Donnerstag, 31. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 7, Szene 1
Montag, sieben Uhr morgens. Elias Merck hatte eine schlaflose Nacht in der Arrestzelle verbracht. Nun saß er im Vernehmungsraum und sah einen der verhassten Polizeibeamten direkt ins Gesicht.
„Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, warum Sie Hubert Altmann ermordet haben?“
Merck schwieg.
„Sagen Sie endlich was!“
„Mein Name ist Elias Merck …“
„Das haben Sie uns doch schon hundert Mal erzählt. Glauben Sie im Ernst, Sie liefern mir hier nur ein paar Personalien und das reicht?“
Merck schwieg wieder.
„Wir können das Spiel den ganzen Tag und die ganze Nacht machen. Reden Sie!“
Merck betrachtete ruhig das Gesicht seines Gegenübers.
„Was halten Sie von Moabit? Da wird ihr kleiner Arsch die große Sensation sein.“ Sonleitner hatte den Spruch aus irgendeinem Film.
„Waren Sie schon mal in einem Gefängnis?“
Merck lächelte und blickte zu Sonleitners Assistent hinüber. „Jetzt müssten Sie doch eigentlich den guten Bullen spielen, oder? ‚Herr Merck, denken Sie doch mal nach. Sie machen sich doch unglücklich’.“ Er äffte den näselnden Tonfall des Assistenten nach.
„Was wollen Sie?“ schrie Sonleitner zornig. „Wollen Sie hier den Helden spielen? Den Märtyrer? Ihre Glaubensgenossen lassen Sie doch im Knast verschimmeln.“
Merck sah Sonleitner erschrocken an und schwieg.
„Ihre Mitbewohner haben wir schon festnehmen lassen. Im Augenblick wird Ihre Wohnung durchsucht.“ Sonleitner bluffte, den Durchsuchungsbeschluss hatte er noch nicht in der Tasche. Auch wenn seiner Meinung Gefahr im Verzug war.
„Wieso verhört Ihr nicht die Nazis?“
„Ach?“ Sonleitner klang überrascht. „Über die Nazis wollen Sie reden. Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Die werden gerade von den Kollegen verhört.“
Merck schwieg wieder.
„Also noch mal von vorne. Wie viele Fahrzeuge haben Sie angezündet? Wie sind Sie auf die Verbindung von Altmann zu den Freien Kameraden Lichtenberg gestoßen? Wie haben Sie die Tat geplant?“
Merck blickte nur schweigend auf die Tischplatte.
Nur gelegentlich hörte man im dritten Stock des LKA 5 gedämpfte Verkehrsgeräusche. Der Tempelhofer Damm war zwar eine wichtige Verkehrsachse, aber um sieben Uhr in der Früh störte kaum etwas die Ruhe im Verhörzimmer.
„Morgen werden Ihre Eltern anreisen. Sie sind bereits informiert.“
Merck lächelte spöttisch. Als ob der Anblick seines Vaters oder seiner Mutter irgendetwas ändern würde.
Sonleitner und sein Assistent verließen das Verhörzimmer, um eine Pause zu machen. Irgendwann knackte man jeden, der nicht ein Profi war und der durch eine Aussage keinen Mordanschlag zu befürchten hatte. Gerade die Studenten hatte man nach acht bis zwölf Stunden klein gekocht. Und um diese Uhrzeit würde der Verdächtige auch keinen Anwalt auftreiben können.
Merck kratzte sich den Bart und dachte nach. Was konnten Sie ihm schon nachweisen? Er hatte ein paar Autos angezündet. Na und? Das war Sachbeschädigung, bestenfalls Brandstiftung. Er hatte keine Vorstrafen. Wenn sein Vater ihm einen guten Anwalt besorgte, kam er mit einer Bewährungsstrafe davon. Er wäre frei und ein Held. Während die nächste Generation der Bewegung den Kampf weiterführte, könnte er mit Ludmilla das Leben genießen. Sie würde die Frau an seiner Seite werden, er könnte Vorträge über den antikapitalistischen Widerstand halten. Wegen der Bewährungsstrafe müsste er ohnehin für die nächsten Jahre die Füße still halten. Vielleicht würde eines Tages sogar ein besetztes Haus nach ihm benannt werden?
Sonleitner betrat nach einer fünfzehnminütigen Kaffeepause wieder den Raum. Er würde seine Strategie ändern. Er würde bluffen. Und wenn es funktionierte, würde er seinem Assistenten ein Zeichen geben. Erst dann begänne die Aufzeichnung des Gesprächs.
Nachdem sie sich zu Merck an den Tisch gesetzt hatten, blickte Sonleitner den Verdächtigen lange an. Merck reagierte nicht.
„Sehen Sie mich an! Sehen Sie mir in die Augen!“ Sein Ton war scharf, aber nicht laut.
Merck hob langsam den Kopf und verzog den Mund etwas. Sein überlegenes Grinsen funktionierte im Laufe der Stunden immer weniger. Er kratzte sich am Hals.
