Mittwoch, 3. Dezember 2014
Raumstation Berlin
Nach einer Woche gehörte er schon zur Oberschicht der Station. Sein Platonic Shadow war ein ehemaliges Model mit faszinierenden hellgrünen Augen, mit der er gemeinsam das abendliche Programm im Fernsehzimmer bestimmte und den Mittelpunkt der nachmittäglichen Gartengesellschaft bildete. Sie hatte in Rom einen Nervenzusammenbruch gehabt und litt unter Verfolgungswahn.
Mit einem jungen ungarischen Drehbuchautor arbeitete er an einem Skript über die Welt der Ureinwohner der kanarischen Inseln bei Ankunft der Spanier. Er machte im Garten Spaziergänge mit einem türkischen Gewaltverbrecher, der wegen seines Alkoholkonsums auf der Station war, und dem ein Zellengenosse während seiner knapp zehnjährigen Haft den Namen seines Sohnes falsch auf den muskulösen Oberarm tätowiert hatte (und niemand wagte es, über diese Geschichte zu lachen). Abends riefen sie alle zusammen einen Lieferservice an, der ihre Sushi-Menüs an der Pforte ablieferte.
Dann gab es den Münchner mit der hässlichen Narbe am Hals, die er von einem Selbstmordversuch mit einem Bowiemesser zurückbehalten hatte. Einmal Russisch Roulette mit einem Freund hatte er auch überlebt. Er sagte, sein Freund habe gewusst, dass nun eine Kugel kommen müsse. Blut und Gehirn waren über die gesamte Wand verteilt gewesen. Einmal hatten sie einen Gast aus Amerika, einen farbigen Rapper, der sich auf Koks mit der Polizei geprügelt hatte. Er spielte ihnen auf seinem Smartphone eigene Kompositionen vor und erzählte von seinen fabelhaften Einkünften im Drogengeschäft irgendwo in New Jersey. Am nächsten Morgen war er weg. Er erinnerte sich an seinen Zimmergenossen: Ein Student aus Steglitz, der Angst vor einem imaginären Cousin namens Tim hatte. Der junge Mann las ihm selbstgeschriebene Sonette vor und lieh ihm einen Shakespeare-Band. Und dann gab es noch die afrikanische Modedesignerin, die auf irgendeiner Droge hängengeblieben war und die Station nicht mehr verlassen wollte. Sie erklärte ihm die drei parallelen Narben auf ihrem Unterarm, die sie seit ihrer Kindheit hatte und die alle Menschen aus ihrem Heimatdorf in Ghana als Erkennungszeichen trugen.
Auf der Station lebten die verlassene brasilianische Braut eines Berliners, die ihr Kind vermisste, ein langmähniger Schweiger, der immer nur den Flur auf und ab ging, die ewig singende und Brot bunkernde alte Polin mit dem Rollator, der depressive nordafrikanische Fußballspieler, der jeden Tag gegen den Selbstmord kämpfte, die aggressive Schwäbin, die bei ihrem Umzug nach Berlin durchgedreht war, der ehemalige Journalist des Corriere della Sera, der früher das Geld mit vollen Händen ausgegeben hatte, und die kleine pummelige Frau mit der Entenstimme, die ernsthaft behauptete, Sigourney Weaver und ein anderer Darsteller aus „Alien“, dessen Name er vergessen hatte, seien ihre Eltern. Es war bereits ihr siebenundzwanzigster Besuch auf der Station und sie durfte ihr Kind am Wochenende nur stundenweise unter Aufsicht sehen.
Sie mochte ihn, wie sie ihm gelegentlich versicherte, und er hatte ihr ein Exemplar seines neuesten Romans geschenkt. Aber seinem Zimmergenossen ging sie aus dem Weg, da er angeblich den bösen Blick hatte und sie immer wieder zum Weinen brachte. Der Student musste nur den Raum betreten, schon schlug sie die Hände vor die Augen und begann zu schluchzen. Er versuchte immer wieder vergeblich, sie zu trösten. Bruder Wahnsinn, Schwester Angst.
Otto Reutter - Mir ham se als jeheilt entlassen. http://www.youtube.com/watch?v=rEddcej8CTI
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen