Samstag, 19. September 2015
Madeleine
Madeleine du Patelin besaß den kühlen Hochmut und die gelassene Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen die hochnäsige Verachtung gegenüber ihrer Umwelt, wie man sie nur von den Top-Models dieser Welt auf dem Laufsteg kennt. Dennoch war sie ein unscheinbares Etwas, das erst seit wenigen Wochen in der Hauptstadt wohnte. Bemerkenswert waren nur ihr zauberhaftes melodiöses Lachen, ihre vollen roten Lippen und ihre schönen ebenmäßigen Zähne.
Und in dieses Lachen und in diesen Mund verliebte sich Pierre Lasource, als er sie im „Septième merveille“, einem Café auf dem Boulevard Saint-Michel, zum ersten Mal bemerkte. Lasource war vierzig Jahre alt und hätte ihr Vater sein können. Die hohlen Wangen und das starke Kinn ließen sein Gesicht knochig wirken, über seinen tiefliegenden Augen waren die hellblonden Augenbrauen kaum zu erkennen. Er saß ganz allein vor seiner Kaffeetasse, als das wohlige Gefühl aus seinem Bauch den Hals hinauf kroch. Er musste sie ansprechen.
Madeleine saß mit ihrer Freundin Mabelle am Nachbartisch und sie lachten über die Geschichten aus ihrer Nachbarschaft. Sie war bei ihrer alten Freundin aus der Schulzeit eingezogen, die schon seit einem halben Jahr in Noisy-le-Grand, einem Neubaugebiet östlich von Paris, wohnte. Es war nur eine kleine Wohnung in „les camemberts“, wie die beiden radförmigen Hochhäuser der Anlage „Arènes de Picasso“ im Volksmund hießen. Aus dem Vorort fuhren sie fast jeden Morgen an die Sorbonne Nouvelle, wo sie beide Sprachen studierten.
Als die beiden jungen Frauen aufstanden, um das Café zu verlassen, trat ein Mann in einem dunklen Anzug auf sie zu.
„Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Talent-Scout von Television Spectaculaire. Darf ich Ihnen meine Karte geben?“ Er hatte nur Augen für Madeleine. „Es wäre schön, wenn sie mich anrufen würden.“
Mabelle lachte und ging davon, aber Madeleine blieb interessiert stehen. Mit einem Lächeln nahm sie die Karte und folgte ihrer Freundin.
Am nächsten Tag saß sie im Büro von Pierre Lasource in La Défense. Von seinem riesigen Fenster aus hatte man einen herrlichen Blick über die Innenstadt.
„Wir suchen noch junge unverbrauchte Gesichter für unsere neue Vorabendserie ‚Paris – Tag und Nacht‘. Sie sind mir gleich aufgefallen. Haben Sie schon irgendwelche beruflichen Erfahrungen im Medienbereich?“
Madeleine erzählte ein bisschen dummes Zeug, aber das war Pierre egal. Sie saß vor ihm. Und er würde seine schützende Hand über sie halten – egal, ob sie nun Talent besaß oder nicht. In dieser Serie musste niemand Talent haben, da das Publikum ohnehin über keinerlei Geschmack oder Urteilsvermögen verfügte. Zeitfresser und Beruhigungspillen für die Teenager in der Provinz und den Banlieues.
Probeaufnahmen. Ein unterschriebener Vertrag. Perfekt. Gedreht wurde in einer großen Altbauwohnung am Place des Vosges. Madeleine war in einem noblen Hotel in der Nähe untergebracht.
Am Abend der ersten Woche wurde in einem Edelrestaurant auf der Île de la Cité mit der ganzen Crew gefeiert. Pierre flirtete wie verrückt mit Madeleine. Er war hoffnungslos verliebt. Er brachte sie nach dem Essen zu ihrem Hotel und hoffte nun auf den verdienten Lohn seiner Bemühungen um die junge Dame.
„Ich bin schon ziemlich beschwipst. Komm doch morgen zum Frühstück“, vertröstete sie ihn und zwinkerte ihm zu.
Er zögerte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand im Hotel.
Am nächsten Morgen rückte Pierre mit einem gewaltigen Strauß Blumen, seinem besten Anzug und schwerem Herrenduft an. An der Rezeption bestellte er ein üppiges Frühstück für zwei Personen und Champagner auf Madeleines Zimmer.
Als er vor ihrer Tür stand, atmete er eine Weile tief durch. Dann klopfte er.
Ein junger Mann öffnete ihm. Er trug nur eine hellblaue Pyjamahose.
„Darf ich Sie fragen, was Sie in Madeleines Zimmer machen?“ fragte Pierre, mühsam die Contenance wahrend.
„Es ist für dich“, rief der junge Mann ins Zimmer und trat zur Seite.
Pierres Strauß war schon gesunken und hing schlaff in seiner Hand.
„Madeleine! Was soll das?“
Sie lächelte ihn an. Es war bezaubernd.
„Madeleine?“
Aber sie schwieg immer noch.
Pierre wusste nicht, ob er heulen oder toben sollte. Da stand sie vor ihm in einer hellblauen Pyjamajacke, die ihr fast bis zu den Knien reichte, und lächelte ihn an.
„Hat der Typ dir ein besseres Angebot gemacht?“
„Nein.“
„Was kann er dir geben? Hat er viel Geld?“
„Nichts. Er besitzt keinen Cent.“
„Was hat er, was ich nicht habe?“
„Er ist schön. Und jung.“
„Ist das alles?“
„Er ist ein großartiger Tänzer.“
Pierre ging. Er fühlte sich betrogen. Durch Madeleines Undank verraten.
Madeleine starb in der nächsten Folge von „Paris – Tag und Nacht“ einen tragischen Unfalltod und studiert wieder Sprachen an der Sorbonne Nouvelle.
The Velvet Underground & Nico - I'll be your mirror. https://www.youtube.com/watch?v=YfhZwbMqbkE
Sie hat Recht, scheiss auf das Geld
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