Samstag, 24. Januar 2015
Zurück im Klassenzimmer
Da bin ich also wieder. Meine alte Schule. Das Gebäude habe ich vor dreißig Jahren zuletzt betreten. Zur Abi-Feier. Jahrgang 1985. Für mich klingt das nicht nach ferner Vergangenheit. Hey, ich trage immer noch Jeans, meine Haare sind nicht wesentlich kürzer als damals - und sie sind noch komplett auf meinem Kopf und wachsen nicht aus meinen Ohren! Ich finde Dinge immer noch „cool“, notfalls kann ich auch „krass“ sagen und fühle mich immer noch als Rebell. Gut, meine Haare und mein Zip-Hoodie sind grau. Und mein Gewicht hat exakt um eine der beiden Abiturientinnen zugenommen, die mir heute ein paar Fragen stellen wollen. 24. Januar 2015.
Ich bin wieder in meinem alten Klassenzimmer. 5a. Damals war ich ein „Sextaner“. Das ist sowas wie ein Rekrut, ein Praktikant, ein Fahrschüler, ein Nichts. Dreizehn Jahre war ich auf der Schule, neun davon auf diesem Gymnasium. In diesem Gebäude. Die Schule hat ein paar Jahresringe bekommen, die Flure sind mit bunten Gemälden verziert, ich sehe keine Graffiti an den Außenwänden. Aber es ist mein Klassenzimmer. Und ich darf am Lehrertisch Platz nehmen. Die Scheinwerfer und die Kamera sind auf mich gerichtet. Ich habe ein Mikrophon in der Hand. Ein Glas Mineralwasser, Kinderschokolade und Kekse bilden den Rahmen für meine imposante Persönlichkeit.
Wie war die Schule damals? Was war schön? An was erinnere ich mich? Sie stellen einfache Fragen und ich rede wie ein alter Mann. Ich rede nicht vom Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung, von unseren Träumen, von unseren kleinen Heldentaten. Ich erzähle vom Fußballverein und wie wir uns in der großen Pause Chips und Cola bei Penny um die Ecke gekauft haben. Die beiden jungen Frauen könnten meine Töchter sein. Als sie geboren wurden, habe ich längst als Wissenschaftler gearbeitet.
Ich erzähle, was wir nach dem Abi für Aktionen gestartet haben. Wir haben nachts eine Mauer quer durch den Flur im ersten Stock (vor dem Lehrerzimmer) gebaut, um die Sprachlosigkeit zwischen Schülern und Lehrern zu dokumentieren. Eine echte Mauer aus Hohlblocksteinen, Mörtel und Schnellbinder. Wir haben ein Schrottauto in den Eingangsbereich geschoben und mit Metallbügeln sämtliche Eingänge des Gebäudes zugeschweißt. Wir haben die Wände mit staatsfeindlichen Parolen verziert, für die heute der Verfassungsschutz anrücken würde. Sie verstehen es nicht.
Ich merke, wie fremd ich in dieser fröhlichen Lehranstalt bin. Der Direktor hat mir zum Abschied vor dreißig Jahren gesagt, er würde mich anzeigen und ich hätte Hausverbot. Nun bin ich wieder hier, der Direktor ist längst in Rente und die Interviewerinnen erklären mir lachend, die Sache sei verjährt. Ja, es ist verjährt. Es ist vorbei. Es hat sich nichts geändert. Am Ende frage ich die jungen Menschen, was mit den Interviews passieren wird. Es seien zwanzig ehemalige Schüler interviewt worden, sagen sie. Die lustigsten Antworten würden zu einem Video zusammengeschnitten, das bei der Feier zum 125. Jubiläum des Sebastian-Münster-Gymnasiums Ende Juni gezeigt werden wird. Ich bekomme eine Einladung, versprechen sie mir.
Als Geschenk lasse ich ein Exemplar meiner Gandhi-Biographie da, die ich vor knapp zehn Jahren bei Suhrkamp veröffentlicht habe. Vielleicht wirft in der Schulbibliothek einer der heutigen Schüler mal einen Blick hinein? Das Buch eines ehemaligen Schülers, der in dieser Viertelstunde an seiner alten Schule in Ingelheim begriffen hat, was dreißig Jahre bedeuten. Vielleicht wäre das Altwerden nicht so brutal, wenn man selbst Kinder hätte? Auf dem Heimweg pfeife ich mir einen Döner und ein Bier ein. „Können Sie Ihre Schulzeit in einem Wort zusammenfassen?“ „Lang“, habe ich geantwortet. „Diese Zeit ist mir einfach verdammt lang vorgekommen.“
Vera Lynn - We'll Meet Again. https://www.youtube.com/watch?v=cHcunREYzNY
Hut ab. Ob ich einen Besuch in der ehemaligen schule schadlos überstehen würde? Eher nicht. Ich merke schon beim Betreten jeder x-beliebigen Schule, wie alt ich offenbar geworden bin. Und in welch grässlicher Erinnerung ich diese zeit habe.
AntwortenLöschenIm direkten Vergleich zu den sehr jungen Schülern bist Du vielleicht "alt". Ansonsten nicht. Da kommt noch jede Menge.
AntwortenLöschenUnd ja, ich glaube auch, dass eigene Kinder das Älterwerden einfacher machen würden.