produkte.
Brauerei Dinkel in Stublang. Man geht in einen Hof, in dem vereinzelte Männergruppen mit Bierkrügen stehen. Aus einer Art Waschküche, vielleicht fünf Quadratmeter groß, in der ein Zapfhahn aus der Wand ragt, wird das einzige Bier, ein dunkles Kellerbier, für zwei Euro pro Krug verkauft. Wer sich setzen möchte, wird in einen kargen Saal mit Sitzgarnituren verwiesen. Das Bier ist köstlich, der Braumeister setzt sich zu uns. Wir sprechen über fränkisches Bier. Der Hopfenmogul braut nur dieses eine Bier, von der Brauerei Trunk, nicht weit entfernt, sagt er, sie verzettle sich mit ihren vier Sorten. Sein Bier gäbe es auch nicht im Supermarkt, weil es sich nicht so lange halte wie das Industriebier der großen Brauereien. Wir kommen mit anderen Bierfans ins Gespräch, die sich auf die alteingesessenen Mikrobrauereien spezialisiert haben. Zwischendurch ein kurzer Dialog mit einer alten Frau, die von den Hungertoten der Weltkriegszeit in Bamberg erzählt.
Bizarr sind immer wieder die Züge der Wallfahrer, angeführt von einem Kreuzträger, begleitet von Musikanten, die zur Vierzehnheiligenkirche laufen, wo doch einzig das Kellerbier der dortigen Brauerei Trunk verehrungswürdig ist. Der Mount Everest des Biers.
Man kommt sich in der fränkischen Provinz vor wie ein Entdeckungsreisender in Polynesien. Ich bestelle in einem Gasthaus eine Waffel mit heißen Kirschen und Sahne zum Nachtisch und bekomme ein pizzagroßes Gerät mit etwa dreißig Kirschen, Apfel- und Melonenscheiben, das anderswo als Hauptmahlzeit durchgehen würde. Für zweiachtzig!! Fast schäme ich mich. Als hätte ich Glasperlen gegen Gold getauscht.
Empfehlung: Zwischen Dingelshausen und Schlappenbach ist der Landgasthof „Zur fetten Henne“. Jeden Mittwoch gibt es saure Lunge und Herz aus eigener Schlachtung.
Ein April wie im Bilderbuch. Freitags sitzen wir noch im T-Shirt im Forchheimer Kellerwald beim Bier, auf der Rückfahrt am Sonntag fällt das Thermometer in zehn Minuten von zehn auf null Grad und wir geraten in dichtes Schneetreiben. Sonnenbrille, Regenschirm und Schlittschuhe, Shorts und Schal – man hätte alles in den Rucksack packen können. Vier Jahreszeiten in drei Tagen.
The Four Seasons – Dawn. https://www.youtube.com/watch?v=DPQ_jBwlbB8&nohtml5=False

Donnerstag, 21. April 2016

Zehn unglaubliche Berufe, die Sie noch nicht kennen – Nummer 3 wird Sie zum Weinen bringen!

„In Hinsicht auf unser Wohl und Wehe kommt es in letzter Instanz darauf an, womit das Bewusstsein erfüllt und beschäftigt sei. Hier wird nun im ganzen jede rein intellektuelle Beschäftigung dem ihrer fähigen Geiste viel mehr leisten, als das wirkliche Leben, mit seinem beständigen Wechsel des Gelingens und Misslingens, nebst seinen Erschütterungen und Plagen. (…) Was (…) die Menschen gesellig macht ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in dieser sich selbst, zu ertragen.“ (Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit)
Es war in meinen jungen Jahren, und ich war gerade dabei, einen großen Roman zu schreiben. Einen von vielen großen Gegenwartsromanen, die ich nie zu Ende gebracht habe. Aber ich fühlte mich großartig. Wenn ich an meiner Schreibmaschine saß, war ich ein Schriftsteller. Und ich wollte immer ein Schriftsteller werden, der mit einer Zigarette im Mundwinkel lässig auf den Tasten einer Olympia herumtippte, die älter war als ich.
Und weil ich unglaublich originell sein wollte, handelte mein Roman von einem jungen Schriftsteller, der in einem Mansardenzimmer mit Blick auf die Seine den großen Gegenwartsroman schreibt. Inzwischen habe ich genügend Lektoren kennengelernt, die mir versichert haben, dass sie spätestens an dieser Stelle die Lektüre eines Manuskripts einstellen. Ich blickte damals nicht auf die Seine, sondern auf einen Hinterhof in Moabit.
Ich schrieb zu dieser Zeit noch ohne Konzept. Es gab weder einen Entwurf für den Handlungsverlauf noch für das Romanpersonal. Ich machte mir eine Flasche Bier auf und begann einfach zu schreiben. Linker Zeigefinger, rechter Zeigefinger – und dann immer so weiter. Bis ich müde oder betrunken war. Oder bis mir nichts mehr einfiel. Es war ein schönes Leben. Die Miete zahlten meine Eltern, die irrtümlicherweise annahmen, ich würde in Berlin Jura studieren.
Eines Morgens las ich im Kleinanzeigenteil des „Tagesspiegels“ jene verhängnisvollen Zeilen: „Autor für Buchprojekt gesucht. Zahle Honorar. Chiffre“. Nun kommen die Begriffe „Autor“ und „Honorar“ in der Zeitung selten gemeinsam in einem Text vor. Ich schrieb also einen Brief, gab mich als versierter Journalist aus und legte das Anfangskapitel meines aktuellen Werks bei. Wenige Tage später erhielt ich als Antwort eine Einladung nach Schmargendorf.
Zwei Stunden später, nach einem kurzen Telefonat, saß ich in der U-Bahn und fuhr zu Dr. Theobald Strumpfbändiger. Sein kleines Haus lag in einer abgelegenen Seitenstraße. An der Tür begrüßte mich ein alter Mann, schmal und gebeugt, mit einer Hornbrille.
„Fabrice-Reinhard Kutscherfreund, sehr angenehm“. So stellte ich mich vor und gab ihm artig die Hand. Bazooka Riley, meinen Künstlernamen, verschwieg ich aus strategischen Gründen.
„Kommen Sie doch herein“, sagte er freundlich und führte mich in ein Wohnzimmer mit einer nussbraunen Sitzgarnitur und holzgetäfelter Decke.
„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ fragte er mich, während ich mich setzte. Ich nickte.
Er kam mit einem Tablett aus der Küche zurück und setzte sich in einen Sessel.
Ich schenkte mir eine Tasse ein und er begann, ohne Umschweife sein Projekt zu umreißen.
„Ich habe vierzig Jahre als Zahnarzt gearbeitet. Da erlebt man so allerhand. Die schönsten Anekdoten möchte ich in Buchform aufschreiben. Und dazu brauche ich einen Schriftsteller. Mir hat Ihr Text sehr gut gefallen.“
Ich hörte ihm aufmerksam zu, denn er kam gleich auf den Punkt.
„Ich zahle Ihnen zwanzig Mark pro Druckseite. Das Werk sollte etwa zweihundert Seiten haben.“
Viertausend Mark. Davon konnte man in Berlin ein ganzes Jahr leben, wenn meine Eltern auch weiterhin die Miete übernahmen. Wenn es auch nur ein Künstlerleben war. Mehr als zehn Mark am Tag. Das reichte für Tabak, Bier und Buletten.
„Sehr interessant. Können Sie mir eine Ihrer Anekdoten erzählen?“ fragte ich freudig erregt.
„Gerne. Da gab es zum Beispiel Gerlinde Meisenkeimer, eine langjährige Patientin. Angstpatientin, muss ich dazu sagen. Sie war schon kurz vor einem Ohnmachtsanfall, wenn sie nur die Spritze sah.“
Und dann erzählte er eine halbe Stunde lang von einer langweiligen alten Schachtel, immer wieder unterbrochen von einem glucksenden Lachen. Er hörte gar nicht mehr auf. Ständig ging es um schadhafte Gebisse und Schmerzen. Unwillkürlich fuhr ich mir die ganze Zeit mit der Zungenspitze über meine Zähne. Ein endloser Nachmittag voller sterbenslangweiliger Geschichten. Ich wollte nur noch weg. Wie konnte ich mich unauffällig verdrücken? Die ganze Situation war ein Alptraum.
Ein halbes Jahr später fing ich als Verkäufer in einem Sportgeschäft an.
Beck Bogart & Appice – Superstition. https://www.youtube.com/watch?v=uuq0_TpQtP4

Mittwoch, 20. April 2016

Zwischenbemerkung mit Goatcontent

Diese verdammte Böhmermann-Debatte! Ich habe gerade eine Pizza mit Ziegenkäse gegessen und musste an Erdogan denken.

