Mittwoch, 17. Dezember 2014
2004
Auszüge aus dem Notizbuch:
3. Februar, Berlin. Bist du eigentlich noch naiv oder schon senil?
4. Februar. Im Englischen wird „ich“ immer groß geschrieben. Das sagt schon alles über die angelsächsische Philosophie in der alten und neuen Welt.
Wer nicht alles erreicht hat, kann noch träumen. Wer alles hat, dem fehlt ein Ziel. Du kannst davon träumen, ein großer Held zu sein. Aber wovon träumen Helden?
12. Februar. Man mag der Kunst vorwerfen, sie sei Kommerz, bloße Ware und vollständig domestiziertes Element der kapitalistischen Weltordnung. Aber zwischen der Absicht vieler berufsmäßiger Künstler, etwas von pekuniärem Wert zu schaffen, und der Absicht des Kunsthändlers, Verlegers usw., dieses „etwas“ zum Zwecke der Geldvermehrung zu erwerben – dieses gemeinsame Abmelken der menschlichen Sehnsucht nach Wahrheit oder Sinn jenseits ihres Alltags -, steht der Augenblick, in dem dieses „etwas“ entsteht. Und nur dieser Augenblick ist Kunst.
20. Februar. Wenn ich durch meine Gedanken jeden Tag neu erschaffen kann, indem ich morgens durch die Tür in die Welt trete, dann kann ich auch das ganze Leben jeden Tag neu erschaffen. Ich beginne meine Veränderungen im Kleinen, zwei drei lachende Kinder mehr, nur keine Aufmerksamkeit erregen. So kann alles nur besser werden.
29. März. Mancher Besitz gehört einem merkwürdigen Zwischenreich an: Man hat es zwar nicht weg geschmissen, aber man findet es auch nicht mehr. Es ist hier irgendwo, mehr weißt du nicht.
30. März. Kommt es am Ende des Lebens darauf an, ein Spießerzeugnis mit guten Noten erteilt zu bekommen? In den Fächern Heiraten, Kinder-in-die-Welt-setzen, Hausbauen und Karrieremachen steht bei ihm eine glatte Sechs. So ein Zeugnis hat er sich als Schüler schon immer gewünscht. Aber das heißt doch nur, dass er sich der Knute nicht gebeugt hat. Er ist ein Solitär in einem mittelmäßigen Universum. Das ist sein Glaube.
12. April. Der Mann mit dem ungewissen Etwas.
22. April. Alle reden von aussterbenden Tieren, schreibt Thomas Bernhard im „Kalkwerk“, aber niemand von den aussterbenden Gehirnen.
23. April. Moin, Leute! Hier kommt die abgefahrene buddhamäßige Wahnsinnsphilosophie: Das Gute ist nicht das, was du tust, sondern das Schlechte, das du nicht tust. Ich tue nichts und rette so die Welt vor dem Gerettet-Werden. Wenn du handeln musst, so handle wie im Traum, ohne Grund, als wärst du ein kleines Kind, das ins Spiel versunken ist.
24. April. Ich habe mir fest vorgenommen, eines Tages zurück zu kehren. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass es mir gelingt, von hier fort zu gehen.
25. April. Wenn man kein eigentliches Thema hat, ist jede Mahlzeit und jedes Gespräch Teil der immer währenden Recherche.
26. April. Als er eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett in eine singende Fleischwurst verwandelt.
29. April. Der Glaube älterer Menschen, alles zu wissen bzw. alles besser zu wissen als Andere, wo doch in Wirklichkeit ihr Wissen täglich schrumpft und das Wissen der Welt täglich wächst, ist ein Irrglaube und der Beginn eines Altersirrsinns, den sie aber naturgemäß nicht mehr begreifen können. Sie beginnen, jüngere Menschen in dem Augenblick wie Kinder zu behandeln, da sie selbst wieder zu Kindern werden.
