Montag, 8. Juni 2015
Urlaubsbilder
Im Frühstücksraum des Hotels sitzt eine Frau am Nachbartisch. Sie beobachtet mich, während ich Weißwürste mit süßem Senf, Mini-Frikadellen, Rührei, Mozzarella mit Tomate, Käse- und Schinkenbrötchen verdrücke, abwechselnd Orangensaft und Kaffee trinke und mit N. den Tagesplan bespreche. Neben unseren Tellern liegen Bücher, Stadtpläne und Landkarten. Sie beobachtet mich, während sie ganz langsam das Obst auf ihrem Teller verspeist und Mineralwasser trinkt. Trotz ihrer jungen Jahre ist sie unglaublich dick. Sie beobachtet nicht mich, sondern meinen Teller. Sie träumt sich in mein Essen hinein, sie erinnert sich an den Geschmack von Wurst und Brot, während sie ein Stück Honigmelone in ihren Mund schiebt.
Direkt neben dem Hoteleingang ist eine Spielhölle voller blinkender Automaten. Am Eingang steht ein Glatzkopf mit Tanktop und komplett tätowierten Armen, der ein Handy an sein Ohr hält und raucht. Gegenüber sehe ich die „World of Sex“ und „WurstDurst“. Erotische Tänze werden auf dieser Straße auch angeboten. Ist das eine Anmutung von Rotlichtmilieu im Auenland? Bin ich auf dem Reeperbähnchen gelandet, St. Paulinchen hinter den sieben Bergen?
Nachts weckt mich der dumpfe Lärm einer Disco. Erst denke ich, es ist eine Maschine, aber der Rhythmus wechselt gelegentlich. Es ist Techno. Das ganze Haus vibriert wie ein Schiff.
Nürnberg: Hier haben sich die Nazis feiern lassen, hier wurde ihnen der Prozess gemacht.
Abends auf dem Bierfest. Über uns die Burg. Als N. sich für keines der drei Biere am Stand einer Brauerei entscheiden kann, bekommt er drei Gläser angezapft und darf alle probieren. Die freundliche Gelassenheit der Franken. Später sitzen wir in der Dämmerung auf einer Piazza vor einer Kirche. Die Stille. Junge Leute sitzen auf den Stufen vor einem riesigen alten Haus.
Ich bin jetzt in einem Alter, in dem man mit der Fernsehzeitschrift im Gepäck verreist. In fünf Jahren bin ich bereit für ein Barry Manilow-Konzert – wenn er dann noch lebt.
Wo Raucher sind, ist auch Feuer.
Das fränkische Alphabet ist kürzer als das deutsche. T und K fehlen („Dürge“). Vokal des Monats: O.
Bettelnde Punks, überhaupt Bettler und Punks. Zwischen Königstor und Marientor gibt es in einem Gässchen an der Stadtmauer eine regelrechte Alternativszene. All das habe ich in Franken noch nie gesehen. Offenbar ist Nürnberg der einzige Ort in Franken, wo man als Aussteiger oder Künstler leben kann – wenn man nicht gleich nach Berlin geht.
Germanisches Nationalmuseum. Monster-Ausstellung. Lucas Cranach d.Ä. zeichnet Werwölfe, Edvard Munch malt Vampire. Das Monster als Projektion des Bösen im Menschen, als Manifestation der Sünde. Die Nacht in uns. Grässliches Bild von Azzolino: Seele in der Hölle. Monster von der Antike bis heute (Weißer Hai, Frankenstein), Dystopien wie Blade Runner. Ist die heutige Obsession für Monster (Film, Fernsehen, Computerspiel usw.) das Zeichen eines schlechten Gewissens? Blicken wir in den Spiegel, wenn wir Vampire, Werwölfe, Mutanten und Zombies sehen, diese egozentrischen Weltzerstörer, diese Vernichter des Lebens?
Dauerausstellung des Museums. Rembrandt-Selfie: Er malt sich, als sei er ein Kind. Faltenloses Gesicht, weiche Nase, kleines rotes Mündchen. Cranachs „ungleiches Paar“: die junge Frau und der alte Bonze. Die Gier und die Geilheit. Er hat das Thema über vierzig Mal auf der Leinwand verewigt, oft hat die Frau die Hand am Geldbeutel des Mannes, der Mann die Hand am Busen der Frau. Ein weiteres Highlight: der erste Globus. Amerika fehlt. Eine schöne Welt.
