Donnerstag, 16. Oktober 2014
Das Spiel
Obwohl es schon Oktober war, schien die Sonne an diesem Nachmittag. Ich stand mit meinen Freunden auf dem Rasen zwischen den Wohnblocks und wir überlegten, was wir spielen sollten. Sven schlug vor, Polizist und Asylant zu spielen. Eine Hälfte von uns sollte Polizist spielen, eine Hälfte Asylant. Wer von den Asylanten den Baum in der Mitte des Rasens erreichte, hätte gewonnen, wer vorher erwischt wird, hätte verloren. Wir warfen nacheinander ein Zehn-Cent-Stück, Bild bedeutete Asylant, Zahl Polizist. Ich gehörte mit Max und Sven zu den Asylanten, die anderen drei waren die Polizisten.
Die Polizisten standen am Baum und zählten mit geschlossenen Augen laut bis Zwanzig. Wir rannten davon und versteckten uns. Max verschwand in einem Kellereingang, von dessen Treppe man einen guten Überblick über den Rasen zwischen den Häusern hatte, Sven versteckte sich hinter den Mülltonnen und ich saß im Gebüsch neben den Garagen. Als sie fertig gezählt hatten, gingen die Polizisten langsam in verschiedene Richtungen los, um uns zu suchen. Der Baum war etwa fünfzig Meter von mir entfernt. Ich zögerte noch, das dichte Gestrüpp bot mir zwar eine gute Deckung, aber es war schwierig, geräuschlos heraus und auf den Gehweg zu kommen.
Ein dunkelhäutiger Erwachsener näherte sich von links. Er zog einen zweirädrigen Einkaufsroller voller Prospekte hinter sich her und hielt am ersten Haus, um die Briefkästen mit bunter Reklame zu füllen. Max nutzte diesen Augenblick der Ablenkung, um aus seinem Versteck hervorzustürzen. Er rannte auf den Baum zu, aber einer der Polizisten war schneller. Er schlug ihm auf die Schulter und rief „Hab dich“. Max hielt an und ein zweiter Polizist kam dazu. „Du bist raus“, sagte er und drehte sich wieder um. Jetzt sah ich von rechts Sven heranlaufen, er musste nur einem Polizisten ausweichen und erreichte den Baum. „Gewonnen“, schrie er triumphierend.
„Dann gehörst du jetzt zu uns“, sagte einer der Polizisten. Gemeinsam gingen sie los. Ich war der letzte Asylant. Hinter den Mülltonnen konnte ich nicht sein und auch die Kellertreppe fiel aus. Langsam näherten sich die Polizisten den Garagen. Ich legte mich ganz flach auf den Boden und versuchte, so leise wie möglich zu atmen. Warum musste ich ausgerechnet heute den roten Pullover tragen, den mir meine Großmutter zum Geburtstag geschenkt hatte? Mit klopfendem Herzen wartete ich auf das Ende des Spiels.
Pink Floyd - Wish You Were Here. http://www.youtube.com/watch?v=NavVfpp-1L4
P.S.: Derzeit lese ich "Liebe deinen Nächsten" von Erich Maria Remarque. Es geht um deutsche Flüchtlinge in der Nazi-Zeit, der Roman entstand im Exil.
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