Freitag, 19. Juni 2015
Der Ticker
Als ich, nach sieben Jahren unentgeltlicher Tätigkeit als Redakteur einer Schülerzeitung, im Alter von achtzehn Jahren als Lokalreporter der Mainzer Allgemeinen Zeitung mein erstes Geld mit Schreiben verdiente, gab es tatsächlich noch einen Ticker. Damals berichtete ich über Kindergarteneröffnungen und Hauptversammlungen von Karnevalsvereinen, der investigative Journalismus musste noch ein Weilchen warten.
Geschrieben wurde noch auf der Schreibmaschine und auf speziellem Papier, das die Ränder der Zeitungsspalten vorgab. 45 Anschläge pro Zeile. Im Gegensatz zu den heutigen Texten für das Internet gab es eine klare Zeilenvorgabe des Chefredakteurs: vierzig Zeilen, sechzig Zeilen oder, wenn man Glück hatte, achtzig Zeilen. Und daran hatte man sich sklavisch zu halten, bei Zuwiderhandlung wurde gemeckert und gekürzt. Pro Zeile bekam ich 25 Pfennig, für einen der üblichen Vierzig-Zeilen-Artikel gab es also zehn D-Mark. Dafür konnte man abends im Pony Express am Ingelheimer Bahnhof vier Flaschen Henninger Export (0,5) trinken. Und am nächsten Tag musste der Text bis 17 Uhr in der Redaktion sein. Im Gegensatz zum Online-Journalismus gab es einmal am Tag einen Redaktionsschluss, dann wurden die Texte gesetzt und anschließend die Druckpresse angeworfen.
In der Ingelheimer Lokalredaktion stand, inmitten des verqualmten und lichtarmen Durcheinanders aus Zeitungen, Zeitschriften, Kisten, Kästen und Menschen, ein Gerät, das auf den ersten Blick aussah wie meine Schreibmaschine zu Hause: ein Telex-Gerät, der sogenannte Nachrichten-Ticker. Über diese Fernschreiber schickten die Nachrichtenagenturen ihre Meldungen an die Zeitungsredaktionen. Auf einem schmalen Papierstreifen kamen die Neuigkeiten aus dem Gerät, nur wenige Buchstaben pro Sekunde. Der Reissack in China fiel quasi in Zeitlupe um. Diese Papierstreifen wurden dann mit einer Schere zerschnitten und die einzelnen Meldungen wurden den verschiedenen Ressorts zugeteilt. Sobald das Gerät eine Meldung empfing und ausdruckte, machte es ein tickendes Geräusch. Daher der Name. Noch heute erkennt man ältere Journalisten an der Formulierung, eine Meldung sei gerade erst aus dem Ticker gekommen.
Irgendwie hatte damals der Journalismus noch mit Bewegung, Mechanik und vielen Menschen zu tun. Es war viel aufregender. Würde man es noch rechtzeitig zum Abgabetermin mit dem Fahrrad in die Redaktion schaffen? Hatte der Fotograf es in seiner Dunkelkammer zu Hause geschafft, die Bilder zu entwickeln, oder waren sie nichts geworden? Hatte man vergessen, den Vorsitzenden des Tennisclubs zu erwähnen, der mit dem Chefredakteur befreundet war? Hatte man vielleicht wirres Zeug geschrieben, weil man mal wieder bis Mitternacht in der Kneipe gesessen hatte und erst im Anschluss an der Schreibmaschine? Wurde noch kurz vor Redaktionsschluss eine Annonce ins Blatt genommen, die den Chefredakteur zwang, den genialen letzten Absatz über das Heimspiel der Spielvereinigung Ingelheim komplett zu streichen?
Und es war ein unvergleichlich schönes Gefühl, wenn man beim Frühstück die Zeitung aufschlug. Verdammt nochmal, sagte ich mir dann, du hast es mal wieder geschafft.
The Police - Too Much Information. https://www.youtube.com/watch?v=W0q3Vh1Yr9Q
Hach. Seufz.
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