Rothenburg ob der Tauber, unsere nächste Station. Mekka für Spitzweg-Epigonen. Essen im „Reichsküchenmeister“, im Mittelalter war das ein Staatsamt, der Inhaber nur dem Kaiser verpflichtet. 2015 liegt links von unserem Tisch Dallas, rechts Yokohama.
Über dreißig Grad im Schatten. Ich wechsle die Hemden wie ein Rockstar die Frauen.
Pension „Zum Birnbaum“ in Bad Windsheim: Als ich mit N. in die Gaststube komme, nimmt die Wirtin zwei Zimmerschlüssel aus einer Schublade. Während ich die Anmeldung ausfülle, wartet N. – gewichtsmäßig wie ich im dreistelligen Bereich – im Vorraum. Anschließend drückt mir die Wirtin einen Schlüssel in die Hand und sagt: „Ihr Kollege ist ja eher schmächtig. Ich gebe Ihnen das größere Zimmer.“ Seitdem heißt N. „der Schmächtige“. In Franken darf man dick sein.
In einer Halterung unter der Zimmerdecke kauert die TV-Briefmarke mit Röhrenbetrieb, wie ich sie als Reisender aus den amerikanischen Motels des vergangenen Jahrhunderts kenne.
Auf dem Nachttisch steht eine Lampe, aber sie geht nicht an, wenn man auf den Schalter drückt. Ich verfolge das Kabel, sie ist nicht angeschlossen. Und nirgendwo in der Nähe ist eine Steckdose. Wieso?! Wo ist da der Sinn? Aber sie ist hübsch mit ihrem gehäkelten vanillepuddingfarbenen Überzug und passt zu meiner Bettlektüre, Falladas „Kleiner Mann – was nun?“
Auf dem Frühstücksbuffettisch steht ein Teller mit Donauwelle. Einer meiner vielen Lieblingskuchen. Ich esse unverschämt viele der kleinen Stücke. Es ist wie ein Rausch.
Bad Windsheim. Das älteste Haus ist von 1210. Vor dem Rathaus blickt man durch Scheiben in die Tiefe, wo tausend Jahre alte Skelette liegen. Hier brach der erste Deutsche auf, der Alaska gesehen hat. Vormittag am Brunnen vor dem Gasthaus Döbler. Das vorzügliche Altstadt Hell. Einheimische am Nachbartisch, dort ist das Erdbeben von Nepal noch ein Thema: „Katmandu konnsd vagessa, konnsd nemma hi.“ Wo ist Polt, wenn man ihn braucht?
Ein Tisch weiter eine Gruppe junger Amerikaner bei Weißbier, Weißwürsten und Obstler. Ich würde ihnen gerne das Geheimnis der Würste mithilfe des Begriffs „Monkeybrain“ erläutern, unterdrücke aber das Böse in mir. Was mir auffällt: Dumme Leute sind oft gut gelaunt.
Im Ort gibt es keine „Dauerkampfpreise“ oder Filialen großer Ketten, sondern Fachgeschäfte und Einzelhändler. Gute Bäcker, keine Aufbäcker.
Marktbreit. Ochsenfurt. Unbekannte Perlen. Frühschoppen in einem unprätentiösen Hinterhofbiergarten. Alte Männer mit Hüten, denen sofort das Stammgetränk gebracht wird, wenn sie sich niedergelassen haben. Die winzige fassförmige Kellnerin mit dem Bubikopf.
P.S.: Was war los, während ich weg war?
1. Irgendwo in meinem Urlaubsbundesland hat eine Raubritterbande namens „G 7“ auf einem Schloss ein Fest gefeiert. Kosten: 360 Millionen Euro. Wenn etwas 360 Millionen kostet, dann hat auch jemand 360 Millionen verdient. Darüber hätte ich mir von den Medien Aufklärung erhofft: Wohin geht das viele Geld? Immerhin hat die Sause eine Million Mal mehr gekostet als mein fünftägiger Urlaub.
2. Helmut Kohl, eine feste Größe in meinem Hassuniversum, liegt auf der Intensivstation.
3. Für die griechische Regierung gab es mal wieder ein „allerallerletztes Angebot“. Die Flohmarktsprache der Medien. Das ist jetzt wirklich mein letztes Angebot. Als erfahrener Flohmarktbesucher weiß man ja, dass man einfach nur warten und die Nerven behalten muss. Wird alles noch billiger.
Pet Shop Boys – Jealousy. https://www.youtube.com/watch?v=RmV_-Eu_OQ0
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