Sonleitner hatte die Geste der Unsicherheit registriert. „Wir haben die GPS-Daten Ihres Handys überprüft. Sie waren zum Tatzeitpunkt am Tatort. Auch mit anderen Orten, an denen Autos angezündet wurden, stimmen Ihre Daten überein.“
Merck schaute ihn überrascht an.
„Die Anklage wird auf vorsätzlichen Mord lauten. Außerdem hat Ihre Tat einen extremistischen Hintergrund. Ich spreche hier von Paragraph Einhundertneunundzwanzig des Strafgesetzbuchs, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das alleine wird Ihnen mindestens zehn Jahre Gefängnis bringen. Ohne Bewährung, versteht sich.“
Merck schüttelte den Kopf. „Ich habe das Handy ausgeschaltet. Heute Nacht war es auch nicht angeschaltet. Und in der Nacht, in der Altmann angezündet wurde, habe ich friedlich in meinem Bett gelegen.“
Sonleitner lächelte und beugte sich zu Merck über den Tisch. „Wir können Ihre Daten auch orten und registrieren, wenn das Handy abgeschaltet ist. Wir können auch Ihren Computer zu Hause als Augen und Ohren nutzen, wenn das Gerät offline und abgeschaltet ist. Kapiert?“
Er lehnte sich genüsslich zurück und wartete, wie diese Informationen in Merck zu arbeiten begannen. Jetzt nichts überstürzen, dachte er. Über eine sogenannte Funkzellenabfrage konnten sie die Daten von Handybenutzern erfassen, die sich in der Nähe eines bestimmten Sendemastes aufhielten. Auf diese Weise ließ sich über Wochen ein Bewegungsbild erstellen, ohne dass der Verdächtige das Handy überhaupt benutzt hatte. Tauchte eine Telefonnummer regelmäßig an den Tatorten auf, wurde die Person observiert. Allerdings hatten sie mit dieser Methode, trotz regelmäßiger Genehmigung durch die Gerichte, in den vergangenen Monaten noch keinen Erfolg gehabt – kein Wunder bei vierzig Millionen Anrufen, Mails und SMS pro Tag in der Hauptstadt.
Der junge Mann rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Eine lange Minute verging.
„Sie werden lebenslänglich bekommen. Hochsicherheitstrakt. Da landen Sie bei den richtig harten Jungs. Serienmörder und Kinderschänder.“
Merck wagte nicht mehr aufzublicken. Das Flattern seiner Augenlider verriet seine Nervosität. Offenbar dachte er angestrengt nach. Noch eine Minute.
Sonleitner nickte seinem Assistenten nur kurz zu.
Mit einem Knopfdruck aktivierte der Assistent das Aufnahmegerät in seiner Jackentasche.
„Ich habe diesen Immobilienhai nicht abgefackelt“, begann Merck. „Ich wollte doch nur ein paar Autos anzünden. Mehr wollte ich doch gar nicht.“
Er blickte Sonleitner an und schien auf dessen Verständnis zu hoffen, doch der Staatsschützer schaute nur mit ausdruckslosem Gesicht auf die Wand hinter Merck.
„Ich bin doch kein Terrorist! Das müssen Sie mir glauben. Die anderen Leute sind doch völlig unschuldig, die können Sie da nicht mit reinziehen.“
Natürlich bist du ein Einzelgänger, dachte Sonleitner. Deswegen beginnst du auch jeden Satz mit dem Wort ‚Ich’.
„Ich wollte doch keinen Menschen töten. Keine Gewalt, das ist unser Grundsatz. Nur die Nazis sind Mörder, wir nicht.“ Mercks Stimme wurde weinerlich.
„Woher kannten Sie Hubert Altmann?“ fragte Sonleitner ungerührt.
„Den kannte ich doch gar nicht“, antwortete Merck. „Natürlich habe ich im Internet was gelesen. Der hat angeblich besetzte Häuser räumen lassen.“
„Sie kannten also Herrn Altmann. Und Sie hatten als Linksextremist ein Motiv.“
„Das ist nicht wahr!“ schrie Merck und er hieb mit der Faust auf den dünnen Kunststofftisch.
„Dann sagen Sie uns endlich die Wahrheit.“
„Ich bin einfach nur durch die Nacht gefahren und habe Bonzenautos angezündet“, begann Merck. „Und dann hat sich die Sache irgendwie verselbstständigt. Der Brandstifter war in der Szene der große Held, die Medien haben immer mehr von meinen Aktionen berichtet. Den ewigen Druck können Sie sich nicht vorstellen.“
„Ich war schon bei meiner Geburt in einer Drucksituation und seitdem ist es nicht besser geworden“, sagte Sonleitner ungerührt. „Also ersparen sie mir Ihr Selbstmitleid. Die grundsätzliche Beschissenheit des Lebens wird nicht strafmildernd in die Bewertung der Richter einfließen. Und jetzt kommen wir zurück zur Tatnacht.“
Merck redete eine halbe Stunde lang.
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