Dienstag, 28. Oktober 2014
Trinker
Er schämte sich für andere Trinker mehr als für sich selbst. Da waren die Eckensteher, an Kiosken und Würstchenbuden beheimatet, oft gute und aufrechte Männer, aber ohne Halt. Wenn sie anderen Eckenstehern ihre Geschichten erzählten, etwa beim zweiten oder dritten Bier, war immer etwas weg gebrochen, die Familie, die Arbeit oder etwas anderes. Erst von nahem roch man ihr Trinkerdasein, viele erkannte man auch einfach nur wieder, wenn man täglich die gleichen Wege ging. Von ihnen unterschieden sich die Pegel- oder Gewohnheitstrinker, die stets ihren Alkoholspiegel mit Hochprozentigem stabilisierten und entsetzliche Ausdünstungen verbreiteten. Hatte man im Hochsommer einen solchen Menschen vor sich in der Schlange bei Aldi, konnte man danach für Stunden nichts mehr essen. Am schlimmsten waren natürlich die Obdachlosen, die keinen privaten Ort hatten, an den sie sich zurückziehen konnten. Sie mussten in aller Öffentlichkeit trinken, zum Beispiel im Kreise nüchterner Passagiere in einem Bahnhof trunken werden, ohne Schutz, ohne den Trost der Einsamkeit. Trinken ist ein intimer Akt und wahre Trinker sind äußerst schüchterne Menschen, die sich zum Zwecke der Erheiterung oder der Betäubung ganz in sich selbst zurückziehen müssen. Es ist schrecklich, keine Heimat zu haben und trotzdem zu trinken. An einem Ort zu sein, an dem jeder einem Ziel entgegen zu eilen schien, nur man selbst nicht. Er spürte, dass es vielen dieser Männer – und es waren fast nur Männer, erwachsene Männer mittleren Alters – peinlich war, gerade hier zu sein. Ihre Show war eine leicht zu erkennende Farce: Wenn sie gelegentlich herum liefen, waren sie zu langsam und ziellos. Und mit jedem Schluck verrieten sie sich mehr. Alles veränderte sich an diesem Ort, nur für sie selbst änderte sich nichts. Sie waren die Traurigsten unter den Trinkern. Ihr Trinken war ohne Freude, ohne Hoffnung. Ihr Leben änderte sich nicht im Rausch, aber ihnen fehlte die Kraft oder der Mut, auch dieses letzte Stück Leben noch aufzugeben. (aus „Die singende Fleischwurst“ von Rondo Delaforce)
The Pogues - Dirty Old Town. http://www.youtube.com/watch?v=GF9dHxbDa5w
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