Mittwoch, 30. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 7
Berlin bei Nacht: Es glitzerten Geschäfte und Bars, schemenhafte Gestalten in schwarzen Lederjacken, blitzende Lichter und dunkle Umrisse, kurze Szenen des Glücks und des Verbrechens, es blieb keine Zeit zur Interpretation, nur der Rausch einer flüchtigen Wahrnehmung, es ging weiter, die vorläufige Pause einer roten Ampel verwirrte mehr als sie aufklärte. Die Stadt als ganzes blieb unbegreiflich und geheimnisvoll. Hier trafen sich Menschen, um einige Tage später ein Paar fürs Leben zu werden oder sich zu ermorden. Im Vorbeifahren verwischte alles zu einem Kaleidoskop der Möglichkeiten, das jede Wahrnehmung in ihre Einzelteile explodieren ließ. Die Welt schien weit entfernt, Lichtfetzen, verzerrte Formen, überlagert von der Musik aus den Boxen hinter ihm.
Gut gelaunt hatte er um siebzehn Uhr dreißig Feierabend gemacht und pünktlich um achtzehn Uhr saß er am Abendbrottisch mit seiner Frau. Die kleinen Scheiben einer „Vollkornsonne“ hatte er dick mit Butter bestrichen und doppelt mit Bierschinken belegt.
„Was denn? Kein Bier zum Essen?“ hatte seine Frau erstaunt gefragt.
„Ich muss nachher noch mal weg.“
„Wohin?“
„Ist dienstlich“, hatte Leber geantwortet und sich einen Riesenbissen in den Mund geschoben, um in der nächsten Minute nicht weitersprechen zu müssen.
„Was ist denn so geheim, was du deiner eigenen Frau nicht sagen kannst?“
Der Kommissar hatte nur stumm mit den Schultern gezuckt.
Sie hatte ihn entrüstet angeschaut. „Andere Beamte sagen ihren Frauen doch auch, woran sie gerade arbeiten.“
„Wer?“ hatte Leber schwer verständlich genuschelt.
„Sag ich nicht. Du sagst mir ja auch nichts.“
Dann hatten sie eine Weile schweigend gegessen, besser: leise keuchend. Zwei Menschen, in den fünfziger Jahren geboren, die Körper voller rätselhafter Schwermetalle und Kunststoffe.
„Nimmst du unseren Wagen?“
Er nickte und biss wieder ein großes Stück von seinem Vollkornbrot ab.
„Ich hoffe, deine Dienststelle bezahlt dir den Sprit für deine Abenteuer. Weißt du eigentlich, wie teuer das Benzin geworden ist? Wahrscheinlich nicht.“
Sie hatte vorwurfsvoll geklungen, aber Leber war es egal gewesen. Er freute sich diebisch darauf, im Alleingang eine Aktion durchzuführen, die den lieben Kollegen Sonleitner vom Staatsschutz hoffentlich sehr alt aussehen lassen würde. Nach Sonnenuntergang, um neun Uhr abends, machte er sich auf den Weg und trat auf die Meierottostraße hinaus, wo der weiße Toyota Carina abgestellt war. Er konnte sich gar nicht vorstellen, die Fahrt in dem mickrigen Elektro-Smart zu machen, die ihm seine Dienststelle unfreundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte.
Früher gehörte die Nacht den Eulen und Fledermäusen, und in der Stadt gehörte sie den Nachtwächtern, Nachtschwärmern und Ganoven. Während die braven Bürger in ihren Betten lagen, war die Szenerie auf das Wesentliche reduziert: Auf den nächtlichen Straßen waren nur Jäger und Gejagte unterwegs, es galt das Gesetz der Natur, Fressen und Nicht-Gefressen-werden. Die Bürger wurden von den Räubern verfolgt, die Räuber von den Nachtwächtern. Jede Begegnung konnte das Schicksal wenden, nachts war niemand ohne Schuld und ohne Angst, denn alle kindliche Unschuld und Sorglosigkeit schlief bereits tief und fest in den dunklen Häusern. In der Nacht gab es keine Familien, keine fröhlichen Straßenlärm, es gab nur einsame Wanderer mit ihren Laternen. Alles Leben schien von der Finsternis verschluckt. Inzwischen hatte das Licht die Stadtnacht verändert, aber der Kommissar liebte immer noch das Abenteuer, die Einsamkeit und den Schutz, den die Dunkelheit bot. Er war wach, er wachte, während alles schlief. Eine romantische Vorstellung aus der Frühzeit seines Polizeidienstes. Jetzt fiel es ihm wieder ein und er fühlte sich großartig. Er spürte, wie seine Nerven sich anspannten. Er oder ich, dachte er. Ein Klassiker. Keine Akten, keine langen Gespräche, keine Vorgesetzten und keine Untergebenen. Wenn es die Berliner Verwaltung schon vor zehntausend Jahren gegeben hätte, wäre noch nicht mal das Rad erfunden worden. Es würde immer noch als Projektantrag in irgendeiner Schublade schlummern, weil für die Umsetzung momentan leider keine Mittel zur Verfügung stünden. Heute Nacht war alles ganz einfach: Nur er und ich.
