Montag, 21. Juli 2014
Welkende Pracht
Über die Erzählung „Welkende Pracht“ von Andy Bonetti ist sicherlich schon vieles geschrieben worden. Sie entstammt dem Band „Bad Nauheimer Novellen“, der 2001 vom Verlag Bunter Vogel in Gütersloh veröffentlicht wurde. Dieser Novellenzyklus begründete den Ruhm Bonettis und hat ihm für alle Zeiten einen Platz in der deutschen Literaturgeschichte gesichert. Die Grundidee, von der die kurze Erzählung von der ersten bis zur letzten Zeile durchwoben ist, findet sich bereits in „Mein schönstes Ferienerlebnis“ (siehe: Bonetti, Andy: Frühe Werke – mein Leben in Geschichten, Mannheim 2012, S. 23-25).
Es ist immer wieder erstaunlich, über welche scharfe Beobachtungsgabe und intellektuelle Brillanz, über welche sprachliche und kompositorische Sicherheit der junge Bonetti bereits verfügt. Die berühmte Eröffnungsszene sei von Hitchcocks „Fenster zum Hof“ inspiriert gewesen, schreibt Bonetti in seiner Autobiographie „Viva Bad Nauheim“, aber es ist in dieser Szene auch der Einfluss Strindbergs und Puschkins spürbar. Scheinbar zufällig blickt der Protagonist, dessen Namen wir nicht erfahren, zum Fenster hinaus und entwickelt beim Anblick einer verwelkenden Rose eine gedankliche Assoziationskette, deren zarte Poesie und inhaltliche Klarheit den hellen Einsichten eines Schopenhauer oder Sokrates in nichts nachstehen. Die Vergänglichkeit des Lebens zieht sich als thematischer Generalbass durch die ganze Erzählung und findet in der leeren Pralinenschachtel am Ende ihren allegorischen Kontrapunkt.
Ursprünglich als Tierfabel angelegt, gilt „Welkende Pracht“ als Kronjuwel der „Bad Nauheimer Novellen“. Zum Zeitpunkt der Niederschrift arbeitete Bonetti an einem Kiosk im Bahnhof von Bad Nauheim, wo er Mettbrötchen und Flaschenbier an Reisende verkaufte. Nachts widmete er sich in einer kleinen Mansardenwohnung seinem dichterischen Werk. Bereits in seiner ersten Novelle „Alle Neune“, die das Leben eines einsamen Kegelspielers zum Gegenstand hat, der von Durchfall und seelischer Erschöpfung geplagt wird, begegnen wir der Vergänglichkeitsthematik, die den ganzen Novellenzyklus durchzieht. Das wird vor allem in den beiden Erzählungen „Bunte Bohnen“ und „Keller ohne Ausgang“ geradezu schmerzhaft deutlich. Damals konnte Bonetti noch nicht wissen, dass er einmal in einem Atemzug mit Goethe und Schiller genannt werden würde, und oft wurde er von Zweifeln geplagt. In seinen Tagebüchern findet sich unter dem Datum des 12. März 1998 der Eintrag: „Das hat doch alles keinen Sinn! Ich sollte Johnny Malta bitten, den ganzen Scheiß hier zu verbrennen“ (Bonetti, Andy: Tagebücher 1978-2014, Band 7, S. 548). Und am 28. August desselben Jahres schreibt er: „Wer liest denn heute noch Novellen? Die Leute gucken doch sowieso nur Fernsehen.“
Umso bemerkenswerter ist es, dass er nie den Mut verlor, sondern den Novellenzyklus dennoch zum Abschluss gebracht hat. Der große ukrainische Erzähler Nikolai Gogol, den Bonetti zeitlebens zutiefst bewundert hat, schreibt in seinen „Aufzeichnungen eines Verrückten“: „Und deshalb sind wir selber nicht in der Lage, unsere eigenen Nasen sehen zu können, da sie sich alle auf dem Monde befinden“. Ebenso konnte der junge Bonetti, als er „Welkende Pracht“ schrieb, noch nicht erkennen, dass er mit seinen „Bad Nauheimer Novellen“ die moderne Dichtkunst auf eine neue Stufe heben würde. Kommende Generationen werden es nicht für möglich halten, dass dieser geniale und zugleich äußerst bescheidene Mensch einmal unter uns in Bad Nauheim gelebt hat.
(aus: Bad Nauheimer Morgen, Feuilleton, S. 23)
Cypress Hill – Insane in the Brain. http://www.youtube.com/watch?v=Okb_8XKK0d0
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