Sonntag, 28. September 2014
1993, Teil 2
5. Juli. Im Badezimmer bäumen sich die Fließen unter mir auf und sträuben sich jeder Perspektive. Wenn mein Blick das unruhige Muster an einer Stelle niedergedrückt hat, zuckt es auf der anderen Seite wieder auf. Versuche nicht, mich jetzt durch Ratschläge zu beeinflussen. Deine Stimme ist in diesem Moment nicht mehr als Vogelgezwitscher.
9. Juli. Tagesübung: Ich versuche, einen brodelnden Topf voller Spaghetti mimisch, gestisch und akustisch zu imitieren.
16. Juli. Da freut man sich das ganze Jahr auf diese paar schönen Juli-Tage – und stellt dann fest, dass sie genauso beschissen sind wie der Rest des Lebens.
18. Juli. Durch all die Jahre habe ich mich wie ein angeschossener Gangster bis in diese Berliner Wohnung geschleppt. Hier verende ich.
21. Juli. Im Kino „Permanent Vacation“ von Jim Jarmusch. Das passt momentan „kolossal“, wie es anno dunnemals wohl hieß. Ich habe auch Dauerferien. Billiges Leben, billiges Bier, billiges Essen etc. Ich gehe sogar mit Worten sparsam um.
29. Juli. Down and out in Capital City: Eugen heißt die schleimige Kröte, die von ihrem Balkon im Erdgeschoss den Frontbereich des Hauses überwacht. Er verlässt den kleinen Balkon nie, nicht mal zum Scheißen. So hat sich im Lauf der Zeit eine Kotschicht gebildet, die mit dem missmutig dreinblickenden Kopf zusammengewachsen ist. Teleskopartig reckt er den faltigen alten Schädel, ruhig wandern die Blicke über den Gehweg. Gestrüpp verhindert seine Entdeckung durch die ahnungslosen Passanten. Ich aber muss jeden Tag unter der Last dieser widerwärtigen Prüfung, dieser abschätzenden Verachtung ins Haus.
3. August. Übers Wochenende war ich mit D. an der polnischen Ostsee. Der herbe Ostblock-Charme ist hier noch fast unverändert zu spüren. Wir saßen in Gaststätten, die den Namen nicht verdienen: Stahlgerüste mit rostigem Blechdach, wenige und weit voneinander entfernte Tische und eine armselige Theke mit einem Bierzapfhahn und einer Glasvitrine mit Fressalien und Flaschen. Im Hotelzimmer ließen sich weder das Fenster noch die Balkontür öffnen. Ansonsten Ramschmärkte und fette Mahlzeiten.
4. August. Es ist heiß. Eben kam eine fette Fliege durchs Fenster geflogen und fiel einfach tot zu Boden.
5. August. Mein Gewährsmann in Currywurstfragen, bei dem ich regelmäßig zu speisen pflege, erhält demnächst aus einem Grundstücksverkauf seiner Eltern 100.000 DM. Damit will sich der in Ehren alt (37) gewordene Herr über Bratfett und Grillroste einen Traum erfüllen: eine eigene Würstchenbude. Gott schütze diesen aufrechten Mann.
10. August. Am Anfang sah er nur das Licht. Erst allmählich begann er, die Farben zu erkennen. Das uferlose Geweih aus Formen und Bedeutungen kam erst viel später, und er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt sah oder ob die Anderen es ihm nur einredeten.
19. August. G. erzählte folgende Geschichte aus dem Leben seines Vaters: Um sich dem „Volkssturm“, dem letzten Aufgebot Hitlers, zu entziehen, war dieser in die hessischen Wälder geflohen und lebte in einer Waldhütte. Als die Amerikaner kamen, gab er sich als französischer Zwangsarbeiter aus und arbeitete alsbald in Hamburg, wo man deutsche Kulturgüter in unterirdischen Hallen sammelte. Zusammen mit einem amerikanischen Offizier war er nun nachts Herr über Gemälde und andere Kunstschätze. Sie stellten beispielsweise Bilder von Beckmann und Dürer an den Wänden auf, während sie sich mit Whisky betranken. Eines Nachts setzte er sich im Suff alle deutschen Kaiserkronen von Karl dem Großen bis Wilhelm Zwo auf den Kopf, trank dazu und lachte, bis er einschlief. Diese Szene erzählt mehr über den Untergang von 1945 als viele Bücher.