Blogstuff 37

„Um zu erfahren, wer über euch herrscht, braucht ihr nur herauszufinden, wen ihr nicht kritisieren dürft.“ (Voltaire)
„Ich bin zu gut für diese Welt“. Wer hätte nicht schon einmal – oder tausendmal – diesen Gedanken gehabt? Wir sind alle viel zu gut. Wir bemühen uns ständig um unsere Arbeit, unsere Familie, unsere Mitmenschen, die Umwelt usw. Und trotzdem ist nur diese Welt dabei herausgekommen, die wir beim Blick aus dem Fenster oder in den Nachrichten sehen. Komisch, oder?
Komisch ist es auch, wenn man als Sohn eines Architekten zur Welt kommt. Ich erinnere mich, dass ich vor etwa zwanzig Jahren meinem Vater und seiner Frau meine Wohnung in Berlin für eine Woche zur Verfügung gestellt habe. Als ich zurückkam, fand ich zu meinem Erstaunen eine nagelneue Kommode im Flur vor, über der ein Spiegel hing, den ich nie zuvor gesehen hatte. Das Bücherregal neben der Eingangstür war mit einem Vorhang versehen und im Badezimmer gab es plötzlich einen Handtuchhalter über der Badewanne. Er konnte es einfach nicht lassen. Ich komme von einer Reise zurück und finde neue Möbel in meiner Wohnung! Er hat es sicher nur gut gemeint. Und vielleicht bin ich ja auch ein Glückspilz? Schließlich hätte ich auch als Sohn eines Pyromanen zur Welt kommen können.
Der Mann, von dem die Frauen träumen: Eine starke Schulter, die sie auch zum Lachen bringen kann.
Vergessene Ausdrücke aus den achtziger Jahre, Teil 43: Schweißgeruch nannte man in meiner Jugend noch „Achselherbert“.
Die fast verblühten Gesichter der Vorstadtschönheiten im Kaffeehaus. Je länger und genauer ich sie betrachte, desto älter und verlassener wirken sie.
Ein Bleistift genügt, um einem stummen Blatt Papier das Sprechen beizubringen.
Zeichner gesucht! Bonetti Media sucht für seinen neuen deutsch-türkischen Comicstrip „Kümmel & Kartoffel“ einen versierten Illustrator mit Humor.
Werbung: Lesen Sie das bahnbrechende Meisterwerk der modernen Kosmologie: „Wer erschuf Gott?“ Von Andy Bonetti. Sie werden alle Antworten auf die großen Menschheitsfragen finden. Für nur 9,99 €! Zusammen mit „Auch ein Sherriff muss mal schmunzeln – Heitere Begebenheiten aus dem Wilden Westen“ für nur 14,99 € im Paket.
Hätten Sie’s gewusst? Johnny Malta war in seiner Jugend das Stunt-Double von Chuck Norris, der Höhenangst und eine Faustallergie hatte.
Fun Fact: Dalara Rudergast war 1927 die erste ungarische Outdoor-Scrabble-Meisterin.
Gerücht: Tom Cruise soll im Hollywood-Film „Ein Taliban zum Knutschen“, der im nächsten Jahr in die Kinos kommen wird, die Hauptrolle spielen.
Kennen Sie das Elf-Uhr-Bier? Nicht dass man ein Elf-Uhr-Bier wirklich brauchen würde – aber es ist schön, wenn es im Kühlschrank steht. Diese wichtige Info geht noch heute raus, und zwar weltweit!
Tipp: Verlassen Sie das Haus nicht mit starkem Harndrang.
Neues aus der Genderei: Neben dem Dilettanten gibt es jetzt auch die Dilettesse. Die Delikatesse wird aber nicht durch den Delikatant ergänzt.
Die Anrede „Eure Wurstmajestät“ wird bei Bonetti Enterprises in der Regel mit einer schriftlichen Abmahnung oder Schlägen auf den blanken Hintern entlohnt.
Hätten Sie’s gewusst? Der transatlantische Expressunterseebootdienst wurde erst 1972 beendet.
Heinz Pralinski wird oft gefragt, wie er das Abitur geschafft hat. Seine Antwort: „Meine Klassenlehrerin hat meinem Vater in der Sprechstunde mal verraten, dass sie Angst vor mir hat. Ich war zwei Köpfe größer als beide und hatte einen Dreißig-Tage-Bart, ich trug eine zerrissene Lederjacke und Sicherheitsnadeln im Gesicht, ich hatte ständig einen qualmenden Zigarrenstummel im Mundwinkel und ernährte mich von Brennspiritus mit Cola – und so bin ich jeden Morgen in der fünften Klasse aufgewacht. Ich habe nicht meine Mitschüler verprügelt, sondern die Lehrer. Später dann die Bodyguards der Lehrer. Noch später die Anwälte der Bodyguards.“
Berlin-Tipp: „Hopfen & Malz“ in der Triftstraße 57 im Wedding. Hier gibt es in einem winzigen Laden fränkische Bierspezialitäten mit sehr freundlicher Beratung.
Fischer Z - Headlines. https://www.youtube.com/watch?v=r3RRmDS_hc8

Dienstag, 19. April 2016

Populismus

Die Ursachen für den Siegeszug des Populismus in den USA und der EU, vor allem des Rechtspopulismus, sind banal: Die Globalisierung produziert millionenfach Biographien von Menschen, die durch die Erfahrung ihres Abstiegs verbittert sind oder die ihre Angst vor dem Abstieg wütend macht – vor allem, wenn sich diese Erfahrungen in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, in der Region oder unter den Kollegen ständig wiederholen.
Die Beschwichtigungsversuche von Politik und Medien sind kontraproduktiv, sie relativieren den Abstieg mit dem Verweis auf die allgemeine Versorgungslage, die doch erfreulich sei. Genug Dosenbier und Kartoffelchips für alle! Wenn deine Fußballmannschaft von der ersten in die zweite Bundesliga absteigt, hilft es dir auch nicht, wenn dir ein vermeintlicher Freund erklärt, du wärst mit deinem Team ja immer noch im bezahlten Fußball, und es gäbe ja auch noch die Amateure aus der Kreisliga.
Niemand vergleicht sich mit Menschen in Somalia – und der Zorn über den persönlichen Abstieg macht viele Bürger blind. Darum wird jede Wahl und jede Abstimmung zum Fanal, zur Abrechnung mit der politischen Elite. Die eigentlichen Herrscher und Auftraggeber der Parteien und Medien reagieren derzeit überrascht und verwirrt. Sollten sie wirklich ihre Fähigkeit zur Steuerung des Konsumviehs und „Urnenpöbels“ (Georg Schramm) verloren haben?
Tears for Fears – Mad World. https://www.youtube.com/watch?v=SFsHSHE-iJQ

Moby Dick

„Das teuflische Geschick, das wir bei der Erfindung der verschiedensten todbringenden Maschinen entwickeln, die Rachgier, mit der wir unsere Kriege führen, und das Elend und die Verzweiflung, die sie mit sich bringen, sind ausreichende Beweise, um den zivilisierten Weißen als das wildeste Tier auf dem Erdboden zu kennzeichnen.“ (Herman Melville: Taipi)
Ismael ist der Erzähler und mit ihm bewegen wir uns von der ersten Zeile an in diesen Roman, der wie ein klassischer Abenteuerroman beginnt. Ismael, der ausgestoßene Sohn Abrahams und Stammvater aller Araber. Aber sobald wir an Bord des Schiffes sind, verlässt uns die Figur des Erzählers und taucht auf den nächsten achthundert Seiten nur noch sporadisch auf.
Auf See, in einem Boot oder auf einem Schiff, zählen die Herkunft und die Verdienste, die du an Land haben magst, nichts mehr. Selbst auf einem kleinen Segelboot kann das Kind, das die Ruderpinne hält, allen anderen Menschen – sei es ein Bankdirektor oder ein Pfarrer – Befehle geben. Auf hoher See ist die menschliche Gesellschaft, sei es die Justiz, seien es die Medien, weit entfernt. Auf einem Walfänger, der oft jahrelang keine Häfen anläuft und die gesamte Erde umkreist, gelten eigene Gesetze - und nur der Kapitän darf sie auslegen.
Die Mannschaft, deren Teil wir in diesem Roman werden, setzt sich aus vielen Völkern und Kulturen zusammen. Es ist die ganze Menschheit, die hier unterwegs ist – oder die junge Nation namens USA, pars pro toto. Das Meer ist die Welt. Wir kennen nur ihre Oberfläche, unter den Wellen verbergen sich tausend Tode und tausend Wunder. Kapitän Ahab kämpft um die Erkenntnis, er will hinter die Maske der Welt schauen. Er will die Natur, die er als Feind kennengelernt hat, in Gestalt des weißen Wals besiegen.
Seine Mannschaft folgt ihm, so wie die Massen zu allen Zeiten ihren wortgewaltigen Führern gefolgt sind. Einmal um die ganze Welt. Nicht als Entdecker, sondern um Profit mit dem kostbaren Waltran zu machen. Mit diesem Öl wurden Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als Melville seinen Roman schrieb, die Häuser der Menschen erleuchtet, bevor Petroleum (Erdöl) und Elektrizität uns das Licht brachten.
Es sind nicht nur die Worte des Kapitäns, die sie überzeugen. Eine Golddublone für den ersten Seemann, der Moby Dick sichtet. Ahab nagelt die Münze an den Mast, jeder kann sie sehen. Jedes Besatzungsmitglied bekommt auf dieser Fahrt einen vorab festgelegten Anteil des Profits; es gibt keine Löhne, sondern Unternehmensanteile. Und außerdem ist es eine Ehre, gegen den Teufel persönlich zu kämpfen. Den einfachen Männern reichen kleine Ziele. Am Ende reißt die Gier nach Reichtum und Ehre sie alle in die Tiefe.
Nur Ismael wird gerettet. Geklammert an einen Sarg ist er der einzige Überlebende. Die Geschichte hat kein Happy End. Ismael beginnt wieder von vorne. Alles ist ein ewiger Kreislauf. Wir fahren so lange auf der See der Erkenntnis, bis wir tot sind. Ob wir klüger geworden sind, lässt Melville offen.
Die Entstehungsgeschichte dieses gewaltigen Werks und die Lebensgeschichte seines Autors sind ein einziges Elend. Wir schätzen unsere großen Köpfe nicht. Wir betten in jeder Epoche unserer Geschichte die Vollidioten in Samt und Seide. Hirnlose Bonzen sabbern auf ihr Kaviarschnittchen und grabschen traumblöde nach der Schönheit der Welt. Aber den klügsten Menschen in unserer Mitte bringen wir zu ihren Lebzeiten nur Verachtung entgegen.
Melville jagte den Erfolg als Schriftsteller so vergeblich wie Ahab seinen Wal. Die Gesellschaft hat ihn besiegt, erst nach seinem Tod wurde sein großartiger Roman endlich gewürdigt. Wir sind der Leviathan, wir sind Moby Dick.
Nick Drake - Cello Song. https://www.youtube.com/watch?v=h4y8WGOJu_c

