Dienstag, 2. Dezember 2014
Lencois
Er erinnerte sich an einen Tag in einem netten kleinen Hotel in Lencois, einem Aussteigernest im Hinterland Bahias. Kleine, bunt bemalte Häuser, die ihr Leben in Form von Kindern, Hunden und Greisen, die in Gruppen auf den Bordsteinen kauerten, auf die Straße ergossen, während in ihrem Innern Fernseher lärmten. Es gab viele coole Freaks mit Batik-Shirts, Rastalocken, Ohrringen und rätselhaften Tätowierungen. Obwohl sie ganz offensichtlich und sehr bewusst keiner Tätigkeit nachgingen, hatten sie immer massenhaft Gras zu rauchen und waren von wunderschönen Frauen umgeben. Und so ähnlich lief es auch in Aspen, Goa oder Kreuzberg. Selbstverständlich hatte er nie zu dieser „Szene“ gehört, er besaß keinerlei „Street Credibility“. Menschen mit Mundgeruch, Schuppen, Übergewicht und Schweißfüßen blieb die geheimnisvolle Welt des Hip-Seins für immer verschlossen. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, die ihn noch in der Pubertät geplagt hatte, war Gleichgültigkeit gewichen. Er blieb Einzelgänger, verdammt zu bloßer Beobachtung.
Nun saß er auf der Terrasse des Hotels und hörte dem unaufhörlichen Rauschen des Katarakts zu, durch den sich ein Flüsschen hinabstürzte. Der Ton änderte sich nur kurz, wenn er den Kopf drehte. Ansonsten lernte er, die unterschiedlichen Ausdünstungen zu unterscheiden, die sein Hemd, seine Shorts und seine Schuhe, d.h. sein falber und feister, fauler und innerlich faulender Leib, verströmte. Und in Gedanken brach er die zarten Hälse der Kinder, die um ihn herum und am Swimmingpool tobten. An der Hotelrezeption hatte man ihm versichert, der Bus nach Salvador de Bahia führe um sieben Uhr. Tatsächlich war die Abfahrtszeit 23 Uhr 30. Andere hätten die Verzögerung vielleicht genutzt, um mit Blick auf die herrliche Landschaft der Chapada Diamantina einige kluge Sätze zu Papier zu bringen, neue Lebenspläne zu fassen oder wenigstens einen ordentlichen Tobsuchtsanfall – der Schädel angeschwollen wie der Arsch eines brünstigen Pavians – auf das Hotelparkett zu legen. Er aber saß nur da und wartete. Wartete wie ein alter Mann, der sich vom Tag schon zu seinem Beginn nichts mehr verspricht. Ein Tag so leer wie alle Tage. Ein trostloses Verstreichen der Stunden, ohne Hoffnung auf Veränderung. Ein Leben, das eigentlich nur durch den Tod zu erlösen war.
Was hielt nur diese Kinder so froh und lebendig? Einzig ihre Dummheit. Sie begriffen weder die alberne Einfachheit ihrer Spiele noch deren stupide Wiederholung. Ihre Zeit verstrich einfach, weil sie nichts begriffen. Seine Zeit wollte nicht vergehen, weil ihn die Sinnlosigkeit des Wartens traurig machte. Und was wäre gewonnen, wenn er in diesem Augenblick tatsächlich im Bus nach Salvador säße? Er würde auf die Ankunft warten. Und dann säße er am Meer, wie er hier an diesem kleinen Fluss saß. Nach diesem Gedankengang hatte er das erste Bier des Tages bestellt. Nach der zweiten Flasche erschien alles etwas erträglicher. Von der Terrasse, auf der er seinen Mittagstrunk einnahm, beobachtete er lange eine Frau, die auf den Steinen am Fluss Wäsche zum Trocknen auslegte. Auf der nahen Brücke standen einige Leute herum, die träge den wenigen Verkehr betrachteten, der in den Ort hinein- und hinausging: Fußgänger in Zeitlupe, ein paar Autos oder Lastwagen pro Stunde.
Als er am frühen Morgen zur Bushaltestelle aufgebrochen war, standen bereits Menschen dort. Als hätten sie die Nacht auf der Brücke verbracht. Dieser Platz schien niemals leer zu sein, vielleicht weil er Bewegung und Veränderung versprach. Und man musste schon lange und genau hinschauen, um an einem Ort wie Lencois Veränderungen wahrzunehmen. Mit dem dritten Bier begann er, sich aus seinem Reiseführer Notizen für die weitere Reise zu machen. Denn ein Mann, der einfach nur da sitzt und trinkt, ist ein Säufer. Ein Mann aber, der schreibt und trinkt, muss in den Augen der Kellner und Gäste wie ein Künstler oder ein bedeutender Mann wirken. So war sein Leben und so war auch sein Schreiben, die Freiheit eine Farce und die Kunst eine Lüge. Und dann trieb an diesem Nachmittag oder vielmehr tanzte wirklich ein blauer Luftballon das Flüsschen entlang, wurde die abschüssige Strecke des Katarakts hinunter geschleudert und verschwand alsbald aus seinem Blickfeld. Jeder Lektor hätte diesen Luftballon gestrichen. Er wirkte völlig unglaubwürdig.
(aus „Die singende Fleischwurst“ von Rondo Delaforce)
Simon & Garfunkel - Sound of Silence. http://www.youtube.com/watch?v=Vk9g6mYSuBw
Der Soundtrack zu diesem stimmungsvollen Stück: http://www.youtube.com/watch?v=96xpXS3hbec Passender Text: "The only words I say are 'beer" and 'thank you' ".
AntwortenLöschenSehr schönes Stück. Und eigentlich ist auch heute genau das Wetter, um einen Text drum herum zu schreiben. In zwei Stunden holen mich Freunde ab, dann geht's ins Gasthaus. Dort reicht ein Kopfnicken auf die Frage: "Wie immer?"
Löschen