26. August, San Francisco. Nach einer Kneipentour in der Haight Street lernen wir ein paar Hobos am Eingang des Golden Gate Parks kennen. C. und ich können den Suff im Supermarkt besorgen, den sie nicht betreten dürfen, im Gegenzug teilen sie ihr Gras mit uns. Wir verziehen uns in ihr Camp, das sie hinter Büschen und Bäumen aufgeschlagen haben. Hier sitzt ein alter weißhaariger Mann, der aussieht wie Gott auf irgendwelchen Kitschbildern. Er nennt sich selbst „König des Parks“ und während alle sich ducken und verstecken, als sich die berittene Polizei dem Camp nähert, ruft er voller Stolz in die Dunkelheit, er habe das Recht hier zu sein. Wir trinken und reden die ganze Nacht, ein junger Obdachloser namens Kid hängt mir seine Halskette um und macht mich so zum Mitglied der Hoffnungslosen. Wir schlafen im Zelt des Alten, in dem es nicht nur eine kleine Kommode, sondern auch eine amerikanische Flagge gibt.
28. August, Cambria (Kalifornien). Wie ich es gestern Abend geschafft habe, den Autoschlüssel des Mietwagens beim improvisierten Öffnen einer Weinflasche abzubrechen, habe ich vergessen. Der Dorfschmied kann einen Schlüssel nachmachen, ich helfe sogar beim Feilen. Der Kellner des Restaurants, in dem wir frühstücken, entpuppt sich als Musikvideokünstler, der mit einer Heavy Metal-Band in einem Haus wohnt. Als er kurze Zeit später, seine Schicht ist zu Ende, vor uns steht, wissen wir nicht, ob sein T-Shirt oder der VW Käfer, Baujahr 1965, mehr Farben hat. Wir verbringen den Nachmittag in seinem Studio.
1. September, Las Vegas. Die Stadt leuchtet unter uns, als wir am Abend von den Hügeln hinunter fahren. Bis zum Vormittag spielen wir Poker und lassen uns mit billigen Drinks volllaufen. C., beruflich in einer Nervenheilanstalt in Berlin tätig, gibt ihr psychologisches Urteil über mich ab: „introvertiert-schizoid mit zwanghaften Tendenzen.“ Ein unauffälliger Exzentriker, außerhalb der Gesellschaft stehend, aber nicht ausgestoßen. „Primäre neurotische Fehlentwicklung bei zwanghafter Persönlichkeitsstruktur auf dem Hintergrund einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung“, so hat sie es mir diktiert. Was immer das bedeutet, es ist mir egal. Erst am nächsten Morgen sehen wir die Stadt wirklich, von all ihren Lichtern entkleidet, hässlich in ihrer nackten Trostlosigkeit.
7. September, Lamesa (Texas). Nachdem wir den Geburtstag von C. mit einer Flasche Bourbon, natürlich bei fröhlicher Fahrt über die Highways, begossen haben, werden wir verhaftet. „Public intoxication“ lautet die Anklage, Besoffensein in der Öffentlichkeit, in Deutschland kein Vergehen. So klicken die Handschellen und es geht in den County Jail. Verhör, Fingerabdrücke, Fotos – das ganze Programm. Ich rede, C. lacht und kugelt sich auf dem Boden herum. Sie hat mit der Stasi schon ganz andere Geschichten erlebt, ein schwuler Cousin hat sie 1988 nach West-Berlin „ausgeheiratet“. Die Nacht verbringt jeder in einer Einzelzelle: hellgrün gestrichen, Klo und Waschbecken vorhanden, Gittertür, keine Fenster und ein Doppelstockbett mit Plastikmatratzen, dazu eine kratzende graue Decke.
8. September. In Handschellen, links und rechts ein fetter Texasbulle in schwarzer Uniform, geht es am Morgen quer über die Hauptstraße zum Haftrichter. Wir bekommen 180 Dollar Strafe aufgebrummt, dann geht es in Polizeibegleitung zur Bank, wo ich Travellerschecks einlöse. Den Wagen hat man von vorne bis hinten nach Drogen gefilzt, wir fahren weiter nach New Orleans.