Montag, 18. April 2016

Der Verlust

„Ihr seid mit Zahlen bewachsen, ihr wimmelt von Zahlen wie von Läusen. Man muss alles von euch herunterreißen und euch nackt in die Wälder jagen.“ (Jewgenij Samjatin: Wir)
Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr. Der neue Wet-Look passte wirklich ausgezeichnet zu ihrem hellblauen Kaschmirpullover. Ein kristallklares Bild, der handgeschliffene Spiegel war jeden Cent der dreitausend Dollar wert, die sie für ihn bezahlt hatte.
Sie drehte sich um und folgte dem Architekten, der von der Wärme der Steingutfliesen und der apricotfarbenen Wände schwärmte, durch den Flur.
„Und das ist Ihre Küche. Kochinsel aus Eichenholz, die neuesten Geräte und komplett ausgestattet.“
Er öffnete einen Schrank und zeigte ihr die glänzenden neuen Töpfe und Pfannen.
„Denken Sie nur mal daran, wie es hier noch vor zwei Monaten ausgesehen hat. Der dreckverkrustete Herd, der Gestank, das Ungeziefer.“
Sie war im ersten Moment entsetzt gewesen. Die ganze Wohnung hatte einen verwahrlosten Eindruck gemacht, das Mobiliar war eine Ansammlung von Sperrmüll. Aber Mister Jones hatte die Dinge für sie geregelt. Hatte die Haustür ausgehängt und den nasskalten Winter in Vancouver seine Arbeit machen lassen. Hatte regelmäßig Strom und Wasser abgestellt und den Bewohnern ihre Kündigungen zustellen lassen. Persönlich von zwei sportlich aussehenden Mitarbeitern. Mehrfach.
Der alte Mann war schließlich ausgezogen. Alkoholiker. Hoffnungsloser Fall. Er hatte keine neue Wohnung gefunden und lebte inzwischen in einem Obdachlosenasyl.
„Und hier machen wir den Durchbruch. In der Nachbarwohnung nehmen wir alle nichttragenden Wände heraus. Das wird ein riesiges Wohnzimmer. Von dort wird eine Wendeltreppe in den ersten Stock führen.“
Hier hatte eine alleinerziehende Mutter gewohnt. Das Sozialamt hatte ihr und den zwei Kindern eine neue Bleibe in einem Hochhaus am Stadtrand vermittelt.
„Welche Idee haben Sie für das Badezimmer?“ fragte sie den untersetzten Endvierziger mit dem Pferdeschwanz. Seine himbeerfarbene Trinkernase erinnerte sie an die Farbe des Merlot, den er so gerne trank.
„Aus einer der oberen Wohnungen machen wir einen kompletten Spa-Bereich mit Whirlpool und Sauna. Aus der anderen Wohnung ein Schlaf- und ein Ankleidezimmer.“
„Ist denn genug Platz für alles vorhanden?“
Sie sah ihn misstrauisch an, und in diesem Augenblick hatte er den Eindruck, als habe sich eine lebenslange Kränkung tief in ihre Gesichtszüge eingegraben.
„Keine Sorge. Wir werden das Treppenhaus miteinbeziehen. Das brauchen wir ja nicht mehr, wenn wir aus vier Wohnungen eine einzige machen. Dann kommen wir auf über zweihundert Quadratmeter Wohnfläche.“
Sie schaute aus dem Fenster. Die Sonne schien durch die Baumkronen und warf ein Schattenmuster auf den Rasen, mit dem der Wind spielte. In der Ferne sah man das Meer.
„Wie geht es im Garten voran?“
Auf der Stirn des Architekten bildeten sich wellenförmige Sorgenfalten.
„Wir haben beim Ausschachten für den Pool Menschenknochen gefunden. Keine Sorge. Hier wurde kein Verbrechen begangen. Die Knochen sind uralt. Offenbar war hier ein Indianerfriedhof. Leider haben es die Nachkommen des Stammes irgendwie mitbekommen.“
„Wir konnte das passieren?“ Sie war entsetzt. Das klang nach Ärger.
„Das wissen wir auch nicht. Es war auf keiner Karte verzeichnet. Sie wollen uns verklagen.“ Er schwitzte wie ein übriggebliebenes Käsebrötchen in einer Mensa-Vitrine.
„Haben Sie schon mit meinem Rechtsanwalt gesprochen?“ Sie hatte vor acht Jahren zum letzten Mal gelacht und sich dabei einen Gesichtsmuskel gezerrt.
„Ja, Mister Jones hat ihn gleich angerufen. Er meinte, es liefe auf einen Vergleich heraus.“
Das würde teuer werden. Geld, Geld, Geld, dachte sie verbittert. Alle wollen immer nur mein Geld. Geht es denn um nichts anderes mehr auf der Welt?
Chuck Berry - No particular place to go. https://www.youtube.com/watch?v=cpitvLeNjuE

Sonntag, 17. April 2016

Auch ein Jesus hat’s nicht immer leicht

Er kam nach Hause und hängte die Dornenkrone an die Garderobe. „Was gibt’s zu essen?“ fragte er seine dicke Frau, aber sie antwortete nicht. Die Kinder hingen vor dem Fernseher. Scheiß Auferstehung, dachte er.

Warum Johnny Malta keine Kinder hat

„Ils sont dans le vrai“, sagte der Einzelgänger Gustave Flaubert beim Anblick einer Mutter im Kreis ihrer Kinder.
1. Johnny Malta stammt aus zerrütteten Familienverhältnissen. Er war froh, als er seine Kindheit endlich hinter sich hatte, und beschloss daher früh, selbst keine Familie zu gründen.
2. Johnny Malta wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte. Schriftsteller brauchen Ruhe. Kinder und Frauen sind der Gegensatz von Ruhe. Viele Schriftsteller kämpfen ihr Leben lang um die Ruhe, die sie zum Schreiben brauchen. Äußerliche und innerliche Ruhe. Welche Erzählungen wären uns von Dr. Franz Kafka-Bauer überliefert worden?
3. Wenn man Frau und Kinder hat, ist man gedanklich immer von ihnen abgelenkt. Selbst wenn sie nicht da sind. Wie geht es ihnen? Was machen sie gerade?
4. Kinder muss man ernähren können. Dazu braucht man einen sicheren Job. Den hatte Johnny Malta nie. Und er hätte es nicht ertragen, seinen Kindern etwas vorzuenthalten, nur weil er nicht das Geld gehabt hätte.
5. Johnny Malta hat nie die richtige Frau getroffen, um eine Familie zu gründen. Keine Frau wollte ein Kind von mir (und an diesem „mir“ dürfen sich Generationen von Germanisten abarbeiten).
6. Er hätte es nicht ertragen, wenn sein Kind vor ihm gestorben wäre. Am Tage der Beerdigung wäre er zusammengebrochen. Das Ende seines Kindes wäre auch sein Ende gewesen. Er hätte es weder physisch noch psychisch überleben können.
7. Im Falle einer Trennung von der Mutter hätte er sein Kind vielleicht nie wieder gesehen. Daran wäre er ebenso zerbrochen wie am Tod des Kindes. Und es hätte ihm das Schreiben unmöglich gemacht.
8. Er wuchs in einer Zeit auf, in der man wegen des bevorstehenden Atomkriegs und der Umweltzerstörung nicht damit gerechnet hat, seine Kinder aufwachsen zu sehen.
9. Eine Familie hätte ihn erpressbar gemacht. Ohne Familie kann dir kein Krimineller etwas wegnehmen. Es gibt keinen geliebten Menschen, den jemand entführen kann, um Johnny Malta zu erpressen.
10. Was von ihm bleiben soll, sind seine Werke, nicht seine Gene. Wenn Johnny morgens in den Badezimmerspiegel schaut, sieht er nichts, was man über weitere Generationen erhalten müsste.
11. Der letzte und wichtigste Grund: Beruf und Familie sind für ihn Synonyme der Unfreiheit. Auf diese Weise schmiedet sich der Mensch unwiderruflich an einen Felsen. Und wie viele Männer halten das nicht aus und flüchten für alle Zeiten aus der Knechtschaft? Lassen ihre Familie sitzen und fangen an einem anderen Ort neu an? Alleinsein bedeutet, unabhängig zu sein. Bedeutet, frei zu sein. Und ist nicht die Freiheit – auch wenn die Einsamkeit oft genug an den Gedärmen nagt – das höchste Gut des Menschen? Und Freiheit ist wiederum die Grundlage des Schreibens. Die Ergebnisse unfreien Schreibens lesen wir jeden Tag in der Presse.
Grauzone – Eisbär. https://www.youtube.com/watch?v=HhtxqvAlIpo

