Sonntag, 7. Dezember 2014
Gangstersachen machen (2004)
Es muss gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als mich der Durst noch einmal aus der Wohnung trieb. Wegen ein paar Dosen Bier ging ich zur Tankstelle, die rund um die Uhr Menschen wie mir zur Seite stand. Als ich zurück lief, die Plastiktüte mit dem Bier übermütig schwenkend, kam ich in der Via Sistina an einem Hotel vorbei. In einem der oberen Fenster war noch Licht, ein Mann stand auf seinem winzigen Balkon und hielt das Geländer mit beiden Händen fest umklammert.
Ich schaute hinauf und der Mann winkte zu mir hinunter.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ rief ich ihm zu. Ich hatte schon eine Flasche Rotwein getrunken und war bester Laune.
„Ja, mir geht es wie dir. Komm doch herauf!“
Ich lachte, aber der Mann hatte die Arme längst einladend ausgebreitet und deutete nun auf den Hoteleingang. Offenbar meinte er es ernst.
„Ich komme hinunter“, rief er. Noch bevor er meine Reaktion erkennen konnte, war er bereits vom Fenster verschwunden.
Ich betrat zögernd das Hotel. Der Nachtportier lag über dem Empfangstresen und schlief halb röchelnd, halb schnarchend. Der Mann kam mit einem Lächeln die Treppe hinunter. Er hatte sich einen Bademantel übergeworfen, denn er jedoch offen über der weißen Unterwäsche trug. Sein kurzes Haar glänzte silbergrau wie ein Heringsfilet.
„Leise, leise“, flüsterte er, obwohl ich keinen Laut von mir gegeben hatte. Er nahm mich an der Hand und führte mich durch das Treppenhaus hinauf zu seinem Zimmer.
Als die Tür hinter uns geschlossen war, öffnete ich meine Tüte, als gelte es, mich an diesem Ort auszuweisen. Der Mann nickte anerkennend und ging zur Minibar, die er mit einer großzügigen Geste öffnete und hinein deutete. Die vielen kleinen goldigen Fläschchen. Ich lächelte gerührt.
Im Fernsehen lief Sumo-Ringen. Wir setzten uns auf die Bettkante, stießen mit einem Whisky an und spülten mit einem Bier nach. Eine Weile tranken wir schweigend, mir war nicht nach der üblichen Fragerei.
Schließlich sagte der Mann: „Ich bin Toni Lombardi, ich komme aus New York.“ Sein Akzent war sehr amerikanisch, offenbar ein Enkel oder bestenfalls der Sohn eines Einwanderers.
„Leonardo Vitelli, Roma eterna“, antwortete ich, gekrönt von einer Serie kleiner Rülpser.
„Verdammte Scheiße, ich bin gerne hier. Rom ist verflucht noch mal großartig“, antwortete Toni und wie zur Bestätigung nahm er einen großen Schluck Bier.
Dann holte er aus der Minibar zwei kleine Wodkafläschchen und reichte mir ein Exemplar mit der gönnerhaften Gelassenheit eines alten Löwen, der die Jagdbeute nach seiner persönlichen Gunst an die Vasallen verteilt.
Wir sahen uns kurz in die Augen, dann tranken wir.
„Rom ist der beste Platz zum Leben und zum Sterben“, sagte ich, da ich den Eindruck hatte, doch wieder etwas sagen zu müssen.
Toni lachte heiser und wackelte dabei mit den Beinen auf der Bettkante. „Heute saufen wir! Noch habe ich genug Geld“, rief er entschlossen. Dann holte er mit einem Griff – ich sah nicht, wo er sie so schnell hergeholt hatte – ein Päckchen Zigarillos hervor und bot mir einen an.
Und so atmeten wir alsbald dicke Schwaden würzigen Tabakdufts im Angesicht übergewichtiger schwitzender Sumotori und lachten über gelungene Griffe.
Das Zimmer wirkte nicht ungewöhnlich. Auf dem Bett lag der geöffnete Koffer, der restliche Raum war unbenutzt. Eher gelangweilt fragte ich Toni, was er beruflich täte.
„Ich bin Auftragsmörder“, sagte er mit einem kleinen Grinsen.
Ich grinste zurück, weil ich es für die sicherste Reaktion hielt.