1. Mai, Imola. Zehnter Todestag von Ayrton Senna. Die Stadt war bis 1978, als die geschlossene Psychiatrie in Italien abgeschafft wurde, das „Irrenhaus Italiens“ mit insgesamt fünf Nervenheilanstalten. Noch heute sagen die Leute „Du gehörst nach Imola“, wenn sie jemanden für verrückt halten.
2. Mai, Mantua. Schlaflos im Hotel: Geräusche wie Röcheln, Schnarchen und Stöhnen, Lachen, das feine Sirren der Stechmücken, Knarren der Dielen, Schritte, Worte, unverständlich, sinnlos, das Kommen und Gehen hört nie auf. N. schläft neben mir so leicht ein wie ein Mensch, der mit der Welt im Reinen ist. Geträumt: freistehender schmaler Torbogen. Ein Stadttor ins Nichts.
4. Mai, Triest. Jeden Tag speisen wir im selben Restaurant, wo wir allerdings im Vorraum, nahe der Küche, in einem zugigen Gang sitzen, wo man vom vorbei eilenden Personal entweder angerempelt oder übersehen wird. Unser Ziel ist es, durch Beharrlichkeit in den eigentlichen Gastraum vorzudringen.
6. Mai, Ljubljana. Auf Reisen erweisen sich Männer mit ihren – ansonsten vielleicht kritikwürdigen – typischen Eigenschaften oft als angenehme Begleiter: Sie sind pflegeleicht und anspruchslos, müssen sich nicht unbedingt waschen oder kämmen und sind in allem, sei es die Unterkunft oder das Transportmittel, sehr genügsam. Stell ihnen Wurst, Brot und Bier auf den Tisch und sie sind glücklich. Man mag das primitiv nennen, aber auf Reisen ist diese Einfachheit, diese schlichte Bescheidenheit von großem Vorteil. Weiterfahrt zum Gardasee und nach Meran.
20. Mai. Ich kenne einen Menschen, der zur sogenannten Elite gezählt wird. Er ist im Zentrum angekommen. Er war überrascht und es erinnerte ihn an den Zauberer von Oz. Es ging plötzlich gar nicht mehr tiefer hinein, es kam nichts Großes, man musste gar nicht mehr wissen oder mehr leisten - das war schon alles. Und man verschweigt diesen Eindruck, um nicht sich und zugleich alle anderen Menschen beschämen zu müssen. Im Zentrum, in der Elite angekommen, stellt er verblüfft fest, ist alles so einfach, so hübsch, so flach. Dort, wo er den Beginn der eigentlichen Schwierigkeiten vermutet hatte, war plötzlich nichts mehr gewesen. Eine immerwährende Sommerfrische, ein Zauberberg voll irrer Greise. Die sogenannte Elite sei bis ins Mark verrottet, sagt er, aber wer dazu gehört oder dazu gehören will, tritt in ein Kartell des Schweigens ein. Nach außen muss alles unbeschädigt wirken, obwohl doch alles längst hohl und leer ist.
28. Mai. Meine Haupttätigkeit besteht in der Produktion von Staub.
29. Mai. Amerika: Die Dummheit ist in schönere Häuser gezogen. Wenn das kein Fortschritt ist.
31. Mai. Schwermut und Leichtsinn gingen auf eine Reise. Sie wollten ins Königreich des ewigen Nachmittags. Leichtsinn wollte sich entspannen, Schwermut wollte sich erholen. Aber Leichtsinn wusste gar nicht, wie er sich entspannen sollte, denn er fühlte keinen Druck, der entweichen könnte. Und Schwermut wusste nicht, wie man sich erholt, und er war darum voller Sorge. Der König des ewigen Nachmittags empfing sie und gab beiden ein Geschenk, nachdem er sie königlich bewirtet hatte. Schwermut bekam einen Luftballon und Leichtsinn eine Eisenkugel. Später am Nachmittag beschlossen sie zu tauschen ... So hatte Schwermut seine Parabel und Leichtsinn seine Parodie und alle waren glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
4. Juni. Auf das Stadium der Verzweiflung folgen zwei Möglichkeiten der weiteren Entwicklung: Das Lachen oder der Untergang. Eigentlich gibt es auch noch ein Zwischenreich, den Zynismus.