Freitag, 15. April 2016

Der Kellner

„Langsam, sachte existieren, wie diese Bäume, wie eine Pfütze, wie die rote Sitzbank in der Straßenbahn.“ (Jean-Paul Sartre: Der Ekel)
Es ist schön, wenn man sich auf etwas verlassen kann. Und damit meine ich nicht nur die Zapfanlagen und Kaffeemaschinen. Ich spreche von den Regelmäßigkeiten des Tages, von allem Wiederkehrenden, das mich beruhigt, von den Menschen, die sich so langsam verändern wie die Bäume, deren Wachstum wir ab einem gewissen Alter nicht mehr bemerken.
Nehmen wir zum Beispiel Reisinger und Saalwächter. Sie kommen jeden Nachmittag zwischen drei und vier Uhr. Sie setzen sich an einen Tisch am Fenster und trinken zwei oder drei Bier. Sie trinken nie etwas anderes. Es ist ein uraltes Ritual. „Wie immer?“ frage ich die beiden Rentner. „Wie immer“, antwortet einer von ihnen und manchmal sagen sie es im Chor und lächeln dann triumphierend, als hätten sie gerade ein Kunststück zur Aufführung gebracht. Wenn ich hinter dem Tresen zu tun habe, schaue ich sie einfach an, und sie nicken lächelnd. Eine eingespielte Mannschaft.
Ich habe hier so viele Menschen kommen und gehen sehen und doch ist alles immer gleich geblieben. Früher tranken die jungen Leute schwarzen Kaffee, heute trinken sie Latte Macchiato. Vor dreißig Jahren schwiegen sich die Schüler der Oberstufe beim Schachspiel an, heute schauen sie stumm auf die winzigen Bildschirme ihrer Smartphones. Unser Gasthaus ist nur wenige Schritte vom Ingelheimer Bahnhof entfernt. Ab fünf Uhr kommen die Berufspendler zu uns herein. Die verheirateten Angestellten trinken nur schnell ein Bier und gehen anschließend nach Hause. Die Junggesellen trinken zwei oder drei Bier, die älteren Junggesellen bleiben oft bis in die Nacht. Sie haben keinen Grund, nach Hause zu gehen. Später am Abend kommen dann die Trinker, die zu jedem Bier oder zu jedem Glas Weinschorle noch einen Schnaps bestellen.
Ärger hatten wir fast nie. Die Trinker kennen sich untereinander und in einer kleinen Stadt wie Ingelheim kann man sich Hausverbote wegen Schlägereien oder Zechprellerei nicht leisten. Es gibt zu wenige Gaststätten, es fehlen ihnen schlicht die Ausweichmöglichkeiten. Früher gab es höchstens einmal eine Schlägerei, wenn die amerikanischen Soldaten einmal im Monat ihren Sold ausbezahlt bekommen haben. Dann hat der Wirt die Polizeistation angerufen und die Polizei die amerikanische MP. Das waren furchterregende Typen, die kein Wort gesprochen haben. Die Militärpolizisten haben sämtliche GIs aus dem Lokal geprügelt und auf Lastwagen verfrachtet, die zurück zur Kaserne in Wackernheim fuhren.
Selbst im Krieg war es in unserem Gasthaus immer gleich. Die alten Stammgäste blieben, die jungen Leute mussten zur Front. Ein paar Mal sind Bomber über Ingelheim geflogen, aber weder die Briten noch die Amerikaner haben jemals eine einzige Bombe auf diese Kleinstadt abgeworfen. Selbst als Mainz 1945 vollständig in Trümmern lag, gingen hier die Geschäfte weiter. Als die Amerikaner einrückten, fiel kein einziger Schuss. Sie blieben nur wenige Monate und beschwerten sich, dass wir keinen Whisky führten. Dann kamen die Franzosen für einige Jahre und beschwerten sich, dass es keinen Pernod gab. Aber den konnten wir irgendwann organisieren. Richtig lange blieben nur die Amerikaner, aber auch sie sind inzwischen wieder verschwunden.
Der erste Gast des Tages ist der alte Herr Schweickhart. Ein ehemaliger Studienrat. Er kommt um elf Uhr, wenn wir das Gasthaus öffnen, und liest in aller Ruhe seine FAZ. Er trinkt dazu ein Kännchen Kaffee und falls die Weltlage es erfordert, bestellt er auch einen Cognac. Als in New York die Flugzeuge in die Hochhäuser gestürzt sind, hat er fünf Tage hintereinander Cognac bestellt. Wenn Herr Schweickhart nur Kaffee bestellt, ist die Welt in Ordnung. Dann müssen wir uns alle keine Sorgen machen. Ich bin viel zu alt für Veränderungen. Nächsten Monat werde ich hundert Jahre alt. In der Realität mag es keine hundertjährigen Kellner geben, in der Literatur trifft man sie ständig.
Die Bäckar - Die Zeiten sind vorbei. https://www.youtube.com/watch?v=w1NTQqL14zI

Donnerstag, 14. April 2016

Die Natur erwacht

„Letzthin fragtest Du mich (…) nach meinen Plänen und Aussichten. Ich habe über die Frage gestaunt (…). Ich habe natürlich gar keine Pläne, gar keine Aussichten, (…) in die Zukunft stolpern das kann ich und am besten kann ich liegen bleiben.“ (Franz Kafka: Briefe an Felice)
Über meinen Tisch bewegt sich ein winziges Tier. Der schwarze Punkt ist eigentlich nur zu erkennen, weil er sich bewegt. Für seine Größe hat es eine geradezu irrwitzige Geschwindigkeit. Ich beobachte es und versuche, sein Begehren zu ergründen. Das untergehende Haus Usher hat Kekskrümel und Hautschuppen zu bieten. Beides scheint dem Wesen jedoch gleichgültig, denn es rennt vorüber. Ich spiele Gott und puste in seine Richtung. Es hält an und duckt sich womöglich. Da es mir zweidimensional erscheint, kann ich es nur vermuten. Es wartet einen Augenblick, prüft sorgfältig, ob der Sturm sich gelegt hat, und rennt dann weiter. Es sucht den Schutz des riesigen schwarzen Gebirges, dessen eigentliche Funktion als Notebook ihm verborgen bleiben muss. Hier findet es Schutz und entzieht sich zugleich meinem Blick. Welche Nahrung es wohl sucht? Vielleicht das Wort – oder sogar den Sinn? Ist es ein Literatierchen aus der unlegendären Wortschöpfungshölle eines Schweppenhäuser Schreibmaschinisten? Wir wissen es nicht, denn hier endet die Geschichte.
Roderick Usher

Neulich im Supermarkt

„Sie sind Dichter? Mannometer! (…) Ich habe in der Rotonde einen Dichter kennengelernt. Er ist immer nur im Schlafwagen gereist, hat sich Morphium gespritzt und vom Geld der Frauen gelebt.“ (Raymond Queneau: Die kleinen Geschäfte des Monsieur Brabbant)
Es ist Samstagvormittag und ich bin mit meinem zwölfjährigen Sohn in einem riesigen Supermarkt im Gewerbegebiet unserer Kreisstadt.
Ich trage mein safrangelbes 4XL-Hoodie von Raw Blue und eine Ray Ban, damit jeder sehen kann, dass ich ein Westcoast-Rapper vom linken Rheinufer bin, Landkreis Bad Kreuznach („In the streets of B.K. / People get killed today“).
Mein Sohn trägt ein gebügeltes weißes Hemd, Cordhosen und Seitenscheitel, um mich zu provozieren.
Wir stehen vor dem Whiskyregal und ich nehme gerade eine Flasche Bourbon in die Hand, als mich eine gutaussehende junge Frau anspricht.
„Entschuldigung, kennen Sie sich hier aus?“
„Nein“, antworte ich verlegen. „Der Schnaps ist für meinen Jungen. Er hat ein ernsthaftes Alkoholproblem.“
Und zu meinem Sohn sage ich: „Wenn deine Mutter rauskriegt, dass du säufst, bekommen wir beide gewaltigen Ärger.“
Die Frau lacht und sagt: „Ich suche Aperol, aber ich weiß noch nicht mal, wie die Flasche aussieht.“
„Das Zeug ist rot. Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
Wir gehen den Gang ab, mein Sohn schaut links und ich schaue rechts.
Die Frau folgt uns und sagt: „Das ist doch nicht nötig. Vielen Dank.“
Ich schaue sie an und erwidere: „In der Alkohol-Abteilung trifft man immer die nettesten Leute.“
Dann findet mein Sohn die gewünschte Flasche und zeigt auf sie.
Die Frau stellt die Flasche in den Einkaufswagen, bedankt sich lächelnd und geht.
Wenn ich nur zwanzig Jahre jünger und vierzig Kilo leichter wäre ...
U2 – Gloria. https://www.youtube.com/watch?v=ybYgP48X2DY