Jetzt lief „Neonlicht“ von Kraftwerk: „Neonlicht, schimmerndes Neonlicht. Und wenn die Nacht anbricht, ist diese Stadt aus Licht.“ Die Musik seiner fernen Jugend. Rund um die Gedächtniskirche war alles Lärm und Bewegung, die ganze Stadt eine Explosion in Zeitlupe. „Ich freue mich, dass es diesem Unglücksnest endlich gelingt, Weltstadt zu werden“, hatte einst Friedrich Engels über Berlin geschrieben. Dieser Platz war schon immer ein Ort für Selbstdarsteller gewesen, hier traf man Menschen, die den Planeten retten wollten oder ihm ewige Verdammnis prophezeiten. Früher traf sich hier die Alternativszene, die Hippies oder „Gammler“, wie sie von den verängstigten Spießbürgern und ihren Presseorganen genannt wurden. Inzwischen gab es in der West-City jedoch nur noch Touristen, die andere Touristen nach dem Weg fragten. Auf dem Ku’damm das übliche Alphabet der Firmenschilder, vom „Bulettenkönig“ bis zum Gasthaus „Zum goldenen M“. Schon in den 1920er Jahren gab es auf dem Ku’damm amerikanische Fastfoodrestaurants namens „Quick“. Auf diesem Boulevard war die Stadt auf angenehme Weise oberflächlich. „Für eene Mark kann ick erwarten, dett an meene niedersten Instinkte appelliert wird“, lautete eine Berliner Kinoweisheit aus alter Zeit.
Leber erinnerte sich an das alte Berlin vor dem Mauerfall. Damals war alles ganz anders gewesen: die Kriegskrüppel, die Witwen, die Ruinen. Schrippe fünf Pfennig. Hickelhäuschen auf dem Bürgersteig spielen. Das war heutzutage ungefähr so angesagt wie Weinbrandbohnen oder Usambaraveilchen. Es gab nur drei Eissorten: Vanille, Erdbeer und Schokolade. Und nur drei Brotsorten: Weißbrot, Graubrot, Schwarzbrot. Damals hatten die Männer noch Kämme in ihrer Hosentasche und das Regierungsviertel war noch kein steriler Ort der Medienwelt gewesen, sondern ein Urwald, der nach Einbruch der Dunkelheit den Hippies und Homosexuellen, den Kiffern und Liebespärchen gehört hatte. Hier konnte man, nur selten durch Polizeistreifen oder die Jeeps der alliierten Militärpolizei gestört, sein Lagerfeuer machen, während auf der anderen Seite der Spree der gespenstisch erleuchtete Todesstreifen lag.
Er fuhr über den Wittenbergplatz auf die Kleiststraße. Vor ihnen stauten sich die Autos, um diese Uhrzeit sehr ungewöhnlich. Aber die Nacht, die Musik und die Geschwindigkeit machten Leber für einen langen Augenblick betrunken, so dass er gar nichts bemerkte, bevor ihn das abrupte Bremsen des Wagens vor ihm in die alltägliche Zeit der banalen Handlungen und Worte zurückholte. Dann sah er die Ursache: eine Polizeisperre.
Wenige Minuten später beugte sich ein uniformierter BGS-Beamter, die MP im Anschlag, zur Fahrerin hinunter. Eine Taschenlampe beleuchtete unruhig das Wageninnere.
„Den Ausweise, bitte!“ In dem schmalen und fahlen Gesicht des Beamten stach eine große Nase hervor, die wie ein eigenständiges Lebewesen wirkte.
Leber zeigte stumm seinen Dienstausweis. „Dann wünsche ich noch viel Erfolg, Kollege.“
„Danke, Herr …“ Der Polizist war verwirrt.
Leber nickte nur kurz zum Abschied und fuhr weiter.
Er hatte es nicht eilig. Der Täter würde bestimmt nicht um diese Uhrzeit losschlagen. Jetzt saß er sicher noch mit den anderen Chaoten in einer Versammlung und tobte gegen die Ausbeuterschweine. Kreuzberg: Yorkstraße, Gneisenaustraße. Neukölln: Karl-Marx-Straße. An der Grenzallee fuhr er auf die Stadtautobahn. Dann war er im ehemaligen Osten. Leber erinnerte sich an die Reisen über die Beton-Autobahn der DDR, wenn sie nach Kassel zu Verwandten gefahren waren. Der hypnotische Rhythmus der überfahrenen Fugen zwischen den Platten, der einschläfern, aber auch aggressiv machen konnte, wenn man auf das nächste Geräusch wartete: Be-tong, be-tong, be-tong. So ging es zwei bis drei Stunden lang, bis man schließlich in der alten Bundesrepublik angekommen war.