„Aber in Rom bin ich nur, um mich von der Arbeit zu erholen“. Er sagte es, als stünde er das ganze Jahr über bei Ford am Band und mache nun Urlaub von der eintönigen Tätigkeit.
„Du könntest überall auf der Welt im Hotel Sumo-Ringen sehen“, warf ich ein.
„Ja, du hast Recht. Aber ich brauche diese Stadt. Im Petersdom bitte ich um Vergebung für meine Opfer und in den Ruinen des Imperiums schöpfe ich Kraft. Wo kann ich auf der Welt etwas Vergleichbares finden?“
Ein spannender Kampf fesselte meine Aufmerksamkeit. Nach einer Weile sagte ich ohne Ausdruck in der Stimme: „Rom nimmt uns alle auf, Rom gibt uns alles“.
Mit einem Zischen öffnete Toni das nächste Bier, er lachte dabei wie ein kleiner Junge. Das Leben war gut, es herrschte Frieden in Zimmer 651, es gab genügend zu trinken und aufgeschlossene, liebenswerte Menschen, die diese Nacht genießen wollten.
„Was wollen wir schon vom Leben? Ein paar glückliche unerwartete Momente wie jetzt.“ Toni hickste am Ende.
„So lange man lebt, soll man rauchen“, mit diesen Worten zog ich einen kleinen zweiblättrigen Joint aus der Brusttasche meiner Jeansjacke hervor, den ich eigentlich noch gemütlich zu Hause rauchen wollte – bevor alles anders kam.
Toni klopfte sich auf die Schenkel vor Begeisterung und reichte eine Runde Gin aus dem kleinen Kühlschrank unter dem Fernseher. Wir tranken die Fläschchen aus und löschten unsere Zigarillos in ihnen.
Dann waberte süßlicher Duft durch das Nichtraucherhotelzimmer, wir starrten wissend auf die wechselnden Kämpfe im Fernsehen.
„Was ziehst du dir sonst für Sport rein?“, fragte Toni und nahm einen tiefen Zug.
„Fußball, Formel 1“, antwortete ich.
„Oh Shit, das ist echt eine ganz andere Welt. Kein Baseball, kein Football, kein Eishockey, kein Basketball.“ Toni schüttelte den Kopf und reichte mir die Tüte.
Ich betrachtete die aufleuchtende Glut, während ich in kurzen Intervallen am Joint zog.
„Hey, was wir jetzt brauchen, sind ein paar Mädchen.“ Toni wankte zu seinem winzigen Balkon und starrte in die Nacht.
Nach einer Weile fragte ich: „Und, Toni, was machen die Frauen?“
Er lachte und hieb mit der Faust auf das Geländer. „Hier gibt es, Gott verdammt noch mal, keine Frauen. Es ist niemand auf der Straße.“
Er kam herein und ich gab ihm die Tüte. Diesmal hustete er, aber es sollte wieder ein Lachen sein.
„Es gibt sie, aber sie sind nie da, wenn man sie wirklich braucht.“ Ich sog mit großer Ruhe ein letztes Mal den Rauch in meine Lungen und warf den Joint in ein leeres Schnapsfläschchen.
„Was wären wir ohne Frauen? Selbst der einsamste Wichser braucht Bilder von ihnen“, Tonis letzte Worte gingen in ein meckerndes Lachen über.
„Wir brauchen sie unbedingt. Fußball ist nur am Wochenende. Aber was machen wir an den anderen Tagen?“ Ich fand Gefallen an der ungewöhnlichen Diskussion.
Tonis Gesicht wurde ernst. „Nur vor wirklichen Damen benehmen wir uns. Die Gegenwart einer echten Dame kann uns beschämen. Stell dir die Begegnung mit einer schönen Frau vor und du bist so besoffen, dass du die Speisekarte im Restaurant nicht mehr lesen kannst. Nein, wenn wir einer solchen Dame gegenüber stehen, benehmen wir uns vorzüglich.“
Sein Blickt senkte sich und wurde unruhig, so als ob er auf dem Boden etwas suchen würde. „Selbst wenn ich gerade einen Mann durch ein Hotel gejagt habe, um ihn zu töten. Treffe ich eine Dame, verwandle ich mich in ein höheres Wesen. Ich achte auf jedes Detail meines Aussehens und meiner Sprache. Oft haben sich die sogenannten Damen in meinem beruflichen Umfeld als suspekte und käufliche Subjekte enthüllt. Dennoch neige ich immer noch mein Haupt vor den Frauen“.