16. September, Washington, D.C. Auf den Stufen des Capitols treffen wir einen lebensmüden Karrieristen (Filialleiter Elektromarkt und FDP-Mitglied) aus dem Saarland, der sich einfach in die nächste Maschine in Richtung USA gesetzt und zu Hause einen Stapel Abschiedsbriefe hinterlassen hat. Er schließt sich uns an und wir fahren weiter an die Niagara-Fälle. Am Ende, als wir in New York sind, wird er sagen, es sei der schönste Urlaub seines Lebens gewesen. Was muss das für ein Leben sein, wenn es einer mit uns schön findet!
6. Oktober, Berlin. Gutenbergs Fluch: Aus einem schmalen klaren Flüsschen hat sich die Literatur zu einem breiten, flachen und schlammigen Strom entwickelt, dessen uferlose Fluten längst in allen Kellern stehen.
7. Oktober. Es musste passiert sein, als wir schliefen. Jedenfalls waren am nächsten Morgen die Häuser auf der anderen Straßenseite einfach verschwunden. Niemand wusste, wo sie abgeblieben waren. Jede Spur der Zerstörung fehlte. Es schien, als seien sie sanft abgehoben und in die Dunkelheit davon geschwebt. Wer weiß, wo sie jetzt sind? Von meinem Fenster aus konnte ich nur eine weite Wiese sehen, hinter der sich ein Wald dampfend in die Morgendämmerung erhob.
14. Oktober. Seit einigen Tagen habe ich einen Job als Telefonist eines Meinungsforschungsinstituts in Schöneberg. Ich trage ein "Sprechgeschirr" oder "Headset", so wie ein Pferd Zaumzeug trägt, wenn es die Kutsche oder den Pflug zieht. Derzeit telefoniere ich für eine Befragung zum Thema „Bier“. Eine Frau war nachmittags um Fünf schon zu besoffen, um die Fragen zu verstehen.
23. Oktober. „Aufmachen Einschenken Tanzen“. Fernsehreklame für Schnaps.
5. November, Duisburg-Marxloh. Ein Ort von bizarrer Hoffnungslosigkeit, Stahlwerke liegen wie gestrandete Schlachtkreuzer am Wegesrand, Häuser und Menschen rußgeschwärzt. Nach Feierabend lassen die Arbeiter in den Kneipen ihre Lyrikschätze aufleben: „Abends früh ins Bett/Suppe ohne Fett/Morgens Arsch warm/Fliegeralarm.“ Ich sitze am Fenster und schreibe, es geht nicht anders, ein seltsamer Drang, eine eigenartige Mischung aus Langeweile, Alkohol und Selbstüberschätzung. So vergeht die Zeit zwischen den Schlucken, ohne großes Nachdenken bahne ich mir den Weg durch die Nacht, ein kleines Stück auf dem großen Weg in Richtung Ende.
6. November. L., ein alter Freund, der inzwischen auf einem Bauernhof im Hunsrück lebt, ist durchgedreht und sitzt seit vier Wochen in der geschlossenen Abteilung einer Nervenheilanstalt. Folgendes warf ihn aus der Bahn: Beim Abschleppen eines anderen Wagens blieb er unglücklicherweise auf einem Bahnübergang stehen, die Schranken gingen herunter. Er und der Mann im anderen Wagen konnten sich retten, bevor der Zug das Gespann zermalmte. In den folgenden Wochen steigerte er sich immer mehr in diese Geschichte hinein, ihre möglichen Folgen etc. Er schlief kaum und nahm massenhaft Drogen. Es kam soweit, dass er behauptete, Bob Marleys Lieder gäben seine eigenen Gedanken und Worte wieder. Überall sei Babylon, um ihn herum nur Schlechtigkeit. Er griff Freunde an, seine Freundin zog aus und er verschenkte sein ganzes Geld (sogar Tausend-Mark-Scheine). Am Ende hielt er sich für Jesus, wollte eine neue Bibel schreiben und rief einen Fotografen der Tageszeitung an, der dazu die Fotos liefern sollte.