Nach endlosen und langweiligen Kilometern bog er von der Autobahn ab. Das entsprechende Lied von „Kraftwerk“ hatte ihn zumindest einige Minuten getröstet. Hier war er tief im Wald, wo er sich nicht mehr auskannte. Zumindest nicht nachts. Als er auf einer Straße namens „Adlergestell“ Richtung Grünau fuhr, fühlte er sich wieder sicher. Hier war er schon einmal mit seiner Frau spazieren gewesen. Am Ufer standen noch die alten Tribünen der Regattastrecke von den Olympischen Spielen 1936. Ein herrliches Ausflugsziel, die Tramlinie durch den Wald von Grünau nach Schmöckwitz war bei Touristen sehr beliebt.
Der Kommissar erinnerte sich an die wenigen Ausflüge, die er zu Mauerzeiten in den Ostteil der Stadt gemacht hatte. Da gab es vor allem zwei Dinge, die er sehr sympathisch fand. Zum einen waren die Städte nicht mit Werbung für irgendwelche Produkte und Konzerne zugepflastert wie in seiner Heimat. Es gab vielmehr aufmunternde Sprüche für die Werktätigen, die unermüdlich für den Frieden und den Sozialismus gearbeitet haben. Man hatte den Eindruck, irgendwelche Motivationskünstler von McKinsey hätten das ganze Land mit positiven Botschaften voll gepflastert. Zum anderen gab es in der DDR überall Parkplätze, selbst in der Innenstadt und vor wichtigen Sehenswürdigkeiten. Alles war ein bisschen anders und trotzdem sprachen alle die gleiche Sprache wie im Westen, dachte er. Wenn es um den wichtigsten Unterschied im historischen Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Ost und West geht, wird vieles ins Feld geführt: Irgendwelche Wirtschafts- und Sozialordnungen, die von unterschiedlichen Bürokratien ausbaldowert wurden, der Stand der Computerspieltechnik, die Zahl siegreicher schnurrbärtiger Speerwerferinnen oder irgendwelche Scheißargumente, die sowieso keiner hören will. Warum der Osten wirklich verloren hat, wurde ihm bei seiner ersten Reise hinter den sogenannten „Eisernen Vorhang“ Anfang der Achtziger deutlich. Er hatte am Grenzübergang Bornholmer Straße De-Mark in Ostgeld tauschen müssen und mit dem Spielgeld ging es dann in Kneipen und Restaurants, um es wieder auszugeben. Da gab es kulinarische Besonderheiten, die leider in Vergessenheit geraten sind: Grilletta - Honeckers Antwort auf den BigMäc. Ein gewagtes Product-Placement in einer ketchup-freien Zone. Oder Krusta, die viereckige Pizza für die Helden der Planübererfüllung. Und irgendwann hatte er einfach zu viel gefressen und gesoffen, dann war er auf das erste kommunistische Scheißhaus seines Lebens gegangen. Das Klopapier war einfach nicht zum Aushalten, das ging echt gar nicht. Wenn du die Wahl hast zwischen dreilagigen Analzärtlichkeiten im güldenen Westen und dieser Zonenmischung aus Raufasertapete und Schmirgelpapier, dann fällt dir die Entscheidung zwischen zwei Systemen nicht schwer. Und als die Mauer 1989 fiel, war es nur eine Frage der Zeit, bis alle es begriffen hatten. Der Rest ist Geschichte.
Gegen zehn Uhr war er an seinem Zielort angekommen, wie es das Navigationssystem ausdrücken würde, das ihm sein Schwager zu Weihnachten geschenkt hatte und das immer noch unausgepackt in ihrem Wohnzimmerschrank lag.
Die Uferseite des Grundstücks Windwallstraße 15 war hell erleuchtet, man hörte laute Musik. Auf der Straßenseite lag eine Reihe von großkalibrigen Limousinen im Dunkeln. Mercedes, BMW, Audi. Die Leibspeisen des Brandstifters. Teuer und deutsch.
Leber fuhr langsam an den silbernen und schwarzen Fahrzeugen vorüber. Ein Mann löste sich aus dem Dunkel und kam auf ihn zu. Leber hielt an und kurbelte die Scheibe hinunter.
„Leber, Kripo Berlin“, sagte er und hielt seinen Dienstausweis ans Wagenfenster.
Der große Mann mit den kurz geschorenen Haaren beugte sich zu ihm hinunter. Nach einem kurzen Blick auf das laminierte Dokument sagte er: „Schurack, Security. Wir bewachen hier den Parkplatz.“
„Sehr gut“, sagte der Kommissar. „Es könnte sein, dass hier eine oder mehrere verdächtige Personen auftauchen. Deswegen bin ich hier. Melden Sie mir sofort, wenn sie etwas sehen. Ich werde am Ende der Straße parken und in meinem Auto bleiben. Von dort aus habe ich alles im Blick.“
„Verstanden, Herr Kommissar.“ Manfred Schurack, auch „Hermann“ genannt“, deutete mit der rechten Hand einen militärischen Gruß an und verzog sich zurück in die Dunkelheit zwischen den parkenden Autos.
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