11. Juni. Pläne? Macht die Sonne Pläne? Macht ein Stein Pläne?
Relativität: Immer wenn ich aus der Kneipe nach Hause komme, ist die Tür zu klein.
Machen wir uns nichts vor: Die besten Jobs sind die, wo es Alkohol und Drogen in rauen Mengen gibt. Als da sind: Fernsehen, Film, Musik, Zeitungsredaktionen usw. Kein Wunder, dass die Mehrzahl der Kids später mal „was mit Medien“ machen will, oder? Man denke nur an den Casting-Hype der letzten Jahre im Fernsehen.
14. Juni. Wackelkontakt: Den Kabelanschluss meines Fernsehers habe ich selbst installiert. Ein loses Drahtende hängt in der Anschlussbuchse, man darf es nicht berühren oder beide Teile fallen augenblicklich auseinander. Ähnlich ist es um die Anschlüsse meiner Stereoanlage bestellt. Meine Verbindungen zur Welt sind also äußerst fragil.
12. Juli. Die Dinge laufen nicht, weil sie gut sind, sondern weil es jemanden gibt, der sie gut findet.
Träumen Computer, wenn sie abgeschaltet sind?
10. August. Das Angebot der Medien wird nicht unbedingt schlechter, es passt sich nur einfach der geistigen und materiellen Verelendung der Bevölkerung an.
28. August. Frauen reißen sich die Augenbrauen aus, wenn sie ein Rendezvous haben – Männer die Nasenhaare.
10. September. Natürlich gibt es immer noch Zensur. Aber es geht nicht mehr um politische Einflussnahme, sondern um ökonomische Gleitfähigkeit.
14. September. Einer der wichtigsten philosophischen Ansätze ist die Idee der Gleichgültigkeit. Nur leider hat sich nie jemand die Mühe gemacht, diese Idee systematisch auszuarbeiten. Warum auch?
8. November. Das wäre das Paradies: In deinem Kühlschrank wächst Bier.
23. November. Irgendwann wird es Wohnungen mit Selbstzerstörungsmechanismus geben. Novemberfeuerwerk im grauen Berlin. Ich stehe am Fenster und betrachte die Explosionen.
15. Dezember. Die Entstehung des Lebens kann jeder in seiner eigenen Wohnung nachvollziehen. Zunächst gibt es Dreck. Und nach einer Weile gibt es auch Ungeziefer, das diesen Dreck mag. Der Mieter ist natürlich die Krone der Schöpfung, Herr über Ungeziefer und Dreck. Leben entsteht überall dort, wo niemand aufräumt und putzt. Darüber sollten wir alle einmal nachdenken ...
16. Dezember. Bei der heutigen Überwachungstechnik kann man nur raten: Revoltiert, solange ihr noch könnt!
17. Dezember. Aus uns soll einer schlau werden! Wir sitzen erst friedlich am See und füttern die Enten – und eine Stunde später sitzen wir in einem chinesischen Restaurant, um eines dieser Tiere zu futtern.
18. Dezember. Hättest du die Möglichkeit, doppelt so schnell zu leben, dafür aber auch nur halb so lang – wofür würdest du dich entscheiden? Nur ein Narr wählte die Geschwindigkeit.
23. Dezember. In all ihrer unerschöpflichen Schaffenskraft hat sich die Natur ein paar Extravaganzen erlaubt. Es gibt zum Beispiel schwarz-weiß gestreifte Pferde. Sie haben keine besondere Funktion und niemand braucht sie wirklich. Oder die norwegischen Fjorde. Wunderschön, wie Zebras. Unsere Gesellschaft oder meinetwegen das Leben an sich existiert auch ohne merkwürdige Säugetiere und Küstenverläufe. Trotzdem sind sie da – und ich würde sie als erstes vermissen.
Cyndi Lauper - All Through The Night. https://www.youtube.com/watch?v=fqDSNZTo8js
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