Mittwoch, 31. Dezember 2014
Wie alles anfängt
Tief in der Wüste verborgen liegt die Festung. Ich reite schon seit Tagen durch das endlose Grau. Nur noch Staub, der aus der Flasche in meine Kehle rinnt, die Satteltaschen leer. Endlich erblicke ich die Zitadelle in weiter Ferne am Horizont.
Gegen Abend erreiche ich ihre steinernen Mauern. Zwei Soldaten lassen mich ein, stumm nehmen sie mein Pferd und führen es in einen verborgenen Stall. Dem Tor gegenüber liegt das Haupthaus, über dem sich die Zinnen der Festung in die Dämmerung erheben. Auf der Balustrade erkenne ich eine schemenhafte Gestalt, die mich heran winkt.
Als ich unter der Brüstung stehe, beugt sich der Fremde ein wenig vor und sagt: „Sie sind der neue Kommandant.“
„Ja“, rufe ich empor und eile schon die hohe Treppe hinauf.
Major Zong ist ein großer hagerer Mann. Er trägt eine bleifarbene Uniform und schwarze Stiefel. Als er mich in sein Dienstzimmer bittet, sehe ich im Licht der unruhig flackernden Kerzen, dass er blind ist. Seine Augen sind buchstäblich erloschen. Er wirkt sehr alt auf mich, mit zitternder Hand bietet er mir einen Platz an.
„Werter Ars Proctor! Wie Sie sehen, habe ich mein Augenlicht verloren. Ich sage das nicht, um ihr Mitgefühl zu erregen, sondern um Ihnen die ungewöhnlichen Schwierigkeiten dieser Außenstation und der mit ihr verbundenen Aufgaben zu verdeutlichen. Unser alter Kommandant – Gott sei seiner Seele gnädig – pflegte immer zu sagen: ‚Im Leben versucht man, den Gefahren zu entfliehen, in dieser Festung träumt man von ihnen‘. Die langen Jahre der Abgeschiedenheit, ich sage das in aller Offenheit, haben unserer Arbeit nicht gut getan. Die Wüste frisst sich unaufhörlich weiter in die kostbaren Reste der lebenden Natur und wir entfernen uns täglich mehr von dieser Welt. Es ist, als würden wir auf ein Meer hinaus getrieben werden."
Ich verstehe nicht, der lange Ritt hat mich müde gemacht. Ich bitte Major Zong, mir meine Gemächer zu zeigen. Ein kalter Wind weht über die Treppen, als wir zum Kommandoturm hinauf steigen. Umständlich öffnet der Major eine schwere knarrende Holztür und deutet stumm ins Innere. Ich sehe einen riesigen Schreibtisch, unzählige Apparaturen, durch eine uferlose Masse von Kabeln miteinander verbunden, und einige Bücherregale, die sich zur Decke hin in der Dunkelheit verlieren. Die Tür fällt ins Schloss, ich setze mich an den Tisch und beginne nachzudenken.
P.S.: Diese kleine Erzählung entstand am 8.11.1989. Am folgenden Tag fiel die Berliner Mauer und ich befasste mich in den folgenden Tagen mit dem „Superseifenblasenmann“ (siehe Blogeintrag vom 11.11.2009)
Mark Knopfler - Going Home - Theme of the Local Hero. https://www.youtube.com/watch?v=H2vCScBgf6s
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