30. November. Wann es anfing, weiß ich nicht genau. Vielleicht habe ich es auch vergessen. Es ist auch möglich, dass es Schübe gab, gefolgt von Unterbrechungen, auf die wieder Schübe folgten. Aufgefallen ist es mir jedenfalls an diesem Abend: Mein Körperhaar wächst unaufhörlich, an manchen Stellen erreicht es bereits die Dichte eines Tierfells, bisher unbehaarte Stellen bringen schwarze Borsten hervor. Ich erschrecke, glücklicherweise ist es fast Winter, schon liegt Schnee auf den Straßen und Dächern, alle Menschenkörper sind verhüllt. Diese Entwicklung geht einher mit einer geistigen Rückbildung. Hielt ich die Unlust gegenüber meinen Büchern im Frühjahr noch für eine vorübergehende Abwendung von jeglicher geistigen Anstrengung, so ist es jetzt – es fällt mir im Kopf eben alles schwer. Die Arbeit fällt mir leicht. Die Besorgungen werden von den Bedürfnissen geleitet. Ich nehme im Supermarkt, was ich brauche. Alles andere wird immer schwieriger. Heute habe ich mir Stirn und Wangen rasiert. Jetzt juckt die Haut und schon schieben sich neue Stoppeln hervor. Als würde mein Körper alle Kraft in die Produktion von Haaren stecken, als wäre ich ein Geschöpf aus den täglichen und nächtlichen Träumen der Friseure. Meine Handrücken und Finger sehen schrecklich aus, mein kugelrunder Bauch sieht aus wie ein Urwaldplanet. Ich vermeide es, andere Menschen zu treffen, weil ich ihre Fragen fürchte. Wer weiß, am Ende grunze ich noch in all der Aufregung. Das Schreiben macht Kopfschmerzen.
4. Dezember. Heutiger Traum: ein Mann besucht eine einsame Insel. Hier wohnen nur noch ein alter Mann und seine Tochter. Früher lebten hier viele Familien, es gab eine Fabrik, die dem Alten gehörte. Er erzählt von den Unglücksfällen: Ein Sturm zerstört viele Häuser, eine seltsame Krankheit rafft viele Familien dahin und schließlich stürzt die kleine Kirche während des Gottesdienstes zusammen, auch seine Frau kommt dabei ums Leben. Die Anderen verlassen die Insel. Der alte Mann erzählt das alles mit unruhig flackernden, braunen Augen. Bei ihrem Rundgang sind die Männer in einer riesigen verfallenen Maschinenhalle. Jeder Ort der Insel sei nur einmal vom Unglück getroffen worden, erzählt der Alte, diese Halle wäre bisher vom Pech verschont worden. In diesem Augenblick fällt ein großer steinerner Engel durch das gläserne Dach der Halle und tötet fast den Besucher. Beide flüchten nach draußen und gehen über eine Wiese zum Waldrand. Hier zieht der Alte plötzlich ein Messer und versucht, den Mann zu töten. Sie kämpfen und der Mann fragt den Alten im Ringen, ob er nach ihm auch das Mädchen töten wolle. Der Alte lacht nur irrsinnig. Schließlich überwältigt der Besucher den alten Mann und führt ihn, das Messer am Hals, über das Feld davon. Der Blick wendet sich von ihnen ab und „fährt“ langsam auf einen Baum im Hintergrund zu. In einem Astloch des Baumes flackert das unruhige braune Auge des Alten: der Dämon, der diese Insel beherrscht und in den alten Mann gefahren ist, um alle Fremden von dieser Insel zu vertreiben. – In tiefster Nacht/ Bin ich erwacht/ Und hab euch etwas mitgebracht.
5. Dezember. Wunderbar in diese Zeiten passend sind die Berichte von Unternehmen und wissenschaftlichen Instituten, die Leichen für Crash-Tests missbraucht, nein: einem finalen Nutzen zugeführt haben. Die Heidelberger Uni verwendete tote Kinder: „Bei fünfzig Stundenkilometern wurde ein Frontalkollision herbeigeführt. Jeder Körper ist nur einmal verwendet worden“ (O-Ton). Und von Mercedes hieß es: „Nach Beendigung der Testreihe werden die Überreste mit Respekt behandelt“. Ich sehe es vor mir, wie die Putzfrauen behutsam die Leichenteile zusammenkehren.
P.S.: Im Mai bin ich endgültig nach Berlin gezogen, wo ich bis 2013 in der Prager Straße gewohnt habe.
Queen – The Seven Seas of Rhye. http://www.youtube.com/watch?v=P1j-6vRykFs
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