Sonntag, 19. Oktober 2014
1999
Auszüge aus dem Notizbuch:
11. Januar. Dialog im Kiosk, U-Bahnhof Spichernstraße.
Ich: Sechs Dosen Bier, bitte.
Verkäufer: Na, da hat aber einer Durst.
Ich (nach kurzem Zögern): Ich bekomme Besuch.
Verkäufer (lacht): Das hätte ich an Ihrer Stelle auch gesagt.
Wir brechen beide in das heisere Lachen der Raucher und Trinker aus. Ich zahle und gehe.
„Heiterkeit oder Freudigkeit sind der Himmel unter dem alles gedeiht, Gift ausgenommen.“ (Jean Paul)
25. März. Seit 24 Stunden ist die Republik im Krieg. Der Lifestyle-Kanzler hält staatstragende Ansprachen, nicht weit von mir im Interconti an der Budapester Straße, wo der EU-Gipfel stattfindet. Alles so nah – und doch merke ich im wirklichen Leben nichts davon.
31. März. Es war weniger die Erfahrung, sondern das Quecksilber in seinen Zahnfüllungen, das ihn mit den Jahren ruhiger werden ließ.
12. Mai. 1999 – die Jahreszahl klingt wie der Preis eines Supermarktartikels. „19,99 DM. Jetzt im Angebot, nur für kurze Zeit.“
1. Juli. Fortschritt: Was durch die Technik zerstört wird, soll durch die Technik erlöst werden.
2. Juli. Neben der obligatorischen Gesundheit kann man eigentlich nur Phantasie, Humor und Langmut wünschen.
3. Juli. Der Elfenbeinsarg der Wissenschaft. Fünf Monate bin ich offiziell arbeitslos gewesen und habe Arbeitslosengeld bezogen. Trotzdem bin ich jeden Tag ins Büro gegangen und habe am Difu weitergearbeitet. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, die meine Forschung größtenteils finanziert, weiß das auch – das ist die Realität im Forschungsbetrieb. Und auch der jetzige Teilzeitarbeitsvertrag bedeutet selbstverständlich Vollzeit plus unbezahlte Überstunden. Bis zum Vertragsende 2001. Dann geht das Spiel wieder von vorne los.
5. August. Die neunziger Jahre: „Ich will nicht die Welt retten, ich will meinen Arsch retten.“
11. August, „Totalitätszone“. Sonnenfinsternis auf E im Cabrio mit Blick auf den Rhein. Es ist eine Stimmung wie an Silvester, man ist mit der Familie oder Freunden zusammen, niemand arbeitet, alle sind gelassen. Auf Feldern und an Straßenrändern, auf Balkonen und Terrassen stehen Menschen und starren mit ihren Spezialbrillen in den Himmel. Als die Sonne wieder scheint und die Vögel wieder zu singen beginnen, streben alle in die umliegenden Restaurants, als gäbe es Neujahr oder etwas ähnliches zu feiern. Könnte ruhig öfter sein.
7. September. Kapitalismus ist die Kunst, jedem Menschen gerade so wenig zu gewähren, dass er diesem Leben nicht entfliehen kann, und gerade so viel, dass er nicht völlig resigniert. Niemand will wirklich arbeiten, aber alle brauchen Geld zum Leben. Also belügen und betrügen wir uns alle gegenseitig, wenn wir für ein paar Münzen unseren Mund oder unsere Arme bewegen. „Was darf ich für Sie tun?“ Einen Scheiß, wenn die Gehaltsabrechnung nicht stimmt!
27. September. Anagramme: Eberling => Gin Rebel, Bin leger, Nebliger. Matthias Eberling => Shit banal gereimt, Shit magna Bit leer, Gala erbt mein Shit.
16. November. Solange ich am Leben bin, wird Slapstick nicht sterben. Diese Szene ist Jerry Lewis gewidmet: Auf einem Empfang der Bonner Oberbürgermeisterin tönt plötzlich ein elektronisches Wimmern aus meiner Jackentasche. Die Umstehenden erwarten ein Handy, doch ich ziehe meinen kleinen Plastikreisewecker hervor. Im Gelächter halte ich ihn an mein Ohr und imitiere ein Gespräch.
6. Dezember. Eine kleine Weihnachtsgeschichte:
Ich will eine Geschichte erzählen, die sich wirklich zugetragen hat. Es handelt sich hierbei um die wohl grässlichste Flatulenz der Historie. Von allen üblen Leibeswinden, die es je gegeben hat (und es waren derer nicht wenige), nimmt diese Blähung den allerersten Platz ein und verdient daher auch einen eigenen Namen: der Natalinho.
Atze und ich saßen im Busbahnhof von Natal an der brasilianischen Küste fest. Wir hatten zwei „Hamburger“ in einem zweifelhaften Imbiss zu uns genommen und es ging uns wirklich schlecht. Wir hockten auf einer Betonbank in der Wartehalle, elend und schweigend. Da passierte es. Wie immer in diesen Fällen lautlos. Unbemerkt. Verheerend. Eine junge Frau, die etwa einen Meter von uns entfernt stand, merkte es als erstes. Ich sehe die Szene wie in Zeitlupe vor mir: Sie erhascht einen Anflug dieser olfaktorischen Splittergranate und wendet sich augenblicklich mit verzerrtem Gesicht ab, läuft instinktiv ein paar Schritte und dreht sich dann fassungslos und entsetzt zu uns um. Andere erreichte die Welle kurze Zeit später – lautlos, unsichtbar, brechreizerregend – und in wenigen Sekunden hatte sich ein großer menschenleerer Kreis um uns gebildet.
Ich blieb sitzen, trotz des Geruchs und der Schmach, für den Urheber gehalten werden zu können. Heute überwiegt jedoch die sportliche Anerkennung und auch ein wenig der Stolz, von dieser großen Tat Kunde geben zu können.
T. Rex – 20th Century Boy. http://www.youtube.com/watch?v=_RPqY3CurSQ
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