Donnerstag, 30. Oktober 2014
Das Ende der Ideologie
Demnächst feiern wir nicht nur das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des Mauerfalls, sondern auch den fünfundzwanzigsten Todestag der Ideologien. Sozialismus und Kommunismus wurden gemeinsam mit einigen Staaten beerdigt, die sich diesen Ideologien verschrieben hatten: UdSSR, DDR, Jugoslawien, Tschechoslowakei. Viele halten den Kapitalismus ebenfalls für eine Ideologie, aber gerade das ist er nicht. Er ist keine theoretisch begründete Weltanschauung, sondern eine völlig theoriefreie Veranstaltung, die an den Urinstinkt jedes Lebewesens appelliert: Denk zuerst an dich und deine Sippe. Mach Geld, bevor es andere machen. Nimm dir, soviel du kriegen kannst. Und erst, wenn du satt bist, überlass die Reste den anderen.
Was machen Unternehmer? Profit, wenn alles gut läuft. Pleite, wenn es schief geht. Wie machen sie das? Indem sie den Leuten das verkaufen, was sie haben wollen. Wollen sie Fleisch? Gib es ihnen. Wollen sie Gemüse? Gib es ihnen. Wollen sie rot-blau-kariertes Klopapier? Gib es ihnen. Dieses einfache Prinzip haben viele Menschen noch nicht verstanden. Sie halten den Kapitalismus für eine Ideologie und wollen ihn verändern. Aber mit Argumenten und Petitionen, mit Demonstrationen und Plakaten verändert man ihn nicht. Weil er eben nicht theoretisch begründet und damit auch nicht theoretisch veränderbar ist. Es ist ganz einfach: Wir alle sind der Kapitalismus, so wie wir alle der Staat sind. Wir ändern den Kapitalismus nur, wenn wir uns selbst ändern.
Sie möchten nicht, dass die Online-Konzerne von Amazon bis Zalando den Einzelhandel in den Innenstädten kaputt machen? Bestellen Sie nichts im Internet, sondern bewegen Sie ihren selbstgefälligen Arsch in die Stadt. Sie finden es blöd, dass Apple keine Steuern zahlt und in China Arbeiter ausbeutet? Kaufen Sie ein anderes Produkt. Ihnen passt es nicht, dass McDonald's und Starbucks eine Schneise der Vernichtung in die örtliche Gastronomie schlagen? Essen und trinken Sie woanders. Sie halten die Gehälter der Automanager für eine Unverschämtheit? Fahren Sie mit dem Fahrrad und mit dem Bus. Und wussten Sie, dass es in Deutschland Apfelbäume gibt und freundliche Bauern, die Ihnen das Obst auch verkaufen? Ersparen Sie sich und uns allen den Wahnsinn mit neuseeländischen Äpfeln und kalifornischem Wein. Diskutieren und lamentieren Sie nicht, handeln Sie. Der Kapitalismus findet in Ihrem Kopf und in Ihrer Brieftasche statt.
P.S.: Warum nimmt man Autoren wie mich im Kapitalismus eigentlich nicht ernst? Weil ich meine Texte verschenke. Kein Profit, keine Anerkennung. Wie wäre es, wenn Sie dem nächsten Obdachlosen (die sind übrigens gerade in der Innenstadt und warten auf Sie) im Namen des Kiezschreibers und der Menschlichkeit einen Euro schenken? Ich bin sicher, dass dieser ritterliche Gedanke in diesem Augenblick Ihr Herz erwärmt. Aber wissen Sie, wie die Geschichte in der Fußgängerzone Ihrer Wahl weitergehen wird? Sie sehen diesen versoffenen, hässlichen, ungewaschenen, alten Schmierlappen von Penner und denken sich: Fünfzig Cent tun es auch. Oder Sie denken sich: Ich zahle wahnsinnig viel Steuern, da sind das Obdachlosenasyl und die Armenküche mit drin, und mein Sohn braucht ein neues Smartphone. Und was man für einen Euro nicht alles im Ein-Euro-Shop bekommt! Hat man diesen Euro nicht gerade durch Preisvergleich und Schnäppchenjagd, bei einer Ebay-Auktion oder durch den Verzicht auf ein Markenprodukt mühsam eingespart? Vom Elend der Erwerbstätigkeit und den Entbehrungen eines Erziehungsberechtigten gar nicht zu reden, die dem Obdachlosen natürlich fremd sind … Sehen Sie, so funktioniert Kapitalismus. Und den wohlfeilen Ablasshandel einer geheuchelten Kapitalismuskritik können wir vollgefressenen Wohlstandsdeutschen uns gepflegt in die geföhnten Haare schmieren. Wer unter Euch ohne Egoismus und Gier ist, der werfe den ersten Stein.
P.P.S.: China, Laos und Vietnam mögen formal noch kommunistische Staaten sein, aber das Leben ihrer Bürger ist stärker vom Kapitalismus geprägt als es in Deutschland je der Fall war. Kuba und Nordkorea sind die letzten Bastionen dieser Ideologie. Die letzten faschistischen Diktaturen gab es bis in 1970er Jahre in Spanien und Portugal. Die Diktaturen der Gegenwart sind entweder religiös begründet oder sie verzichten auf ein theoretisches Fundament.
Ultravox – Artificial Life. http://www.youtube.com/watch?v=R6wnM6XbAYc
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