Freitag, 26. Dezember 2014
Die Strafe, Kapitel 5
An einem Freitag, bei fürchterlichem Wetter, war K. in der Kirche seiner Stadt verabredet. Er sollte einem englischen Kollegen aus der großen Blutsbruderschaft der Guinness-Freunde, einem stets aufgeschlossenen Freund der jeweiligen lokalen Kultur, das hiesige Gotteshaus und die in ihm enthaltenen Kulturgüter fachkundig vorführen. Auch wegen seiner Englisch-Kenntnisse, die freilich im allgemeinen Hörensagen wesentlich größer als in Wirklichkeit waren, war er von seinen Trinkgenossen für diese Aufgabe ausgewählt worden. Trotz der nicht weichen wollenden Dunkelheit war K. pünktlich an der Kirche, die Turmuhr schlug gerade zehn Uhr, als er das hohe Portal öffnete.
Im Inneren war es tatsächlich noch dunkler als im Freien. Eisige Kälte strömte K. entgegen, als er eintrat. Das Kirchenschiff selbst, das er nach der Öffnung einer weiteren Tür erreichte, war kaum beleuchtet und auch die bunten Fenster vermochten es an diesem Tag nicht, Licht in diesen Raum zu locken, in den K. nun trat. Vorne am Altar brannten einige Kerzen, in den vorderen Reihen kauerten zwei alte Frauen und beteten stumm. Vom Engländer war nichts zu sehen, unentschlossen schlenderte K. durch den Mittelgang langsam nach vorne. Zu seiner Linken und Rechten waren in die Wand Statuen von Märtyrern eingelassen, die für ihre Sache gestorben waren. K. kannte sie bereits, auch wenn sie bei diesen Lichtverhältnissen nur zu erahnen waren.
Als er fast am Ende des Kirchenschiffs, bei den Kerzen, den Alten und dem Altar, angelangt war, sah er rechts einen Mann in einem leuchtenden weißen Anzug stehen. Ganz am Rand der Kirche wirkte er verloren, dennoch blickte er starr zu K. hinüber. K. blickte zum Altar, hinter dem sich eine mächtige Orgel aufbaute, die er in dieser kleinen Kirche gar nicht in dieser Größe in Erinnerung hatte. Sie war gewaltig und nahm den hinteren Altarraum vollständig ein. Während das Metall des Instruments an einigen Stellen das wenige Licht reflektierte, war die Jesusdarstellung am Kreuz völlig im Dunkeln. Es waren nur Umrisse zu erkennen. K. fragte sich, zu was die beiden alten Frauen wohl beten mochten. Unvermittelt blickte er zu dem Mann zurück. Er starrte K. immer noch an, seine Backenmuskeln spielten nervös.
K. hielt dem Blick nicht stand und begann, zurück zum Ausgang zu schlendern. Sicher war es besser, den Engländer vor dem Kirchenportal zu erwarten, auch wenn er für dieses Vorhaben bei diesem Wetter seine Lungen opfern musste. Draußen war niemand zu sehen, dichter Regen ergoss sich aus dem finsteren Himmel. Also ging er wieder in die Kirche zurück, ärgerlich über den ganzen Tag und ohne eigentlichen Grund. Eine alte Frau kam ihm entgegen. Ihr schlohweißes Haar wehte in einem Luftzug, den K. nicht wahrnehmen konnte. Sie deutete stumm nach der Ecke, in der K. immer noch den Herrn im weißen Anzug vermutete. Sollte er zurückgehen? Der Engländer war es nicht, soviel war gewiss, ihn kannte K. Er ging wieder durch den Mittelgang nach vorne, die Kerzen am Altar begannen zu flackern, Schatten tanzten an den Wänden und zeigten die Märtyrer in wechselnden, grausam verzerrten Bildern an den Kirchenwänden.