Ich konnte Toni nur zustimmen: „Wäre eine Frau hier, würden wir bestimmt nicht so viel saufen“.
Zur Belohnung dieser scharfsichtigen Anmerkung gab es ein winziges Fläschchen Rum. Im Fernsehen lief inzwischen ein Darts-Wettbewerb. Eine der wenigen Sportarten, deren Protagonisten ungeniert während der Übertragung Bier tranken und rauchten. Man stelle sich diese Bilder in der Halbzeitpause beim Fußball vor – oder während der „Strafrunden“ der Biathleten. Solche wettbewerbsverschärfenden Aktivitäten wünschte ich mir, Doping war doch sinnlos, schließlich probierte ich es seit Jahren aus, ohne dass es meine Leistung wirklich in irgendeiner Hinsicht gesteigert hätte. Und dreimal Trippel-Zwanzig in einem Wurf nötigt einem Respekt ab, egal in welchem Zustand der Spieler oder der Zuschauer gerade ist. Darts ist ein „Sport“, bei dem alle Menschen, egal in welchem konditionellen oder mentalen Zustand sie sich befinden mögen, gewinnen können. Jugend oder körperliche Fitness zählen nicht, eventuelle Vorkenntnisse im Speerwurf sind nutzlos. Aus gut zwei Metern trifft fast jeder die Scheibe.
Toni kannte dieses Spiel nicht und schaltete weiter. Es lief ein Krimi, ein Killer erschoss einen Mann, eine Kugel in den Bauch, eine Kugel in die Brust.
Toni formte aus seiner rechten Hand eine Pistole und zielte auf meinen Kopf. „Hier musst du auch noch eine Kugel hinschicken.“ Er grinste träge und musste sich mit beiden Händen auf dem Bett abstützen.
Wie viele Menschen er wohl getötet hatte? Er war um die Fünfzig. Vielleicht war er schon dreißig Jahre im Geschäft, wer weiß? Es mussten über hundert Opfer sein. Zumindest sollte ich diesen Mann nicht reizen. Und dennoch forderte ich Toni ein wenig heraus, nur um mich etwas sicherer in diesem Zimmer zu fühlen, als ich ihn fragte, wie viele Kugeln er denn gewöhnlich benötigte. Lässig schaltete ich zurück zum Sportkanal.
Toni lachte auf, starrte einen Augenblick vor sich hin und bewegte dabei die Finger. „Die erste Kugel in den Kopf, wenn ich ganz nahe heran komme. Dann ein oder zwei Sicherheitsschüsse in den Körper.“ Er dachte eine Weile nach. „Auf Distanz nehme ich auch zuerst den Kopf. Der erste Treffer muss sitzen. Das Opfer darf sich nicht bewegen, wenn du zielst.“
Jetzt warf gerade ein englischer Meisterspieler ruhig und konzentriert ein Doppel-Bull. Die Zuschauer klatschten, während der Spieler zum Bierglas griff.
„Sportler müsste man sein“, seufzte Toni und trank das Bier leer.
Ich gab ihm eine neue Dose. In der Mini-Bar fanden sich zu unserer Überraschung noch einige Whisky-Fläschchen, die wir umstandslos und unmittelbar nach erfolgter Entdeckung hinter die wohlbekannte Binde kippten.
„Eine Whisky-Brennerei in Irland oder Schottland. Das wäre auch keine üble Arbeit.“ Toni grinste breit und kratzte sich ausführlich die behaarte Brust.
„Das sind Profi-Trinker, Toni. Vergiss es! Du überstehst das erste Jahr nicht.“ Ich sah zu ihm hinüber.
„Warum sollte ich das verdammte erste Jahr nicht überstehen? Wenn der Job darin besteht, jeden Tag eine Flasche Whisky zu saufen und mit ein paar anderen Jungs bei den Fässern herum zu stehen, bringe ich das ohne Wenn und Aber.“
Zum Beweis sog sich Toni wieder ein Whisky-Fläschchen in den Schlund, ein anerkennendes Husten für Mister Jim Beam folgte.
