Donnerstag, 22. Januar 2015
Leserbriefe
Andy Bonetti war damals noch ein junger Autor und hatte es mit „Gefangener der Finsternis oder Stromausfall auf Pellworm“ gerade zu bescheidenem Ruhm gebracht. Da erreichten ihn, über seinen Verlag, die ersten Leserzuschriften. Wie alle Novizen fühlte er sich durch das Lob der Leser geschmeichelt, er las ihre positiven Urteile mehrfach und oft rettete ein solcher Brief den ganzen Tag. Aber es gab auch negative Zuschriften und es ärgerte ihn maßlos, wenn er falsch verstanden wurde. Zu seinem ersten Erfolg erreichte ihn folgender Brief von einer Frau Blaukraut:
„Sehr geehrter Herr Bonetti, ich lebe seit meiner Geburt auf Pellworm und bin über einige Unstimmigkeiten in Ihrem Roman gestolpert. Das geht schon mit dem Titel los. Der von Ihnen beschriebene Stromausfall findet größtenteils am helllichten Tage statt, von Finsternis kann also keine Rede sein. Und wir sind auch keine Gefangenen auf unserer Insel, denn die mit Diesel betriebene Fähre ist auch bei Stromausfall unterwegs, so dass wir jederzeit das Festland erreichen können. Die dramatische Szene, in der ein künstlich beatmeter Patient im Krankenhaus nach dem Stromausfall mit dem Tode ringt, kann sich niemals abspielen, da wir gar kein Krankenhaus mit Intensivstation haben. Wir haben hier nur einen Allgemeinmediziner und einen Tierarzt. Und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass eine Sturmflut ein Stromkabel zum Festland zerstört? Wir haben hier ein eigenes Kraftwerk und zahlreiche Windkraftanlagen. Ihr Hauptdarsteller kann sich über viele Stunden seine heißgeliebte Paella nicht warmmachen, die angeblich eine regionale Spezialität sein soll. Wir essen gerne auch mal kalten Matjes. Ansonsten gehören Krabben, Meeräsche und Kabeljau zu den Gerichten, die hier gerne verzehrt werden, aber auch Lamm und Wildente. Und der hiesige Dialekt ist auch nicht Friesisch, das seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr auf der Insel gesprochen wird, sondern Niederdeutsch. Die von Ihnen angesprochene ‚verheerende Sturmflut von 1993‘ ist mir ein Rätsel, die letzte große Sturmflut gab es 1825. Mit freundlichen Grüßen, Renate Blaukraut“
Bonetti war so wütend, dass er umgehend antwortete:
„Sehr geehrte Frau Blaukraut, es handelt sich bei den von Ihnen angesprochenen, vermeintlichen Fehlern um Allegorien. Um Metaphern, verstehen Sie? Die Hauptfigur, Benedikt Eisendraht, fühlt sich im existenzialistischen Sinne gefangen, auf der Insel wie auch in seinem bürgerlichen Leben. Daher habe ich ihm den Beruf des Leuchtturmwärters gegeben. Weil man in diesem Beruf auch sehr einsam ist. Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht wichtig, ob es auf Ihrer Insel überhaupt einen Leuchtturm gibt. Verstehen Sie das Prinzip? Der Koma-Patient im Krankenhaus ist eine Metapher für die Abhängigkeit des Menschen von der Technik. Daher auch die Paella als Allegorie. Wenn Eisendraht kalten Hering essen würde, ergäbe das doch gar keinen Sinn! Und außerdem steht Paella für seine Sehnsucht nach Sonne, nach Urlaub und repräsentiert seine Erinnerungen an einen Urlaubsflirt in Palma de Mallorca im Jahr zuvor. Das Stromkabel, das Pellworm mit dem Festland verbindet, verkörpert in diesem Zusammenhang das Netzwerk der modernen Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Es gibt Kaskadeneffekte, die bis auf die letzte abgelegene Insel zu spüren sind. Und so legt die Kurzschlussreaktion eines liebeskranken Ingenieurs im Kraftwerk auf dem Festland das Leben auf einer ganzen Insel lahm. Fehlende zwischenmenschliche Wärme = fehlende zwischenmenschliche Energie zum Kochen und für die Beleuchtung. Ich hoffe, Sie verstehen meinen Roman jetzt besser, und verbleibe mit freundlichen Grüßen, Andy Bonetti“
Schon zwei Tage später hatte er einen weiteren Brief von Frau Blaukraut im Briefkasten:
„Sehr geehrter Herr Bonetti, wenn in Ihrem Roman alles eine Metapher ist, bedeutet dann die Modelleisenbahn von Herrn Eisendraht, dass er sich im Kreise dreht? Hat er aufgrund seines Wohnorts eines Inselbegabung? Sind die fehlenden Dialoge in Ihrem Roman eine Allegorie auf die Sprachlosigkeit dieser Welt? Steht sein Single-Dasein stellvertretend für die allgemeine Bindungsunfähigkeit der Männer? Deutet die hellbraune Farbe seines Hauses auf Diarrhö hin – oder auf die Beschissenheit des Lebens im Allgemeinen? Wollen Sie dem Leser mit der Anekdote über die Pizza Pellworm, die niemals bestellt wird, weil alle glauben, sie wäre mit Gummistiefelstückchen belegt, etwas über die allgemeine Beschränktheit der menschlichen Rasse mitteilen oder machen Sie sich einfach nur über Menschen wie mich lustig? Jetzt mal ganz im Ernst: Waren Sie überhaupt schon einmal auf Pellworm? MfG, Blaukraut“
„Frau Blaukraut“, antwortete daraufhin Andy Bonetti, „lecken sie mich am Arsch!!!“
Seitdem hat er nie wieder einen Leserbrief beantwortet.
Tocotronic – Let There Be Rock. http://www.youtube.com/watch?v=l4gWsyK5G-0
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