Mittwoch, 13. April 2016

Blogstuff 35 - Allerlei poetische Laubsägearbeiten

„Wie viele Menschen schaffen es, ihre Initialen in unsere harte Rinde zu schnitzen?“ (Lupo Laminetti)
Man darf Erdogan – „ein gift’ger Türk in hohem Turban“ (Shakespeare: Othello) - also nicht ungestraft Ziegenficker nennen. Wieder was gelernt. Zum Glück darf man Putin noch mit Hitler vergleichen. Guter Sultan, böser Zar – wie vor hundert Jahren im Ersten Weltkrieg.
Hedonismus ist die neue Religion. Gesundheit, Wohlstand, Glück – die neue Dreifaltigkeit. Wir beten uns selbst an, der Körper ist unser Tempel und die Kontoauszüge sind unser Gebetbuch. Die Sakrilegien: Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit.
Kunst: Wer die Warum-Frage stellt, hat zu lange nachgedacht.
Hätten Sie’s gewusst? Konrad Lieblich erfand bereits 1962 das DVD-Schubfach.
Wir kennen den Urknall als Beginn des Seins, aber wir kennen nicht den Willen, der hinter diesem Ereignis steht. Schöpfung ex nihilo? Wir taumeln wie Eintagsfliegen durch die wenigen Stunden unserer Existenz.
Wenn dich die Verwirklichung eines Wunsches langweilt, bist du alt geworden.
Die USA funktionieren als Kriegspartei wie eine Unternehmensberatung: Sie beenden einen Völkermord erst, wenn er finanziell, militärisch oder politisch keinen return on investment mehr verspricht.
Wir schätzen an unseren Haustieren in erster Linie ihre Sprachlosigkeit.
Es gibt einen kristallklaren Punkt, an dem wir von den „besten Jahren“ ins Greisentum übergehen: Wenn wir uns beim Treppensteigen am Geländer festhalten müssen.
Wenn du gar nichts kannst, braucht dich auch niemand. Dann lassen sie dich in Frieden.
Wie gelingt es den vielen Kalorien eigentlich jeden Tag, unbemerkt in mein Essen zu schlüpfen?
Werbung: Bonetti Unlimited – sauberer und gesunder Spaß für die ganze Familie!
Wie hieß der Vogel, der den Nestbau erfunden hat? Was hat ihn auf die Idee gebracht?
Die nackten Affen in der Sauna.
Warum stehen Politiker eigentlich so gerne vor Fahnen?
Fortschritt: Du hast die Wahl zwischen tausend falschen Heilslehren. Heute gab es im Fernsehen eine Sendung über die „Glücksformel“. Sehr gut! Das spart Zeit: x + y = G. Ich spare mir die Zeit vor dem Fernseher und lese Sartre.
Die Deutsche Gesellschaft für suizidale Selbsterfahrung e.V. (DGSS) stellt in ihrer aktuellen Pressemitteilung zum Selbstmord des Jahres das schwarze Bilsenkraut vor. Es eignet sich auch hervorragend für einen zeitlich gestaffelten erweiterten Selbstmord.
Hätten Sie’s gewusst? Tony Curtis kam 1936 als Antonio Cortez in Laguna Verde, Guatemala, auf die Welt.
Im Fernsehen werden kluge Leute grundsätzlich vor einem Bücherregal interviewt. Andy Bonetti wählt als Hintergrund immer ein Weinregal. Manchmal steht auch ein Teller mit Schweinebraten und Knödeln vor ihm.
Beim nächsten Stromausfall werden wir es alle bitter bereuen, dass wir auf den Gesundheitstrip gegangen sind. Wir werden uns im Dunkeln mühsam in die Küche vortasten. Und wir werden die Küchenschublade finden und öffnen. Tatsächlich! Da sind die Kerzen, die wir für diesen Fall vor Jahren gekauft haben. Dann suchen wir das Feuerzeug. Verdammt, werden wir denken, wo ist das Feuerzeug? Und in diesem Augenblick sehen wir aus dem Fenster und sehen einige schwach erleuchtete Wohnungen auf der anderen Straßenseite. Verfluchte Raucher!
Zum Abschluss möchte Sie Bonetti Endless Enterprises sehr gerne einladen, Ihr Geld gewinnbringend zu investieren. Wir starten in Kürze eine Restaurantkette in den USA, die nach dem Franchisesystem möglichst schnell wachsen soll. Es wird Schnitzel und Bratwurst geben, dazu deutsches Bier. Der Name der Kette: „Heidelberg“. Jeder Amerikaner kennt diese Stadt – der Name ist positiv besetzt. Seien Sie von Anfang an Teil einer Bonetti-Erfolgsgeschichte!
Depeche Mode – See You. https://www.youtube.com/watch?v=C4kVQnZhHmg&nohtml5=False
P.S.: Für jüngere Leser: Die Smartphones im Musikvideo sind Taschenrechner.

Dienstag, 12. April 2016

Spinoza

„Die vollkommene Freiheit ist die Freiheit von Wünschen und Bedürfnissen, von Eitelkeit und Machtstreben.“ (Bodhisattva Laminetti)
Ich halte es in Sachen Ethik mit Spinoza: Allem Lebendigen wohnt der Wille inne, sich selbst zu erhalten und gegenüber seiner Umwelt zu behaupten. Was unserer Selbstbehauptung dient, ist gut. Was ihr nicht dient, ist schlecht. Also sind Gut und Böse immer relative Begriffe, die vom jeweiligen Betrachter abhängen.
Jeder von uns ist das lebendige Grab zahlloser anderer Kreaturen und keiner hat deswegen ein schlechtes Gewissen. Deine Niederlage ist mein Sieg. Ich will Profit, du bist ein Konkurrent. Unsere Soldaten sind Befreier, eure Soldaten sind Terroristen.
Das einzige, das unserem Selbsterhaltungstrieb, unserem von Leidenschaften, Trieben und Instinkten gesteuerten Hedonismus gegenüber steht, ist die Vernunft. Sie lässt uns erkennen, dass beispielsweise dem kurzfristigen Gewinn an Selbstbehauptung durch Diebstahl oder Gewalt ein langfristiger Schaden durch eine Gefängnisstrafe folgen kann. Jeden Abend Suff und Drogen bis zum Pupillenstillstand bedeuten langfristig den Tod. Auch die Vernunft folgt also einzig und allein dem Ziel der Selbstbehauptung – nur mit einem größeren Zeithorizont und einer komplexen Kosten-Nutzen-Rechnung.
Ich denke, Spinoza ist der Wahrheit näher als die dogmatischen Moralisten des deutschen Idealismus, die wir heute noch bei den Grünen, Linken, Veganern, Feministinnen, Kirchentagsbesuchern usw. finden. Sie blenden einfach nur den Teil der Wirklichkeit aus, der nicht zu ihrem Weltbild passt. Ihre Lebensform und ihr Konsumstil basieren in wesentlich höherem Maße auf Ausbeutung und damit auf Gewalt gegen Mensch und Natur als das Leben eines arabischen Islamisten, der in einem Zelt von Wasser und Brot lebt. Aber es ist uns nun einmal nicht gegeben, uns selbst aus der Perspektive eines anderen Menschen zu betrachten.
P.S.: Der jüdische Philosoph Baruch Spinoza, der Jesus von Nazareth für einen klugen Denker, aber nicht für den Sohn Gottes hielt, hat seine Ethik zu Lebzeiten nie veröffentlicht und entging auf diese Weise dem Scheiterhaufen.
P.P.S.: Nennen Sie es Religion, Ideologie, Weltanschauung - das geschlossene Weltbild ist längst zurück: Veganismus, Feminismus, Moralismus, Nationalismus usw. haben die alten Ismen ersetzt. Wenn wir über islamistische oder evangelikale Fanatiker im Orient und den USA lachen, blicken wir in den Spiegel unserer eigenen Verbohrheit. Jeder hält sich für etwas Besseres als andere Menschen, jeder will den Anderen bekehren, Heil spenden und vor der Verdammnis retten. Jeder glaubt, im Recht zu sein um einer höheren Sache willen (Gott, Gleichberechtigung, Tierschutz, Kultur, Volk usw.). Es geht nicht um Argumente, sondern um die Frage: Gehörst du zu uns oder nicht? Und so wird jede Schnitzelkneipe zum Missionsgebiet für den Veganer und jeder gemeinsame Fußballabend einiger Männer zum Sündenfall für die Feministin. Spinoza hätte es nicht gewundert.
Interpol – The New. https://www.youtube.com/watch?v=9c_TBpG1Q2M

Montag, 11. April 2016

Las divertidas aventuras de Angelo Bonetti

Es hat auch einen Vorteil, dass man in Schweppenhausen nichts kaufen kann. Dann kann man auch kein Geld ausgeben. Nicht mal eine Zeitung kann man hier kaufen, kein Brot, keine Wurst, keinen Käse, kein Bier. Fisch oder Schweinebraten gibt’s auch keinen. Autos oder Flugreisen? Nö. Eigentlich gibt es nur zwei Sachen: Wein und Boote. Denn Schweppenhausen beherbergt nicht nur diverse Winzer, sondern auch eine Werft, in der Boote hergestellt werden.
Im Prinzip kann man sich hier also nur hemmungslos betrinken und dann ein Boot kaufen, den Guldenbach bis Lalo (Langenlonsheim) hinunterschippern, in die Nahe einbiegen, die wenige Kilometer weiter in den Rhein mündet. Von dort komme ich dann problemlos bis nach Honolulu, wenn ich will. Und auf hoher See gibt es auch keine Geschäfte und Restaurants. Du kannst nichts kaufen. Du bist auf dich alleine gestellt.
Nennt mich Ismael. Und mein Boot werde ich Pequod nennen. Derzeit lese ich Melvilles „Moby Dick“ – da träumt man gelegentlich von großen Abenteuern …