Als K. vor dem Altar angekommen war, fuhr ein gewaltiger Klang durch die Orgel. K. erschrak – und nun stand auch schon der Mann im weißen Anzug nahe bei ihm. Es war ganz eindeutig, und es gab keine Ausflüchte, er rief „Dennis K.!“ K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es jetzt nicht tat, war keine Aussicht, dass er es während der zu befürchtenden Gardinenpredigt tun konnte. K. stockte jedoch und sah vor sich auf den Boden. Er hätte natürlich noch weglaufen können, aber das erschien ihm mit seinen dreißig Jahren inzwischen albern. Also blieb er stehen und blickte dem Fremden direkt in die Augen: „Sie wollen mir also predigen?“ „Dennis K.!“, wiederholte der Mann K.s Namen nun umso lauter. K. dachte daran, wie sehr ihm sein Name zur Last fiel. Wie schön war es doch, selbst seinen Namen zu nennen und dann erst gekannt zu werden. „Du bist angeklagt“, sagte der Mann im weißen Anzug nun besonders leise. „Ja“, antwortete K., „man hat mich darüber verständigt“.
„Ich bin Unternehmer“, begann der Fremde die Eröffnung über seine eigene Person. „Weißt du eigentlich, dass dein Prozess schlecht steht?“ K. blickte zur Seite: „Diese Einschätzung teile ich bisweilen. Aber ich gebe mir alle Mühe, der Behörde gegenüber meine Lebensführung zu verteidigen.“ „Ich befürchte dennoch, dass es schlecht enden wird. Vielleicht wird dein Prozess gar nicht über das Stadium der untersten Sachbearbeitung hinaus kommen. Zumindest vorläufig hält man deine Schuld für erwiesen.“ K. schüttelte heftig den Kopf: „Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein? Wir sind doch alle Menschen, wer soll Richter, wer soll Angeklagter sein?“ Der Mann lachte leise und antwortete: „Das ist richtig. Aber so pflegen die Schuldigen zu reden.“ Und nach einer kurzen Pause: „Ich könnte dir sicher helfen. Was willst du als nächstes in deiner Sache tun?“
„Ich habe einige Hilfe von Freunden und einer Frau, die mir geneigt ist und der Behörde nahe steht. Ich habe in dieser Hinsicht noch nicht alle Möglichkeiten der Einflussnahme ausgenutzt. Frauen haben eine große Macht, auf allen Ebenen der Behörde. Ein helles Lachen, das Zurückstreifen einer Strähne hinter das perlenbesetzte Ohr, eine wie zufällig hingeworfene Bemerkung, ein zartes Flüstern – und das Urteil ändert sich schnell.“ K. war durch die eigene Rede fast wieder zuversichtlich geworden. Er blickte den Unternehmer erwartungsvoll an. „Siehst du denn nicht zwei Schritte weit!“ brüllte dieser wie entfesselt. Er war bei diesem Schrei leicht in die Hocke gegangen und hielt die geballten Fäuste vor der Brust, als bereite er eine umfangreiche Ausscheidung vor. K. zuckte wie unter einem Stromschlag. Nun wurde der Mann wieder ruhig und trat ganz nahe an K. heran. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen, die deine Täuschungen bezüglich der Behörde auflösen wird. Im Arbeitsgesetz heißt es:
Vor der Arbeit steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in die Arbeitswelt. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt diesen Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er denn später werde eintreten dürfen. ‚Es ist möglich‘, sagt der Türhüter, ‚jetzt aber nicht‘. Also zieht der Mann eine Nummer, setzt sich auf eine Wartebank und beginnt alsbald, mit seinen Mantelknöpfen zu spielen und zu pfeifen. Er beobachtet den Türhüter Tag für Tag, Woche für Woche, wie dieser, gutmütig schnaufend mit seinem mächtigen Bauch an den ehernen Speer – den er aber immer fest umklammert hielt - gelehnt, auch die schönsten Stunden des Tages verschläft. Nachdem ihm die Zeit lang geworden ist, beginnt der Mann, den Türhüter um die Erlaubnis zum Eintritt zu bitten. Über Jahre ermüdet er