Mittwoch, 19. November 2014
Die Mauer ist weg
„Ich war beim Mauerfall in Berlin dabei.“
„Echt? Wieso hast du mir nie davon erzählt?“
„Ich habe damals für die Security gearbeitet.“
9. November 2014. Bornholmer Straße. Hier begann alles vor 25 Jahren. Ich bin durch den Mauerpark an die Brücke spaziert. Die alte Grenze ist mit weißen Ballons in Mauerhöhe nachgezeichnet. Es sind viele Leute unterwegs, die hauptsächlich fotografieren. Menschenschlangen vor Souvenirständen und der ambulanten Gastronomie. Auf einer Leinwand werden historische Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen aus der Zeit der Teilung gezeigt. Wohin führte der erste Weg der DDR-Bürger in jener Nacht? In den Wedding. In eine völlig unspektakuläre Ecke West-Berlins. Um 23:30 Uhr wurde die Grenze geöffnet – als im Wedding kaum noch was los war. Und im Wedding wird man sich gewundert haben, wer so spät noch in die Kneipe kommt.
Checkpoint Charlie. Hier ist geradezu Volksfeststimmung. Noch mehr Buden und Bilder der deutschen Geschichte, dramatische Musik, Popcorn, Flaschenbier. Kameras, Scheinwerfer und wichtige Menschen, die ich nicht kenne. Sie sprechen in Mikrophone und sind goldgelb angeleuchtet wie Lotteriegewinne. Ich habe genug von der Geschichte und flüchte zu meinem Lieblingsitaliener nach Kreuzberg. Hier bin ich dem Glück näher als an der alten Grenze. Die Plaudereien der Kellner im „+39“ tun mir gut. Alles klingt gut, wenn es in italienischer Sprache gesagt wird. Und es klingt besser als die ganzen Politikeransprachen, die ich im Laufe des Tages zu hören bekomme. Ich bin ein unfreiwilliger Angehöriger des deutschen Staates.
Wie ich übrigens aus zuverlässiger Quelle weiß, werden die Mauerstücke, die in den Souvenirshops der Innenstadt (die alle den gleichen Besitzer haben und aus dem gleichen Lagerhaus beliefert werden) mit „Echtheitszertifikat“ verkauft werden, in China hergestellt. Man erkennt die Fälschung an den albernen Bonbonfarben, die auch noch richtig frisch leuchten, obwohl der Mauerfall schon ein Vierteljahrhundert her ist. Wer sich noch an die Mauer erinnert, weiß natürlich, dass nur ein Bruchteil von ihr bemalt (und auch nur auf einer Seite, die Ostseite war jungfräulich grau) und nur ein vergleichsweise kleiner Teil (in der Innenstadt) monochrom beschriftet war.
Im Gegensatz zu mir war die charmante Dame, der ich diese Geschichte zu verdanken habe, in jener denkwürdigen Nacht tatsächlich am Ort des Geschehens und auf der Mauer. Sie berichtete von wahnsinnig viel Polizei und Militär auf der Ostseite. Wie war der November 1989 für mich? Als am 30.11.1989 der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, ermordet wurde, war es für in meinem Alltag ein größeres Ereignis als der Mauerfall, den ich erst am 10. November im Fernsehen mitbekommen habe. Wegen des Mordanschlags stand ich auf dem Weg von der Heidelberger Uni nach Ingelheim stundenlang im Stau und kam erst nach Mitternacht zu Hause an, weil die Polizei bei der Fahndung nach den Tätern den kompletten Verkehr über den Rhein lahmgelegt hatte. Ich hatte mich an einer Tankstelle mit Dosenbier eingedeckt und hörte Beastie Boys in ohrenbetäubender Lautstärke.
Der Mauerfall blieb – trotz seiner immensen Bedeutung – zunächst ein reines Medienereignis für mich. Ich kannte persönlich keinen einzigen Ostdeutschen und die rheinhessische Provinz ist von einer geradezu hartnäckigen Verschlafenheit. Als ich, vier Wochen nach dem Mauerfall, in Ingelheim auf unserem Balkon stand und eine Zigarette rauchte, wurde ich zum ersten Mal konkret mit der neuen Realität konfrontiert. Zuerst hörte ich nur ein Geräusch, so als würde ein pubertierender Dinosaurier herumpöbeln. Dann sah ich ein winziges hellblaues Auto die Rheinstraße entlangrollen. Es war nicht schnell, aber es produzierte eine gewaltige Qualmwolke, als wäre es einem Comic oder einem Slapstickfilm entsprungen.
Natürlich war ich damals auch begeistert und gerührt, mit welchem Enthusiasmus die Menschen für Freiheit und Selbstbestimmung eingetreten sind. Ich war überrascht und euphorisch, als die alten Herrscher davongejagt wurden. Und 1990 war ich enttäuscht und verbittert, als diese einmalige Chance der Geschichte weggeworfen wurde für Mallorca und Bananen, für Mercedes und Adidas. Glasperlen haben die Menschen bekommen – und so tapfer hatten sie für ihre Würde gekämpft. Helden für einen Augenblick. Und dann sanken sie zurück in die ewige Knechtschaft wie 1848 und 1918. Wie die Amerikaner nach 1776, wie die Franzosen nach 1789, wie die Russen nach 1917, wie die Chinesen nach 1949. Am Ende jeder großen Bewegung sehen wir die erbärmliche Mittelmäßigkeit unserer Gattung und eine neue Elite, die der alten erschreckend ähnlich ist. Wir erleben eine betäubende Epoche des Biedermeier und der Restauration. Wir spüren die Fesseln des Gewöhnlichen und bedauern eine Jugend, die wieder mit gesenktem Haupt aufwächst. Und das liegt nicht nur an den blöden Smartphones.
P.S.: Die Pogromnacht 1938 und die Ausrufung der Republik 1918, beides auch am 9. November, hat man heute versuchsweise in den Nachrichten vergessen. Weiter so!
Talk Talk – Living In Another World. https://www.youtube.com/watch?v=qAlLQaDXc4I
Aus 'Wir sind das Volk' wurde 'Wir sind ein Volk'.
AntwortenLöschenHat eigentlich jemand mal untersucht wann der Umschwung kam? Waren es die 100DM Begrüßungsgeld?
Ich war zu der Zeit in der Lehrwerkstatt und hab U-Stahl geschruppt.
Der Zug war eigentlich abgefahren, als bei der einzigen freien Volkskammerwahl im März 1990 die AfD ("Allianz für Deutschland" unter Führung von Helmut Kohl) über 48 Prozent der Stimmen erhielt. Der alte Teufel Ungeduld: Die DDR-Bürger hatten offenbar keine Zeit, eine neue Republik aufzubauen und haben sich der BRD angeschlossen. Und sie haben sich nicht die Zeit genommen, ihre eigenen Produkte zu verbessern, sondern kauften nur noch Westwaren - damit haben sie sich damals ökonomisch das eigene Grab geschaufelt ...
LöschenP.S.: Ich habe als Student der Politikwissenschaft im Herbst 1990 ein Referat über diese Volkskammerwahl gehalten und eine Hausarbeit geschrieben - bei einem Dozenten, der aus der DDR im selben Jahr in den Westen gegangen ist.
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