Die deutsche Sprache – Versuch einer Annäherung

„Scribunt carmina quae legunt cacantes.“ (Sie schreiben ihre Ergüsse für Latrinenleser)
Das Gegenwartsdeutsch („Dauertiefpreise“, „Kompetenzteam“, „Vollkorntoast“) ist schon schwer erträglich, macht es doch zum Beispiel aus den „Alternativen“ meiner Kindheit, friedensbewegten häkelnden Softies, einen Haufen neoliberaler Nationalisten, die gerade zur perfekten Symbiose von Biedermann und Brandstifter mutieren. Aber früher war es nicht besser. Die widerliche Formulierung „Versuch einer Annäherung“ weist bereits den Weg in die grauenhafte Sprachverhunzung der siebziger und achtziger Jahre.
Hier einige Exemplare seltener Dämlichkeit aus der Bonner Republik:
Abenteuerspielplatz: Habe ich schon als Kind nicht begriffen (siehe auch: Erlebnisgastronomie)
Anturnen und Abturnen: Szeneausdrücke, die nichts mit Sport zu tun haben.
Betroffenheit: Wortseuche aus dem rhetorischen Reich der „deutschen Innerlichkeit“.
Center: Irgendwann wurden der Bäcker zum Back-Center und die Pommesbude zum Snack-Center, ohne ihr Angebot zu verändern.
Denkanstoß: Kam von Leuten, die sich für schlau hielten, und lief regelmäßig ins Leere.
Einbringen: Typen, die sich in eine Diskussion einbringen wollten, gingen mir vom ersten Moment an auf den Sack.
Entsorgungspark: Klang besser als Atommüllkippe. Wir warten bis heute.
Erwartungshorizont: Habe ich nie begriffen. Hört sich nach geistigem Sonnenuntergang an.
Freiräume und Freizeit: Sehr schöne Begriffe, da sie auf den Charakter anderer Räume und Zeiten (z.B. Arbeit) unfreiwillig einen wertvollen Hinweis geben.
Ganzheitlich: Klang für mich von Anfang an nach traditionell chinesischer Abzocke.
Handlungsbedarf: Wurde von Politikern meist nur gesehen.
Irgendwie: Das Füllwort meiner Jugend. Wer es wohl erfunden hat?
Knabberfrisch, Kuschelweich, Kaugenuss: Werbedeutsch. Brummt im Kopf.
Kulturbeutel: Offensichtlich ist der Waschzwang Kern deutscher Kultur.
Leistungsträger: Gab es auf dem Fußballplatz und in der Berufswelt, nicht aber in der Familie oder der Kultur.
Liedermacher: Die Genitalwarzen der Musikbranche.
Medienlandschaft: Lag direkt neben dem Entsorgungspark und war mindestens genauso schön.
Motivation: Wurde gebraucht, wenn man den Sinn einer Tätigkeit nicht sofort erkannt hatte.
Paradigma: Durfte erst nach abgeschlossenem Studium verwendet werden.
Postmoderne: Begann unverhofft in meiner Jugend und gilt bis heute als schwerintellektuelle Hirnschwurbeligkeit ohne tiefere Bedeutung.
Sachzwänge: Entdeckten Politiker immer dann, wenn sie keine Lust zu diskutieren hatten.
Schweinesystem: Hier führten wir unser Hundeleben. Kommt womöglich von Orwells „Animal Farm“, wo bekanntlich die Schweine regieren.
Selbstverwirklichung: Endete in der Realität stets dann, wenn man merkte, dass niemand die selbstgetöpferten Kerzenhalter kaufen wollte und keiner in Kalkutta Deutsch verstand.
Sensibel: Bei dem Wort könnte ich heute noch spontan kotzen.
Super: Erst gab es nur Supermärkte und Superstars, aber dann war das Wort nicht mehr zu bremsen – bis „Mega“ kam.
Umwelt: Wurde erst in den siebziger Jahren entdeckt (lange nach Amerika!). Doch, doch. Siehe auch: Umweltbewusstsein (= Groschen gefallen).
Verkehrsberuhigung: Bis heute ein Begriff aus dem Bereich der Utopie.
Zielgruppe: Reklamedeutscher Begriff, der Klasse, Generation oder regionale Bezüge ersetzen sollte.
Martha & The Muffins - Echo Beach. https://www.youtube.com/watch?v=WNy8ePVkPVk

Sonntag, 10. April 2016

Zu schön, um wahr zu sein

Adolf Hitler hatte einen Halbbruder, Alois Hitler. Aber schon als Kinder konnten sich die beiden nicht ausstehen, Hitler erwähnte seinen Halbbruder nie. Im Jahre 1900 – mit achtzehn Jahren – wurde Alois wegen Diebstahls zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. 1902 kam er für weitere acht Monate ins Gefängnis. Drei Jahre später wanderte er nach London aus, heiratete eine Irin, wurde Alkoholiker und verdrosch regelmäßig seine Kleinfamilie.
Sein Sohn, Willy Hitler, versuchte in den Jahren nach 1933, in Deutschland seinen Onkel Adolf Hitler um Geld und andere Vorteile zu erpressen, was jedoch misslang. Der Führer bezeichnete ihn als seinen „widerlichsten Verwandten“. Willy Hitler wanderte in die USA aus und starb 1987 auf Long Island.
1915 kehrte Alois Hitler nach Österreich zurück, 1924 stand er wegen Bigamie in Hamburg vor Gericht. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Sein zweiter Sohn Heinrich Hitler – 1920 geboren - starb im Zweiten Weltkrieg in russischer Kriegsgefangenschaft.
1934 eröffnete Alois Hitler am Wittenbergplatz in Berlin ein Restaurant, das er „Alois“ nannte. Es war ein beliebter Treffpunkt der SA, sein Halbbruder Adolf besuchte es jedoch nie. Beide hatten nach der Machtergreifung Hitlers keinen Kontakt mehr zueinander, dem „Führer“ war die Verwandtschaft offenbar peinlich.
Nach dem Krieg lebte Alois Hitler in Hamburg-Fuhlsbüttel. Auf dem Hauptfriedhof Ohlsdorf wurde er 1956 unter dem Namen „Alois Hiller“ beerdigt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alois_Hitler_junior

Blogstuff 34 – oder nur die mutlosen Kritzeleien eines Minderbegabten?

„Unter all den Myriaden von Dichtern, Rhetorikern, Philosophen und Sophisten der früheren Zeiten hat (…) kaum ein Werk von tausend überlebt; nomina et libri cum corporibus interierunt, ihre Werke und Körper sind miteinander verwest. Es trifft nicht ein, was sie in ihrer Eitelkeit glauben, dass ihnen Bewunderung und Unsterblichkeit gewiss sind.“ (Robert Burton: Die Anatomie der Melancholie)
Hätten Sie’s gewusst? Manche Geschichten von Andy Bonetti sind so nervenaufreibend, dass er beim Schreiben ein Stuntdouble braucht.
Jedes seiner Beine wog so viel wie ein Gymnasiast.
Ist es nicht unfassbar, dass wir diese ganze komplizierte Welt nur dazu erschaffen haben, uns das Leben ein bisschen einfacher zu machen?
Die etablierten Parteien sind einander so ähnlich geworden; sie haben nur eine einzige Perspektive, einen immer gleichen Blickwinkel auf die Gesellschaft. Sie sind wie die Nornen, die nur ein Auge haben, das sie sich gegenseitig ausleihen.
CEBIT-Neuheit: die intelligente Mettwurst. Schmeckt lecker und verwandelt sich im Magen in eine kalorienfreie Flüssigkeit. Ohne Geschmacksverstärker, künstliche Aromen oder andere Chemie!
Was waren das für Zeiten, als ich als junger Mann mit abgewetzter Jeansjacke und Zehn-Tage-Bart am Bahnhof Zoo mit einem angedeuteten Nicken und fragendem Blick wortlos auf das Thema Drogen angesprochen wurde. Jetzt stehe ich dort grauhaarig in Jack Wulfskin-Uniform am U-Bahnsteig und ein junger Mann spricht mich an: „Ich bin von einer evangelischen Gemeinde. Möchten Sie an unserem Bibelunterricht teilnehmen?“
Berlin ist so hip – jetzt soll angeblich sogar der BVG-Fahrplan verfilmt werden.
Die mächtige Bronzestatue eines berühmten Entdeckers weist mit ausgestrecktem Arm auf einen fernen Horizont – in Wirklichkeit zeigt der Finger auf den dritten Stock einer Mietskaserne, deren Anstrich längst vergilbt ist.
Es ist nichts anderes als die Gewohnheit, die uns beim Blick in den Spiegel das eigene Gesicht vertraut erscheinen lässt. Sehen wir einen Teil unserer Haut in einem Schminkspiegel stark vergrößert, haben wir den Eindruck, wir betrachten die Oberfläche eines unbekannten Planeten.
Die Halbschuhe der alten Frau hatten die Farbe von flüssigem Schweinekot.
Der feuchte Glanz ihrer riesigen dunklen Pupillen erinnerte mich an einen Seehund.
Das ist Berlin: Nach einem köstlichen mehrgängigen Menü im iranischen Restaurant „Olivengarten“ in der Spichernstraße komme ich auf dem Rückweg nach wenigen Schritten an dem Haus vorbei, in dem Bert Brecht die „Dreigroschenoper“ geschrieben hat.
Die elektronischen Klänge der Melodie tropften einzeln herab, als hallten sie von den Wänden einer großen Höhle wider.
Meine linke Hand ist eingeschlafen. Was sie wohl gerade träumt?
Welcher Gedanke ist wirklich neu, wenn siebeneinhalb Milliarden Menschen den ganzen Tag denken?
Wir hatten jetzt Frauen, Farbige, Homosexuelle und Behinderte in hohen Staatsämtern. Hier und anderswo. Genutzt hat es nix. Aber wenigstens hätten wir das mal geklärt.
Werbung: Jetzt neu! „Hegel Knoblauch mit scharf – Berliner Leitkultur“ von Andy Bonetti. Neue Argumente zu einer alten Debatte. In Ihrer Bahnhofsbuchhandlung.
Max Frisch schreibt in seinem „Tagebuch 1966-1971“ über seine erste Begegnung mit Brecht Ende 1947 in Zürich: „ein Mann in der Fremde, die seine Sprache spricht“. Nach zwölf Jahren Exil war der deutsche Schriftsteller pleite, aber mit einem Koffer voller Manuskripte aus Amerika zurückgekehrt. „Vielleicht kommen Sie auch einmal in diese interessante Lage“, sagte er zu Frisch, der ihm von seinen Reisen durch das zerstörte Deutschland berichtet hatte, „dass Ihnen jemand von Ihrem Vaterland berichtet und Sie hören zu, als berichtete man Ihnen von einer Gegend in Afrika.“
Über seine Schweizer Heimat hat Frisch einmal geschrieben: „Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“
Hätten Sie’s gewusst? Das Saarland und die Insel Borneo haben auf der Landkarte denselben Umriss.
P.S.: Der neueste Trend aus Berlin: BierYoga. „BierYoga ist die Kombination aus einer Yogastunde mit zwei Flaschen Bier.“ Kein Scherz!
http://bieryoga.de/
The Sound – Fatal Flaw. https://www.youtube.com/watch?v=0z078J2VlDo