den Türhüter mit seinen Einlassungen. An guten Tagen stellt der Türhüter – nicht um tatsächlich etwas in der Sache des Fremden zu unternehmen, sondern zur eigenen Kurzweil im Rahmen eines ansonsten recht eintönigen Dienstes – dem Mann Fragen und führt kleinere Verhöre bezüglich dessen Arbeitserfahrungen und Belegen irgendwelcher Bildungsinstitutionen durch. Er nimmt auch winzige, freilich wertlose Bestechungsgeschenke an, nur um dem Mann nicht den Eindruck vermitteln zu müssen, er hätte etwas in seiner Sache unterlassen. Als der Mann nach vielen Jahren des Wartens alt und kindisch wird, bettelt er selbst den Hirsch auf der Kräuterschnapsflasche des Türhüters um Hilfe an. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, sein Leben geht dem Ende zu. Alle seine Gedanken sammeln sich in einer letzten Frage und er winkt dem Türhüter zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. ‚Was willst du denn jetzt noch wissen‘, fragt der Türhüter, ‚du bist unersättlich‘. ‚Alle wollen doch Arbeit‘, sagt der Mann mit ersterbender Stimme, ‚warum ist denn in all diesen Jahren niemand hier vorbeigekommen‘. Der Türhüter lacht, dann klingelt sein Handy und er wendet sich von dem Mann ab, der sein Leben endgültig aushaucht.“
„Der Türhüter hat also den Mann getäuscht“, sagte K. sofort, von der Geschichte sehr stark angezogen. „Lass dich nicht vom ersten Eindruck überwältigen. Der Türhüter hat nur seine Pflicht getan. Pflicht des Bittstellers wäre es gewesen, nachdrücklicher Einlass in die Arbeitswelt zu fordern. Stattdessen hat er sich gleich am Eingang niedergelassen und es sich bequem gemacht.“ „Warum glaubst du, dass der Mann vor der Tür zur Arbeit eine Pflicht zu erfüllen hat? Immerhin hat er sich offenbar auf den Weg zu diesem Tor gemacht und ist auch in all seiner Zeit, die noch kommen sollte, nicht von diesem Tor gewichen.“ Der Mann im weißen Anzug schüttelte das gesenkte Haupt: „Aber der Bittsteller ist nicht bis zur Arbeit vorgedrungen und hat sein Leben sinnlos vergeudet.“ K. antwortete fest: „Aber woher soll der arme Mann denn wissen, dass er unbedingt durch diese Tür muss. Auch außerhalb der Tür gab es ja offenbar ein Leben, denn in all den Jahren des Wartens ist er nicht verhungert.“ „Du denkst zu viel über diesen Mann nach und zu wenig über die Arbeit“, schloss der Unternehmer. K. war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können. Es waren auch ungewohnte Gedankengänge, eher geeignet zur Besprechung zwischen Arbeitnehmern, nicht für ihn. „Manche sind eben nicht zur Arbeit geschaffen. Sie lassen einfach das Leben durch sich hindurch fließen und veredeln es dadurch. Durch ihre Freude und ihre Anteilnahme, durch ihren Geist und ihre Ideen.“ Der Unternehmer lachte und winkte dabei mit der Hand, als ob er weitere Eingaben dieser Art verhindern wolle.
„Ich muss jetzt gehen. Man wartet auf mich.“ K. versuchte, das Gespräch zu beenden. „Ich weiß auch gar nicht, was ihr alle von mir wollt.“ „Die Arbeitswelt will nichts Besonderes von dir. Sie nimmt dich auf, wenn du kommst. Und sie entlässt dich, wenn du gehst“. K., beim Herauslaufen schon mutig geworden, warf zurück: „Und wenn ich gar nicht kommen will?“ Dann begann er zu rennen, durch das Kirchenportal, über den verregneten Vorplatz, durch Gassen, über große Verkehrsadern. Er lief, bis er seine Wohnung endlich erreicht hatte. Frau Braubach wartete auf ihn mit einem Handtuch und ließ es sich nicht nehmen, ihm persönlich die nassen Haare und das Gesicht zu trocknen. Ihr mütterliches Schluchzen beruhigte K., gab ihm aber zugleich eine dunkle Vorahnung kommender Gefahren durch die behördlichen Ermittlungen.
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