Samstag, 13. Dezember 2014
In der Strandkolonie
„Siehst du, Franzl. So ein Drehbuch ist etwas ganz anderes als ein Roman. Da muss man keine großen Gefühle oder Gedanken beschreiben, da geht es nicht um Philosophie oder Kunst. So ein Drehbuch besteht aus nichts anderem als Handlung und Dialog.“
Franz Kafka saß neben Bonetti auf der Veranda. Unten ihnen rauschten die Wellen an den Strand von Malibu. Kafka nippte an seinem frisch gepressten Orangensaft.
Bonetti deutete auf den Bildschirm seines Notebooks, das vor ihnen auf dem Tisch stand. „Heutzutage schreibt man auch nicht mehr mit der Hand oder auf einer Schreibmaschine. In einer Datei kann man den Text beliebig oft ändern und über das Netz kann ich meine Arbeit gleich an den Produzenten oder den Regisseur schicken. So ein Drehbuch wie ‚Die zwölf Stühle‘ haue ich in vier Wochen in die Tasten und lebe wie im Urlaub.“
Wie zum Beweis seiner Erläuterungen kam jetzt das mexikanische Dienstmädchen mit heißen Burritos und eisgekühlten Margaritas an ihren Tisch. Kafka war von der tschechischen Küche bei Bonetti begeistert, hatte sich aber auch schnell an die kulinarische Extravaganz der Gegenwart gewöhnt und delektierte sich an Porterhouse-Steaks und Hummer.
Während sie aßen, sprach Bonetti mit vollem Mund weiter: „In einem guten Drehbuch gibt es einen Helden, der am Ende wider Erwarten als Sieger dasteht und das Mädchen bekommt. Außerdem gibt es einen atemberaubenden Showdown. Weißt du, ich mag deine Romane, Franzl. Aber deine tragischen Helden und das Ende deiner Geschichten passen nicht mehr in unsere Zeit. Im ‚Prozess‘ stirbt der Held und die anderen beiden Romane haben überhaupt kein richtiges Ende. Das könntest du heute nicht mehr verkaufen. Warum geht K. im Schlossroman nicht zu Klamm und fordert ihn zu einem Duell?“
Bonetti trug ein weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet waren, weiße Baumwollhosen und weiße Slipper. Kafka, der bei seiner Ankunft in einen schwarzen Anzug gekleidet war, trug nun ein gelb-orange-rotes Batik-Shirt und khakifarbene Bermudashorts.
„Du musst einen Kriminalroman schreiben. So etwas lesen die Leute immer. Entwirf eine Hauptfigur mit einem illustren Privatleben, einer gescheiterten Ehe und Kindern in der Pubertät, so dass sich auch abseits der Ermittlungen ständig eine Gelegenheit zu tiefschürfenden Dialogen ergibt. Würz den Plot mit ein wenig Gesellschaftskritik, ein Seitenhieb auf die Reichen, eine Anspielung auf die Oberflächlichkeit unseres Konsums. Aber übertreib nicht, die Leser sollen sich bei der Lektüre schließlich wohl fühlen.“
„Was ist denn ein Plot, Herr Bonetti?“
„Das erkläre ich dir später.“ Er verschränkte seine Finger ineinander und ließ sämtliche Gelenke auf einmal krachen. „Los geht’s! Hauen wir in die Tasten!“
Nach einer Stunde machte Bonetti eine Pause. Kafka erzählte ihm, wie dieser in der Prager Kneipe aufgetaucht war und sich zu ihm und Max Brod an den Tisch gesetzt hatte. Als Brod auf die Toilette gegangen war, hatte Bonetti an seinem magischen Ring gedreht und alles im Umkreis von einem Meter war mit ihm auf Zeitreise zurück ins Jahr 2014 gegangen: er selbst, Kafka und drei Gläser Bier.
„Wo ist das Bier geblieben?“ fragte Bonetti.
„Das habe ich getrunken“, sagte Kafka und verzog den Mund verschämt zu einem Grinsen.