Samstag, 9. April 2016

Ausgerechnet Schmitten!

„Literatur muss nicht wahr sein, sie muss sich nur wahr anfühlen.“ (Andy Bonetti)
St. Pauli. Die Bar „Zum lachenden Buddha“ liegt an Pier 17 hinter verrosteten Containern und leeren Fässern. Hier gibt es Tsingtao-Bier, Mekhong-Whisky und die gefürchtete „Spezialität des Hauses“: eine Portion Reis und ein halbes Dutzend Chicken-Nuggets werden in einer Schüssel mit einer thailändischen Currysuppe aus der Dose übergossen und in der Mikrowelle warm gemacht. Alles in allem kein übler Laden.
In meinem Job treibt man sich jede Nacht in solchen Spelunken herum. Trinkt morgens einen miesen Kaffee und einen Jägermeister an einem schäbigen Kiosk. Und wenn du dir den müden Spaß erlaubst und den Kioskfritzen nach dem Barista fragst, antwortet er dir staubtrocken und humorlos, dass er diese Zigarettenmarke nicht verkauft.
In meinem Job ernährst du dich nur von Schnaps, Bier und Fischbrötchen. Meine Frau hätte mich längst verlassen, wenn ich jemals eine gehabt hätte. Die Kollegen muss ich an Autobahnraststätten und in heruntergekommenen Kinosälen treffen, in denen Filme laufen, die keiner sehen will. In mein Büro komme ich nur durch einen unterirdischen Geheimgang von der Herrentoilette des benachbarten Einkaufszentrums. Mein Name ist Gregory Schmendrick. Ich bin Undercover Agent.
Das „Buddha“ und der schmierige fette Chinese hinterm Tresen gehören seit drei Monaten zur Ausstattung meines Alltags. Ich sitze mit Jens-Klaus Van Dumm und Philip „Hurricane“ Pfützenhobl in einer düsteren Ecke der Bar. Es geht um eine Lieferung Chrystal Meth für den Bundestag. Die Fraktion darf ich Ihnen nicht verraten. Wäre auch unwichtig. Die „Buddha Crew“, wie ich sie in meinen Berichten nenne, beliefert alle Parteien.
Die beiden Jungs sind völlig identisch: sie haben eine flache Stirn und sind durch eine Überdosis Steroide bis zur Lächerlichkeit aufgepumpt, sie tragen eine Art Kriegsgefangenenkurzhaarfrisur und schwarze Lederjacken. Sie sind natürlich nur die Laufburschen. Ich will an den Mann rankommen, der hinter ihnen das große Rad in diesem Geschäft dreht: James Doogan. The Doog. Doogman. Doogikowski. Ein ultrabrutaler Kerl. Selbst seine Mutter hat Angst vor ihm. Er kann dir nur mit seinem Blick unvorstellbare Schmerzen zufügen.
Es ist mein härtester Einsatz.
Und dann kommt Schmitten.
Steht plötzlich in der Tür und grinst.
Schmitten.
So, wie er immer war. Stone-washed-Jeans. Stone-washed-Jeansjacke. Wahrscheinlich ist auch seine Unterwäsche stone-washed.
Er darf mich hier nicht sehen. Ich bin mit diesem Idioten in die Schule gegangen. Also lehne ich mich weit ins Dunkel zurück und senke den Kopf.
Schmitten geht zum Tresen und bestellt ein Bier.
Endlose Minuten des Schweigens. Ich höre nur das Sirren des Deckenventilators und in der Ferne das Signalhorn eines Frachters.
Der Wirt stellt Schmitten das Glas vor die Nase.
Schmitten trinkt.
Er steht auf.
Oh,nein!
Er kommt zu uns an den Tisch.
„Mensch, Greg“, sagt er freudestrahlend. „Lange nicht gesehen.“
Ich sage nichts. Mir fällt auch nichts ein.
„Du hast ja heute gar nicht deine Polizeiuniform an.“
Nur eine Nanosekunde später blicke ich in die hässlichen Mündungen von zwei Revolvern. Und selbst der fette Chinese hält plötzlich eine abgesägte Schrottflinte in den Händen.
Und er hat, verdammt nochmal, nicht gelacht.
Fortsetzung folgt nicht
AC/DC - You Shook Me All Night Long. https://www.youtube.com/watch?v=Lo2qQmj0_h4

Freitag, 8. April 2016

Das Kartell

„Ungehorsam ist die wahre Grundlage der Freiheit. Die Gehorsamen sind Sklaven.“ (Henry David Thoreau)
Die fruchtbaren Ebenen des Wetterau-Kreises liegen auf der richtigen Höhe, der Säuregehalt des Bodens ist perfekt und es fällt ausreichend Niederschlag. Und so wundert es in Nordhessen niemanden, dass in diesem Gebiet seit Generationen Mohn angebaut wird. Die Campesinos liefern ihre Ernte an eine Handvoll Latifundistas, die den Landkreis kontrollieren und den Mohn zu Opium weiterverarbeiten. Die Kunden waren im 19. Jahrhundert zunächst chinesische Gleisarbeiter, die an den Strecken der Northwestern Railway Company von Frankfurt nach Köln, Essen und Dortmund beschäftigt waren.
Als um die Jahrhundertwende via Orientexpress zunehmend türkisches Opium den Markt eroberte, das qualitativ hochwertiger und günstiger war, ging das Geschäft der Nordhessen zunächst zurück. Außerdem machte die Firma Bayer mit ihrem neuen Produkt „Heroin“ (eingetragenes Markenzeichen) Konkurrenz. „Heroin“ wurde erst 1931 vom Markt genommen und das Unternehmen konzentrierte sich auf den nächsten Blockbuster "Aspirin". Als die deutsche Wehrmacht zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von den klassischen Bezugsquellen von Rohopium (Afghanistan, Goldenes Dreieck) abgeschnitten war, wurden die Bauern im Wetterau-Kreis beauftragt, den Mohnanbau zu steigern (Führerbefehl 08/15). Das Opium wurde dringend zur Herstellung von Morphium benötigt. Damals lieferten die Nordhessen ihre Produkte auch nach Berlin bis in höchste Parteikreise.
Nach dem Krieg wurden die amerikanischen Besatzungstruppen die neuen Kunden, deren Bedarf nach Heroin kaum zu decken war. Ab den siebziger Jahren erweiterten Jugendliche und Studenten in Frankfurt den Kundenkreis, der ultimative Downer beendete die Protestbewegung dieser Generation endgültig. Die Warlords aus dem Wetterau-Kreis beherrschten das Bahnhofsviertel und damit den Markt von ganz Hessen.
Als die amerikanischen Truppen Ende der neunziger Jahren Hessen verließen, startete der damalige hessische Innenminister Kurt Klöbich die „Operation Condor“: Im Morgengrauen des 12. Mai 1999 starteten zwanzig Hubschrauber der Hessischen Anti-Drogen Elite-Staffel (HADES) zu einem Einsatz in den Wetterau-Kreis. Sie besprühten die nordhessischen Mohnfelder mit dem Entlaubungsmittel „Agent Orange“ der rheinhessischen Firma Boehringer.
Tausende Campesinos im Wetterau-Kreis verloren ihre Einkommensquelle. Der Krieg hatte begonnen. In der folgenden Nacht warfen Unbekannte den abgeschnittenen Kopf von Kurt Klöbich in den Garten der Dienstvilla des hessischen Ministerpräsidenten in Wiesbaden. Die Latifundistas lieferten den Frankfurter Junkies, die auf Entzug waren, massenweise Amphetamine und brachten sie dazu, die Polizeiwachen der Main-Metropole anzugreifen und niederzubrennen.
In Bad Nauheim, der Hauptstadt des Wetterau-Kreises – von Insidern auch „Klein-Chicago“ genannt -, versammelte Bugsy Bonetti, der Onkel des berühmten Schriftstellers Andy Bonetti, alle Latifundistas an einem Tisch und gründete das Kartell. Das Bäd Nauheim Kartell.
Die hessische Regierung hatte die Macht der Drogenbarone unterschätzt. In den folgenden Jahren landeten alle wichtigen Drogenfahnder und Kriminalbeamten, Richter und Staatsanwälte Hessens entweder auf den Gehaltslisten des Kartells – oder auf dem Friedhof. Das Kartell kontrollierte den Anbau, die Produktion und den Markt im gesamten Bundesland.
Doch im Frühling 2016 kommt ein Mann nach Hessen, der alles ändern will: Miguel Helado. Helado heißt: eiskalt. Und genauso ist er. Helado hat längst vergessen, wie viele Menschen er schon ermordet hat. Aber jetzt gehört er zum Top-Management des Tijuana-Kartells aus Mexiko. Sein Anzug hat die Farbe von Gewitterwolken. Seine Aufgabe: den hessischen Drogenmarkt für seinen Boss zu übernehmen. Und wenn es geht, auch noch die gesamte Prostitution, den Gebrauchtwagenhandel und Amazon.
Blut wird in Strömen fließen wie Wodka auf einer russischen Beerdigung.
Fortsetzung folgt
Gasoline – Diesel Ride. https://www.youtube.com/watch?v=-e8WloBw0lo

