Samstag, 17. Januar 2015
2006, Teil 1
Auszüge aus dem Notizbuch:
10. Januar, Berlin. Ich kenne persönlich Menschen, die waren so besoffen, dass sie am nächsten Tag ihre TV-Fernbedienung im Kühlschrank wiedergefunden haben. Oder sie fanden sich selbst ohne Schuhe auf der Straße wieder, ohne sich an die Stunden zuvor erinnern zu können.
18. Januar. Unser Denken kommt keinen Augenblick zur Ruhe, die Gegenwart ist eine rasende Flipperkugel.
9. Februar. Mein Großvater war ein unglaublicher Trinker. Ich erinnere mich, wie ich ihn als Kind vom Fenster aus beobachtete, während er die hundert Meter von der Dorfkneipe zu unserem Haus hinter sich brachte. Er schwankte schwer, breitbeinig und wie blind tastend torkelte er die schmale Gasse entlang. Manchmal mussten ihn auch zwei starke Männer nach Hause tragen – und das war erst der Vormittag. Am Nachmittag wiederholte sich diese Prozedur. Keinen Tag ließ er aus, ein Mann mit Prinzipien.
3. März. E. wird wegen seiner miesen Pointen in mehreren Ländern steckbrieflich gesucht.
4. März. Wer trinkt, verliert sein Gedächtnis. Also schreiben viele Trinker. Nicht um zu vergessen, sondern um sich an etwas zu erinnern.
6. März. Heute gab es bei McDonald’s vergünstigte Bahnfahrkarten und so ging ich zur nächstgelegenen Filiale an der Tauentzienstraße. Ausgerechnet diese Filiale wurde offenbar vom Management für die Medien freigegeben, denn es warteten Viertel vor Acht nicht nur ein Dutzend Kunden, meistens Rentner, sondern ebenso viele Kamerateams. Endlich konnte ich einmal sämtlichen großen Fernsehsendern ein Interview verweigern wie ein Filmstar. Als um acht Uhr die Türen geöffnet wurden, ging ich in ein Blitzlichtgewitter und durch ein Spalier von Kameras wie ein frisch gewählter Bundeskanzler. Ich stellte mich an einer der fünf Kassen an – genau die, die nicht funktionierte. Nach quälenden Minuten des Wartens, in denen ich registrierte, dass weder Burger fertig waren noch die Fritteuse in Betrieb war (ich hätte etwas zu essen bestellen sollen, dann hätte ich den Laden vor der ganzen Presse blamiert), hatte ich endlich meine Tickets. Auf SAT 1 sah man mich abends in den Nachrichten: beim Schlangestehen, beim Reingehen, beim Bezahlen. Und später auch noch auf Pro7. Danke!
11. April. Plötzlich bin ich nicht mehr einer der vielen Bekloppten und Gescheiterten in dieser großen Stadt, sondern „Suhrkamp-Autor“. Unter diesem Label macht plötzlich alles einen Sinn: der Suff, der Schmutz, die Tage im Bett. Ja, so leben Schriftsteller eben. Das ist exzentrisch, nicht asozial! „Er hielt, wie viele damals, einen Autor kaum für etwas Besseres als einen Hanswurst, Windbeutel, Trunkenbold oder Spaßmacher nach Art eines Seiltänzers“ (Gontscharow im „Oblomov“). Viele stellen sich dieses Schriftstellerleben ganz einfach vor, aber die Zeit zwischen Verkatert-Sein und Besoffen-Sein ist knapp bemessen!
12. April. Letzter Satz einer Diskussion, die ich bei einem Nickerchen träumte: „Nichts wirklich Anziehendes hat seine Wurzel in der Materie.“
14. April. Die Beute überrascht den Jäger im Schlaf. Noch ehe er vollständig wach ist, hat sie ihre spitzen Zähne tief in das warme Fleisch seines Halses geschlagen.
15. April. Warten und Erwarten erzeugen Langeweile. Wer nichts erwartet, kann jeden Augenblick genießen.
16. April. Das Gehirn ist zur Lösung kleiner überschaubarer Aufgaben gemacht, nicht für große Gedanken. Kann sich jemand sein gesamtes eigenes Wissen vorstellen? Das gelingt so wenig wie die Vorstellung, eine Million Menschen seien in einem Krieg oder einer Hungersnot umgekommen. Alles Große sprengt unsere Vorstellungskraft und verflüchtigt sich ins Abstrakte, in die Dämonenwelt der Zahlen.
17. April. Die Schönheit der Ruinen, die sie ihrer Nutzlosigkeit verdanken. Die Ruine als Idealbild der Muße. Unsterbliche Botschaft, sterbender Bote.
19 April. Aus dem Logbuch der Realität, geschrieben bei acht Glasen: Die einzige Macht, die einzige Autorität, die der Pirat anerkennt, ist der Tod. Keine Regierung, keinen Gott. Daher die Piratenflagge mit Totenkopf und gekreuzten Knochen.
17. Mai. Gegen sechs Uhr morgens wurde die Stadt Wolfsleben angetrieben. Langsam drückten sich ihre ersten Häuser gegen die hölzernen Bootsstege am Ufer, die schließlich, nachdem sie wie gequält geklungen hatten, krachend zerbarsten. Wenig später saß sie endgültig und ein wenig schief auf dem Strand fest. Wir rieben uns verwundert die Augen, in den angeschwemmten Häusern wurden die ersten Fenster geöffnet. Nach einer Weile öffnete sich auch eine Tür, ein Mensch trat heraus und fragte, wo er denn sei. Die Stadt musste sich nachts losgerissen haben und wurde offenbar von der Strömung hierher getrieben. Wir waren alle ein wenig ratlos.
18. Mai. Suchen bringt Segen, Finden Fluch.
Der Papst nennt sich jetzt TAFKAR: The Artist formerly known as Ratzinger.
22. Mai. An dieser Stelle könnte der Text enden. Aber der Text endet nicht, das Selbstgespräch, die Selbstbeschimpfung enden nicht. Es geht weiter. Solange Blut durch diese Adern und Tinte durch diesen Stift fließen, geht es weiter. Das Wort „Ende“ wird eine völlig neue Bewertung, nein: eine abschließende und endgültige Neubewertung erfahren, mit diesem Wort wird buchstäblich alles vorbei sein. Ich werde mich Jonathan von und zu Ende nennen, wenn es vorbei ist, wenn der letzte Satz geschrieben ist. Ungeheuerlicherweise ist es jetzt fünf Uhr morgens, es ist Montag. Eigentlich fängt alles gerade erst an. Hier endet also nichts, gar nichts werde ich hier beenden. Ganz im Gegenteil beginnt hier etwas, eine neue Textform wird geboren, die Negation des Endes, das Ende des Endes wird hier erschaffen. Jeder Text soll zukünftig in diese Endlosigkeit, in diese Unendlichkeit münden, sich in sie ergießen wie ein Fluss ins Meer, nicht aufhören, sondern aufgehen im Strom der Erzählung, in der offenen See des Erzählens. Ein solches Ende ist eine neue Gestaltungsform und wahrlich diesen ersten Schluck Wein wert, der die Woche einleitet.
30. Mai. Dieser Satz eines vierjährigen Mädchens ist ein gutes Beispiel für magischen Realismus: „Der Flaschenöffner ist ein nützliches Haustier.“
11. Juni. Sehr sympathisch ist das Motto auf der brasilianischen Flagge: Orgien und Prosecco.
Beck – Loser. https://www.youtube.com/watch?v=YgSPaXgAdzE
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