Donnerstag, 11. Juni 2015
Erlöse uns
Windig und kalt war es an diesem Morgen. Der Weg vom Hauptbahnhof in die Invalidenstraße zog sich in die Länge. Berlin ist doch groß, dachte der kleine Mann, als er an einer Ampel wartete und den Verkehr betrachtete. Aber er wollte das Geld für den Bus sparen. Die Zugfahrt von Finsterwalde in die große Stadt war teuer genug gewesen.
Das Gebäude war ein riesiger dunkelgrauer Kasten. Es wirkte so massiv, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, es sei innen hohl und beherberge tatsächlich Menschen. Mit dem Aufzug fuhr er in den vierten Stock. An der Milchglastür stand: „Kanzlei Dr. Sebastian Lichtsteiner“.
Er klopfte an. Nichts zu hören. Er klopfte lauter. Endlich: „Herein“.
Eine ältere Dame saß hinter einem Computermonitor und sah ihm streng in die Augen. „Sie wünschen?“
„Karg ist mein Name. Ludwig Karg.“
Sie klickte auf der Tastatur herum. „Karg. Zehn Uhr. Nehmen Sie Platz!“
In einem Winkel des Vorzimmers stand ein Sofa mit hellgrauem Stoffbezug. Der kleine Mann setzte sich.
Das Telefon klingelte. Die Vorzimmerdame drückte eine Taste und sagte: „Kanzlei Lichtsteiner.“ Dann lauschte sie eine Weile. „Bedaure, Herr Doktor Lichtsteiner hat einen Außentermin.“ Sie drückte wieder eine Taste und konzentrierte sich wieder auf ihren Monitor.
Das kann ja noch dauern, dachte der kleine Mann. Auf einem Tisch neben dem Sofa lagen Zeitschriften: „Finanzwelt“, „Geld heute“ und „Börsenexpress“.
Er wartete so lange, dass er regelrecht zusammenzuckte, als er von der Vorzimmerdame angesprochen wurde.
„Sie können jetzt hineingehen.“
„Danke“, sagte er leise und ging auf die zweiflügelige Tür zu. Sie war mit grünen Leder gepolstert, das mit Messingnieten am Rahmen befestigt war.
Er betrat das Büro von Dr. Lichtsteiner. Es war riesig. Sicherlich größer als seine ganze Wohnung in Finsterwalde. Die hohe Decke verlor sich in der Dunkelheit.
An einem Panoramafenster, das eine ganze Seite des Büros einnahm, stand ein großer Mann in einem dunkelblauen Anzug und blickte auf die Stadt hinab.
Karg blieb stehen und wartete, bis sich Lichtsteiner zu ihm umdrehte.
„Guten Morgen. Setzen Sie sich doch!“
Der kleine Mann erwiderte schüchtern den Gruß und ging zum Schreibtisch in der hinteren Hälfte des Raums. Er bestand aus schwarzem, massivem Holz und war etwa so groß wie zwei Tischtennisplatten. Dahinter stand ein gewaltiger Drehsessel aus dunkelbraunem Leder.
Karg setzte sich auf den winzigen Hocker vor dem Schreibtisch und sah zu Lichtsteiner hinauf, der majestätisch auf seinem Sessel thronte.
Der große Mann zog eine Schublade auf und nahm eine Akte heraus. Er blätterte eine Weile in den Schriftstücken, die sie enthielt, und zog dann einen geschlossenen Umschlag hervor.
„Ihr Name ist Ludwig Karg?“
Der kleine Mann nickte.
„Können Sie sich ausweisen?“
Mit leichtem Zittern nahm der kleine Mann seinen Personalausweis aus der Brieftasche, stand auf und reichte ihn über den großen Tisch.
„Nun, ich habe Sie zu mir bestellt, weil ich beauftragt wurde, das Testament von Samuel Kramschuster zu vollstrecken. Ihr Onkel ist 1948 nach Amerika ausgewandert und hat sein Leben in Philadelphia verbracht. Dort hat er es als Unternehmer zu großem Ansehen und zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht. Unglücklicherweise hat er keine Kinder hinterlassen und daher bestimmt, dass sein Erbe zu gleichen Teilen an seine Verwandtschaft gehen soll.“
Der kleine Mann war wie betäubt. Ein Onkel in Amerika? Dunkel erinnerte er sich, dass seine Mutter früher von Onkel Sam gesprochen hatte. Sie hatten sich regelmäßig Briefe geschrieben, aber er selbst hatte diesen Onkel nie kennengelernt. Seine Mutter war vor über zehn Jahren gestorben.
Er hörte der sonoren Stimme des Notars kaum zu. Nur am Ende horchte er auf. Eine Million Dollar. Eine Million! Der Notar wollte seine Kontonummer wissen, um das Geld überweisen zu können. Wieder nestelte er an seiner Jackentasche herum, holte seine Geldkarte heraus und reichte sie dem großen Mann.
Eine Million, dachte er immer wieder. Er war jetzt sechzig Jahre alt. Seit vielen Jahren arbeitslos. Und jetzt das. Sein Leben würde sich verändern.
Was macht ein Mann, der weder Frau noch Kinder hat, mit einer Million? Konnte er es seinen Freunden und Nachbarn überhaupt verraten? Sollte er Finsterwalde verlassen? Was mache ich mit so viel Geld, dachte der kleine Mann auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Was mache ich jetzt?
Cyndi Lauper - Money Changes Everything. https://www.youtube.com/watch?v=3aK-UjR3Oj4
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen