Samstag, 10. Januar 2015
Lebenskunst
Kann es einen solchen Zufall wirklich geben? Sonja und Frank lernten sich an der Universität der Künste in Berlin kennen. Sie waren beide Studenten in der Fachklasse von Floyd Hinterman, einem amerikanischen Professor, der mit seinen schreiend bunten Grafiken schon in den neunziger Jahren in New York für Furore gesorgt hatte. Sonja Lippschitz, die unter dem albernen Künstlernamen Vicky Durstojewski gerade ihre erste Ausstellung in einer Neuköllner Galerie „verwirklicht“ hatte, wie sie gerne sagte, arbeitete an Collagen aus „objets trouvés“, die sie auf ihren Spaziergängen durch die Stadt sammelte. Frank Aschinger war ein Multitalent: tagsüber Briefträger und Poet, nachts Schlagzeuger der „Gescheiterten Exzellenzen“ und Graffiti-Künstler. Mit dem Lyrik-Band „Weasel words – faule Ausreden“ wurde er Jahre später zu einem geachteten Mitglied des literarischen Untergrunds in Berlin.
Sie waren schon längst ein glückliches Paar, als sie sich eines Abends gegenseitig die profane Wahrheit über ihre Herkunft beichteten. Kann es einen solchen Zufall wirklich geben? Sie waren beide aus Wichtelbach im Hunsrück – und sie waren sich tatsächlich noch nie begegnet. Wie konnte das geschehen? Das ist ganz einfach: Sonjas Vater, Hubertus Lippschitz, arbeitete als Immobilienmakler in Wiesbaden und war der reichste Mann von ganz Wichtelbach; Franks Vater, Günter Aschinger, war ein Säufer und Schnorrer. Na und? Wir leben im 21. Jahrhundert und es handelt sich um zwei erwachsene Menschen, die zusammen in Berlin leben. Was interessieren uns ihre Väter im über sechshundert Kilometer entfernten Wichtelbach? Aber sie hatten ein Problem, als sie ein Jahr später heiraten wollten.
Frank rief seinen Vater an und erklärte ihm alles. Die Tochter vom Lippschitz? Der alte Aschinger wollte es gar nicht glauben. Er fragte seinen Sohn, ob dieser arrogante Bonze, der in einer umgebauten Mühle aus dem 18. Jahrhundert residierte, schon über die bevorstehende Hochzeit informiert wäre. Nein, sagte Frank. Der Vater solle doch bitte dem als schwierig geltenden Lippschitz die Erlaubnis abringen, da Sonja gerne im Kreise der Familie und der Freunde in der Wichtelbacher Dorfkirche getraut werden wolle. Davon habe sie schon immer geträumt. Also gut, willigte Aschinger ein, gleich heute Abend werde ich zu Lippschitz in die Mühle gehen, denn tagsüber war der Makler in seiner Wiesbadener Büro und Aschinger besaß weder ein Auto noch einen Führerschein.
Nun waren es noch einige Stunden bis zum Abend und der Vater des künftigen Bräutigams war ob des unverhofften Glücks ganz unruhig. Er lief in seiner winzigen Wohnküche auf und ab, und bald darauf hatte er zur Beruhigung den ersten Schoppen getrunken. Wir ahnen es alle. Als er am Abend an der Haustür der Familie Lippschitz klingelte, war er sternhagelblau. Die Haushälterin öffnete und erkannte den alten Aschinger sofort. Schließlich kam er regelmäßig vorbei, um nach Kleingeld für die Dorfschenke oder einem guten Bissen zu fragen. Gelegentlich gab sie ihm etwas Brot und Käse, aber heute Abend hatten die Herrschaften Besuch von einem Arztehepaar, das sich für einen Gutshof in der Nähe interessierte. Also wollte Frau Jellinek, so hieß die wohlbeleibte Haushälterin, den streng nach Alkohol riechenden Schnorrer schnellstens vertreiben.
Aber Aschinger blieb hartnäckig. Er wolle nichts zu essen, noch nicht einmal Geld. Es ginge um eine wichtige Angelegenheit. Und er schlug so lange Lärm, bis der vor Zorn dunkelrot geschwollene Herr Lippschitz persönlich an der Tür erschien. Aschinger, ein dürres Männchen, dem nur wenige Zähne verblieben waren, strahlte über das ganze Gesicht. Er begrüßte den Immobilienmakler als künftiges Familienmitglied und eröffnete ihm nicht nur die Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit, sondern malte ihm ein rosiges Bild des zukünftigen Lebens der glücklich verbundenen Familien in Wichtelbach. Hubertus Lippschitz bekam einen Tobsuchtsanfall, packte den zwei Köpfe kleineren Aschinger am Kragen und zerrte ihn vom Hof. Mit einem gewaltigen Tritt in den Hintern beförderte er ihn auf die Landstraße und schloss das Hoftor.
Lippschitz telefonierte mit seiner Tochter. Bisher hatte er nur gewusst, dass sie in Berlin einen Freund hatte. Aber er hatte ja keine Ahnung, um wen es sich dabei handelte. Der Sohn von diesem Kretin Aschinger, der zum Gespött der ganzen Gegend geworden war. Der von Haustür zu Haustür, von Kneipe zu Kneipe zog! Niemals würde er dieser Hochzeit zustimmen. Unter keinen Umständen. Aber auch der alte Aschinger war wütend. Wie konnte man ihn so behandeln? Er hatte es gelernt, mit Demütigungen zu leben, aber das war eindeutig zu viel. Er telefonierte mit seinem Sohn. Niemals würde er dieser Hochzeit zustimmen. Unter keinen Umständen.