Donnerstag, 7. April 2016

Die Frauen, das Geld und die Bücher

„Meine Erinnerungen sind wie die Dukaten im Geldbeutel des Teufels: wenn man ihn öffnete, fand man nur welke Blätter darin.“
Wenn man sich lange genug der geistigen Landstreicherei hingegeben hat und es kaum noch lohnenswerte Entdeckungen in der Welt der Literatur zu machen gibt, beginnt man eines Tages, die Bücher ein zweites Mal zu lesen. Meine Lieblingsromane, Kafka zum Beispiel, habe ich natürlich schon häufig gelesen, aber viele schöne Werke habe ich tatsächlich nur ein einziges Mal genossen – oft vor einigen Jahrzehnten.
Vier Zimmer meines weitläufigen Anwesens am Rhein sind bis an die Decke mit Büchern gefüllt, dazu meine Berliner Wohnung, wo neben den beiden Bücherregalen noch überall hohe Stapel aus dem Boden wachsen. Also greife ich mir nach reiflicher Überlegung einen Band heraus und beginne zu lesen. Zunächst lese ich auf dem Vorblatt die Widmung in violetter Tinte: „Lieber Matthias! Ein Buch, das mich beim Lesen an Dich denken ließ. Schöne Weihnachten ’89, A.“ Wie schön, ein Geschenk aus meiner Studienzeit. Ob die junge Dame eine Anspielung machen wollte? Schließlich halte ich „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre in den Händen.
„Er wird jeden Tag der Leiche, die er sein wird, ein bisschen ähnlicher.“
Es ist ein rororo-Taschenbuch und es enthält, wie damals üblich, eine Werbebotschaft für Pfandbriefe und Kommunalobligationen. Es heißt, ein Taschenbuch enthalte im Durchschnitt fünfhunderttausend Buchstaben, die Satzzeichen nicht eingerechnet. Das sei eine Alphabetschnur, die etwa einen Kilometer lang wäre. Für einen Pfennig bekäme man also eintausendfünfhundert gemischte Buchstaben. Und für einen Pfandbrief (für die jüngeren Leser: ein festverzinsliches Wertpapier) im Wert von einhundert Mark bekäme man im Jahr 6,50 DM Zinsen – genug also für ein weiteres Taschenbuch.
Donnerwetter, denke ich. 1989 hat man also noch 6,5 Prozent Zinsen bekommen. Das sind genau 6,5 Prozent mehr als heute, da man die Sparer an den Aktienmarkt nötigt und aus dem Wohnungsmarkt eine Spielhölle für Spekulanten gemacht hat. Und als ich über die vergangenen Zeiten, die junge Dame namens A. und das Geld nachdenke, fällt mir wieder meine kleine quietscheentchengelbe Börse mit Minnie Maus-Motiv und Clipverschluss ein, in der ich damals – zur hellen Freude meines gesamten Freundeskreises – mein Kleingeld aufbewahrt habe.
„Und dann, ungefähr mit vierzig, geben sie ihren kleinen Verbohrtheiten und ein paar Sprichwörtern den Namen Erfahrung, sie fangen an, Automaten zu werden: einen Groschen in den linken Schlitz, und heraus kommen in Silberpapier eingewickelte Anekdoten; einen Groschen in den rechten Schlitz, und man bekommt wertvolle Ratschläge, die zwischen den Zähnen kleben wie weiche Karamellbonbons.“
Es war in jenem denkwürdigen Jahr des Mauerfalls, als ich mit besagter A. in einem Gasthaus in Würzburg saß. In einem Augenblick hemmungsloser Trunkenheit und motivationsfreier Bewegungslust war ich einfach aufgestanden und in die Nacht hinaus getorkelt, ohne wiederzukommen. A. hatte wohl eine Weile gewartet und mich dann zu suchen begonnen. Dabei hatte ich meinen legendären Geldbeutel auf dem rustikalen Holztisch jenes fränkischen Hopfentempels liegengelassen und nie mehr wiedergesehen.
Weiß der Kuckuck, wie A. mich überhaupt wiedergefunden hatte. Jedenfalls erwachte ich am nächsten Morgen, den Kopf voller bleischwerer Erinnerungslücken, in ihrer Wohnung. Noch bei ihrer Hochzeit mit einem Exemplar Mann, das eindeutig berechenbarer und verlässlicher war als ich, fragte sie mich – wohl zum tausendsten Mal –, wo um Himmels Willen ich in dieser Nacht eigentlich hin wollte. Ich weiß es bis heute selbst nicht. Manchmal müssen sich Männer einfach auf den Weg machen. Ohne Grund. Ohne festen Boden unter den Füßen. Vielleicht ist das sogar die wesentliche Voraussetzung für den Beginn einer langen Reise. Die Bedeutung von Begründungen wird doch allgemein überschätzt.
„So ist sie, die Zeit, die nackte Zeit, das kommt langsam zur Existenz, das lässt auf sich warten, und wenn es kommt, ist man angeekelt, weil man merkt, dass es schon lange da war.“
P.S.: Alle Zitate sind aus „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre. Ursprünglich sollte der Roman „Melancholia“ heißen, aber der Verleger hatte diesen Titel abgelehnt. Übrigens habe ich bei meiner ersten Lektüre als junger Mann nur einen einzigen Satz unterstrichen: „Alles Existierende entsteht ohne Grund, setzt sich aus Schwäche fort und stirbt durch Zufall.“
Bei meiner zweiten Lektüre, in meinem fünfzigsten Lebensjahr, hätte ich – würde ich immer noch Anmerkungen und Unterstreichungen hinterlassen - folgende Textstellen am Ende des Romans angestrichen:
„Ich weiß ganz genau, dass ich nichts tun will: etwas tun heißt Existenz schaffen – und es gibt so schon genug Existenz. Die Wahrheit ist, dass ich meine Feder nicht loslassen kann: ich glaube, dass ich den Ekel bekommen werde, und habe den Eindruck, ihn aufzuschieben, in dem ich schreibe. Also schreibe ich, was mir durch den Kopf geht. (…) Man kann seine Existenz also rechtfertigen? Ein ganz klein wenig? (…) Es müsste ein Buch sein: ich verstehe mich auf nichts anderes. (…) Und es gäbe Leute, die diesen Roman läsen und die sagen würden: ‚Antoine Roquentin hat ihn geschrieben, das war ein rothaariger Typ, der in den Cafés herumhing‘.“
Heute lese ich das Buch und muss an mich selbst denken, so wie A. 1989 an mich gedacht hat. Ich bin dem Protagonisten, den ich längst vergessen zu haben glaubte, sehr ähnlich geworden. Eine Prophezeiung als Geschenk, das Geschenk der Prophezeiung. In ein paar Tagen sehe ich A. wieder. Ich werde ihr diese kleine Geschichte erzählen und ich bin mir sicher, dass wir darüber lachen werden.
P.P.S.: Ich habe A. heute (30. März) im Mr. Minsch in der Yorckstraße getroffen und wir haben bei Kaffee und Kuchen über diverse Bücher gesprochen. Als sie mir Sartre geschenkt hat, habe ich ihr „Portnoys Beschwerden“ von Philip Roth geschenkt. Und wie es der Zufall will: Gestern und heute habe ich genau diese wundervolle Groteske um Sex, Judentum und Wahnsinn in New York zum dritten Mal gelesen.
Queen - Now I'm Here. https://www.youtube.com/watch?v=3OSd17ko3O4