Samstag, 27. September 2014
Lob des Zögerns
Im vergangenen Sommer hat sich Wolfgang Herrndorf in Berlin erschossen. Unter der oberflächlichen Meldung zu seinem Tod bei „Spiegel Online“, einer drittklassigen Internet-Seite, die ich Ihnen auf keinen Fall empfehlen kann, steht als Postskriptum der Satz: „Falls Sie sich selbst in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden oder Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie bitte mit anderen Menschen.“ Wolfgang Herrndorf hatte einen Hirntumor. Das Schreiben und Sprechen fiel ihm von Tag zu Tag schwerer. Er hat den Krebs getötet, bevor der Krebs ihn töten konnte.
Pantophagos der Prächtige schlenderte am Ufer des Hohenzollernkanals entlang, als er den Mann mit der Pistole im Gras sitzen sah. Er setzte sich zu ihm und sprach: „Mir ist es vor einiger Zeit auch so gegangen wie Ihnen. Und wissen Sie, was mir geholfen hat? Meine Gründlichkeit, meine Nachdenklichkeit und letztlich meine Faulheit. Monatelang habe ich an nichts anderes gedacht als an Selbstmord. Jeden Morgen bin ich aufgewacht und habe gedacht: Heute ist der letzte Tag. Und ich hatte keine Pistole wie Sie. Sonst wäre ich vermutlich schon längst tot. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie aus der Hand zu legen? Es macht mich nervös. Mit so einer Waffe kann man jemanden umbringen. Ich habe immer an verschiedene Arten des Selbstmords gedacht. Manchmal wollte ich mich aufhängen. Dann habe ich darüber nachgedacht, wo ich einen soliden Strick herbekomme. Ich wiege über hundert Kilo, da brauchen Sie einen richtig dicken Strick, keine Schnur. Manchmal bin ich sogar durch das Haus gelaufen und habe einen Strick gesucht. Aber ich habe keinen richtigen Strick für meine Zwecke gefunden. Dann habe ich überlegt, zu einem Baumarkt zu fahren, um mir einen Strick zu kaufen. Aber ich habe kein Auto. Also hätte ich mit dem Bus fahren müssen. Dazu muss ich im Internet nach dem Fahrplan suchen, denn in meinem kleinen Dorf fahren die Busse nicht allzu oft. Im Internet hätte ich auch nach dem richtigen Knoten für den Strick suchen müssen, denn man muss ja einen richtigen Knoten machen, wenn man sich aufhängen will. Da hilft kein einfacher Hausfrauenknoten oder der Knoten, den man zum Binden der Schnürsenkel benutzt. Man will ja nicht qualvoll ersticken, sondern sich sauber das Genick brechen. Dann habe ich darüber nachgedacht, wo ich den Strick anbringen soll. An der Decke befinden sich keine Haken. Außerdem sind die Zimmer in meinem Haus recht niedrig. Darüber habe ich so lange nachgedacht, bis ich zu erschöpft war. Also habe ich den Selbstmord um einen Tag verschoben. Am nächsten Tag habe ich darüber nachgedacht, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Aber dann dachte ich an die Schmerzen und es ist ja auch kein schneller Tod. Wer will schon eine halbe Stunde lang sterben? Es soll schnell und schmerzlos sein. Vielleicht springe ich von der Autobahnbrücke vor einen Lkw? Aber es ist ein langer Weg bis zur Autobahn und es ist auch schwierig, den exakten Zeitpunkt zum Absprung zu finden. Schließlich habe ich damit keine Erfahrung. Und ich dachte auch immer an den armen Fahrer, der für den Rest seines Lebens mit meinem Todessprung vor seinen Laster leben muss. Jeden Tag hatte ich diese Gedanken und jeden Tag habe ich meinen Selbstmord verschoben. Machen Sie es doch einfach genauso! Stecken Sie die Pistole wieder ein und kommen Sie morgen hierher zurück. Es ist keine große Sache. Zögern Sie Ihren Tod einfach um einen Tag hinaus, das ist doch ganz leicht. Dazu müssen Sie Ihren Entschluss ja nicht ändern. Sie machen es einfach einen Tag später. Denken sie mal darüber nach!“
Pantophagos der Prächtige stand auf und ging weiter. Er hörte keinen Schuss.
Yazoo - Don’t Go. http://www.youtube.com/watch?v=tLTGs4fqxBk
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