Bonetti war im Dezember 1922 in Prag gewesen, als Kafka die Arbeit an seinen großen Buchmanuskripten bereits abgeschlossen hatte. Er hatte bereits im Internet nachgesehen: Kafkas Romane und Erzählungen waren alle erschienen. Offenbar hatte er mit seiner Zeitreise nicht in die Literaturgeschichte eingegriffen. Er hatte Kafka auch von einem Arzt untersuchen lassen, der ihm Medikamente gegen seine Schwindsucht (Lungentuberkulose) verschrieben hatte. Nach einem halben Jahr würde Kafka vollständig geheilt sein.
Am Nachmittag ging Bonetti mit Kafka an den Strand, um ihm das Surfen beizubringen. Er wusste aus den biographischen Schriften von Reiner Stach, dass Kafka ein ausgezeichneter Schwimmer war. Das Surfbrett hatte sich Kafka bei Bonettis Nachbarn, Charlie Sheen, ausgeliehen und war mit einer deutlich bemerkbaren Alkoholfahne zurückgekehrt.
Mutig stürzte sich Kafka ins Meer, aber er war die hohen Wellen nicht gewöhnt. Er schwamm auf dem Surfbrett hinaus und wurde vom ersten Brecher hustend und spuckend auf den Strand zurückgeworfen. Nach seinem kläglichen Scheitern verzichtete er auf einen zweiten Versuch. Der Pazifik sei eben mit der Moldau nicht zu vergleichen, murmelte er, als er sich mit einem Handtuch das Haar trocken rubbelte.
Am Abend setzte Bonetti seinen Unterricht fort. Er hatte ein Handbuch für Medienprofis geschrieben, aus dem er auswendig zitieren konnte, wenn er Kafka die Grundregeln des Geschäfts beibrachte: „Würde ist nur ein Konjunktiv“.
„Schau dir doch nur mal an, wer sich heutzutage in den Redaktionen bewirbt: Leute mit einem Bachelor in Afrolusitanistik, die pantomimisch einen Radiergummi darstellen können. Die müssen erstmal schreiben lernen, recherchieren, konzipieren. Verstehst du, Franzl? Und dazu müssen sie mein Buch lesen.“
Es war schon lange dunkel, als Barry “Barfly” Gardini, der Chef der Westküstenbuchmafia, zu einem Besuch in Bonettis Strandvilla erschien.
„Guten Abend, mein lieber Bonetti! Ich würde Ihnen die Hand küssen, wenn Sie eine Frau wären. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Oscar.“
Bonetti hatte als Drehbuchautor den Oscar bekommen, mehr konnte ein Mensch nicht erreichen. Der Literaturnobelpreis war nichts mehr wert, seit man ihn einem Mitglied der Waffen-SS verliehen hatte. Überhaupt waren Nobelpreise bedeutungslos geworden, seit man einem amtierenden US-Präsidenten den Friedensnobelpreis überreicht hatte. Da er jede Silbe seines Drehbuchs bis aufs Blut verteidigte, wurde Bonetti von Regisseuren und Schauspieler auch gerne als „Angry Bonetti“ bezeichnet.
„Darf ich Ihnen vorstellen: Franz Kafka. Ein Kollege aus Prag“, sagte Bonetti, als Gardini sich in einen Sessel gesetzt hatte.
„Sehr erfreut! Sind Sie neu im Geschäft? Kein Problem, wir bringen Sie unter. Was ist Ihr Fachgebiet? Crime, Sex, Promi-Skandale?“ fragte der polyglotte Ganove auf Deutsch. Er hielt Kafka insgeheim für einen bigotten Buhlknaben, den sich Bonetti zu seinem Privatvergnügen zugelegt hatte.
„Er möchte gerne einen Roman schreiben, der Franzl. Einen Roman! Mein lieber Mister Gardini, unser Franzl will einen Roman schreiben! Stellen Sie sich das vor! Aber erst einmal hilft er mir bei dem neuen Drehbuch, gell, Franzl?“
Soundgarden - Black Hole Sun. http://www.youtube.com/watch?v=3mbBbFH9fAg
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