„Ach, wir wären verdammt schnell tot. Einfach totgesoffen“, beendete er die Überlegung, „in einer Brennerei würden wir bis zum Exitus Party machen und unsere Leichen könnten sie noch nicht mal verbrennen, weil wir einfach explodieren würden. Wir wären so mit Alkohol getränkt, dass wir praktisch Sondermüll wären.“
Ich rutschte vor Lachen vom Bett auf den Boden und blieb dort sitzen.
Er lachte und schwieg dann eine Weile.
„Was fehlt dir?“ rief ich ihm zu.
„Eine Line Coke, wenn ich ehrlich bin.“ Er senkte den Kopf.
Damit konnte ich ihm nicht aushelfen. Ich hatte nur ein bisschen Gras in der Tasche, aber das würde ihm nicht helfen. Ich betrachtete ihn und fragte mich, was diesem Mann wohl gerade durch den Kopf ging.
„Denkst du an Coke oder an die Toten?“ Ich wurde mutig.
„Das Coke fehlt mir und darum denke ich an die Toten“, antwortete er mir und nahm einen tiefen Schluck.
„Dir fehlt eine fette Line. Ohne was zu ziehen kann man leicht Depressionen bekommen.“
Er trank wieder und murmelte etwas wie „Scheiß doch drauf“.
Ich hatte mir aber vorgenommen, meinen Saufkumpanen aufzumuntern, weil ich nicht mit einem weinerlichen Bündel voller Selbstmitleid die Nacht durchmachen wollte.
„Du bist verzweifelt, weil du betrunken bist“, sagte ich mit ernster Stimme. „Aber ich will dir ein Geheimnis verraten: Wenn du weitertrinkst, kommst du aus der Wüste in die Leere, kommst du aus der Verzweiflung ins Nichts. Du musst einfach nur weitertrinken, dich durch die Verzweiflung hindurch saufen, bis du wieder das selige Lächeln des ersten Schlucks in deinen Gesichtsmuskeln spürst. Am Ende der Nacht nehmen dich Engel sanft in ihre Arme und du schläfst tief und traumlos.“
Das gefiel ihm, er lachte glucksend. Dann schaute er mich lange an und sagte mit tiefer fester Stimme: „Lass uns heute Nacht auf die Piste gehen. Wir haben ja mit dem Saufen noch gar nicht angefangen!“
Ich nickte ihm zu. „Alles andere ist Quatsch.“
Und so zogen wir zusammen los, nach Trastevere. Der Taxifahrer, ein aufgekratzter kleiner dicker Sizilianer, flog über den Tiber und schlug in einer Kleinstadtgasse ein, durch die er sich heftig fluchend im Schritttempo lavieren musste.
In Sichtweite der ersten nennenswerten Lokale ließ er uns raus, Toni bezahlte großzügig in Dollar. Wir fanden, durch dünne Lichter in der Finsternis geleitet, eine Bar, die uns aufnahm.
Es war kurz schon vor Sonnenaufgang, aber am Tresen und an den Tischen war das Volk der Nacht versammelt. Eine Art hektisches Gemurmel erfüllte den Raum, im Hintergrund hörte man Jazz, gelegentlich unterbrochen von lautem Gelächter.
Toni strebte dem Tresen zu, ich folgte ihm zögernd. Bald standen zwei „Zombies“ vor uns, tödliche Cocktails für besondere Augenblicke.
Ich sog an meinem Halm und sah zu Toni hinüber.
Nach einem majestätischen Blick über seine neue Weidefläche erwiderte er meinen Blick und sagte: „Das ist es, was ich jetzt brauche.“
Ein Satz, der keiner Antwort bedurfte. Ich prostete ihm zu und begann, mich nach begattungswilligen Frauen umzuschauen, wie es Männern an solchen Wasserstellen des Großstadtdschungels nun einmal eigen ist.
P.S.: Hier endet die Geschichte überraschend, da sich der Autor in den frühen Morgenstunden, zugegebenermaßen nicht völlig nüchtern, zu Bett gelegt hat. „Lass uns Gangstersachen machen“ war zu meiner Jugendzeit eine Redewendung in meinem Freundeskreis, auf die im Regelfall eine rechtswidrige Tätigkeit folgte.
Mississippi Fred McDowell - You gotta move. http://www.youtube.com/watch?v=mtlVSedpIRU
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