Sonja Lippschitz und Frank Aschinger beschlossen, nach Wichtelbach zu fahren, um die Dinge zu klären. Sonja redete mit ihrem Vater. Der Beschluss war unumstößlich. Frank und sonst keiner. Aber Lippschitz gab keinen Millimeter nach. Auch Frank redete mit seinem Vater. Aber es nutzte nichts. Die beiden alten Männer waren unversöhnlich. Was sollten sie tun? Wieder nach Berlin zurückfahren? Ohne Familie heiraten? Ihre Kinder ohne Großeltern aufwachsen lassen? Nein. Sie wollten sich den sturen Alten nicht beugen. Also griffen sie zu einer List: Kunst.
Am Abend traf Frank seinen Vater in der Dorfkneipe und spendierte ihm solange Schnaps und Wein, bis er ihm ein Versprechen abgerungen hatte. Der alte Aschinger würde der Hochzeit zustimmen, wenn der reiche Lippschitz einen Tag wie er lebte. Ein Tag wie ein armer Schlucker zu leben, das war die Bedingung. Frank war zufrieden und in der Nacht malte er gutgelaunt die Außenmauer der Mühle an. Und als der alte Lippschitz am Morgen in sein Auto steigen wollte, blickte er in lauter lachende Kindergesichter in sämtlichen Regenbogenfarben.
Sonja hatte derweil den Bürgermeister von Wichtelbach in den Plan eingeweiht und bald entstand auf dem Marktplatz eine beeindruckende Installation aus Alltagsgegenständen, die den Wichtelbachern entbehrlich schienen. Frank saß vor dem Kunstwerk auf dem Boden und spielte Bongo. Wer mochte, konnte ein wenig Kleingeld in einen Hut werfen. Sonjas und Franks Freunde kamen, machten Fotos und Podcasts und stellten das Event ins Internet. „Wichtelbach macht sich frei“ schaffte es in kurzer Zeit in alle lokalen Medien und verbreitete sich rasant im Internet. Der Name Lippschitz wurde ebenso bekannt wie der Name Aschinger und bald wurde der Immobilienmakler von seinen Kunden auf die Aktion angesprochen.
Der alte Lippschitz kam also zum Marktplatz und fragte seine Tochter, was das alles eigentlich solle. Man würde schon über ihn sprechen. Sie erklärte ihm, dass sie Frank in Wichtelbach heiraten wolle, und er nicht nur zustimmen, sondern auch noch einen Tag wie Günter Aschinger leben müsste. Außerdem würden sie von diesem Tag ein Video machen und es bei Youtube veröffentlichen. Lippschitz stand kurz vor einem Herzinfarkt, aber dann kam das Beste: Seine Tochter erklärte ihm, dass sie am Sonntag splitternackt und mit dem Spruch „Kunst darf alles“ auf dem Oberkörper die katholische Kirche stürmen wolle. Lippschitz bekam einen Schwächeanfall und musste sich kurz auf das Kopfsteinpflaster legen. Dann gab er auf. Der Hochzeit stand nichts mehr im Wege.
Am nächsten Tag holte der alte Aschinger den Immobilienmakler vor der Mühle ab. Er erklärte ihm, er solle beim Schnorren erzählen, er sei bankrott und nun auf jede Hilfe angewiesen. Um neun Uhr morgens ging es los. Lippschitz klingelte in seinem ältesten Sakko an der ersten Tür. Aschinger und seine zukünftige Schwiegertochter mit der Kamera hielten sich unauffällig im Hintergrund. Lippschitz erzählte, er sei völlig pleite, müsse die Mühle verkaufen und bitte um eine kleine Spende oder wenigstens ein Stückchen Brot. Hämisch wurde er abgewiesen. Das würde ihm ganz Recht geschehen, sagte der Hausherr. Und: Von mir kriegen Sie nichts. An der nächsten Tür bekam er zu hören, er habe sich in all den Jahren nie um Wichtelbach gekümmert. Habe sich nie im Dorf blicken lassen. Bei keinem Gemeindefest, keinem Gottesdienst. Habe weder gespendet noch den Sternsingern die Tür geöffnet. Rumms! Schon flog die Tür zu.
Lippschitz musste sich eine Menge anhören. Beleidigungen, Demütigungen. Auch von Leuten, die ihn nicht kannten. Er solle sich Arbeit suchen. Er solle sich schämen, bei anständigen Menschen zu betteln. Er solle machen, dass er von hier verschwindet. Aber er bekam gelegentlich auch etwas zu essen, ein Butterbrot, hier ein Stück Wurst, da ein Stück Käse und einmal sogar ein großes Stück Pflaumenkuchen. Als um 18 Uhr die Uhr des Kirchturms schlug und die Dorfkneipe öffnete, war er müde und erschöpft, aber er war nicht hungrig und hatte immerhin fast zehn Euro in der Tasche. Das Geld vertrank Lippschitz mit dem alten Aschinger und einen Monat später wurde in Wichtelbach eine rauschende Hochzeit gefeiert. Das Video behielt Sonja auf ihrer Festplatte – falls ihr Vater jemals diesen Tag als Aschinger vergessen sollte.
P.S.: Ich habe diese Geschichte nur nacherzählt. Das Original ist von Egon Erwin Kisch und heißt „Des Parchkopfs Zähmung“. Vermutlich hat er diese Geschichte von jemandem gehört, der sie wiederum von jemand anderem erzählt bekommen hat. Sie klingt jedenfalls unglaublich alt. In der ursprünglichen Version macht die Tochter eines „Börsenrats“ aus Mähren einen Hungerstreik.
The Love Committee – Love Rules. https://www.youtube.com/watch?v=m695yJdmobw
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