Samstag, 12. April 2014
Drei merkwürdige Anrufe
Im Nachhinein finde ich es erstaunlich, aber nach längerem Sinnieren stelle ich fest: Es ist tatsächlich wahr. In mehr als zwanzig Jahren in Berlin habe ich nur drei merkwürdige Anrufe erhalten, obwohl ich in dieser Zeit Myriaden von Telefonaten geführt haben muss. Auf einen bin ich beim Blättern in einem alten Notizbuch aus den frühen neunziger Jahren gestoßen. Damals habe ich mir noch viele Begebenheiten handschriftlich notiert, und es finden sich auch seltsame Zeichnungen auf diesen Seiten, undefinierbares Vollrauschgekrakel mit ironischen Titeln wie „Subatomare Konfusion am Spätnachmittag“ und obskuren Künstlernamen wie „Wilhelm-Kamerad Mops von Knochen“. An meiner Handschrift kann ich erkennen, ob ich mit Muße oder in Eile, ob ich an einem Tisch oder in einem rumpelnden Zug, ob ich nüchtern oder betrunken geschrieben habe. Heute sitze ich an einem Computer und habe schon lange nicht mehr gezeichnet.
Ich erinnere mich an meine alte mechanische Schreibmaschine der Marke Triumph-Adler, auf der ich in den Achtzigern als Lokalreporter meine ersten Artikel für die „Mainzer Allgemeine Zeitung“ getippt habe und deren Lärm nachts das halbe Haus geweckt hat. Später die Wärme und die sanfte Vibration der elektrischen IBM-Schreibmaschine … - wenn man seine Hand auf ihren Metallkörper legte, hatte man das Gefühl, man streichle ein Haustier. Das Schreiben selbst hatte etwas Charmantes, etwas Eigenes, fast etwas Abenteuerliches. Flecken von Rotwein und Schokolade finden sich auf den Seiten des Notizbuchs, mal versiegt die Kraft eines Kugelschreibers mitten im Satz und mal geht es mit frisch gespitztem Bleistift weiter. Auf dem Vorblatt findet sich der alte Dante-Spruch „Beim Eintritt hier lasst alle Hoffnung fahren“. Ein heilloses Durcheinander von Geschichten, Tagebucheintragungen, Zitaten und Fakten (Harrison Schmitt war der letzte Mann auf dem Mond – hätten Sie es gewusst?). Den Buchtitel „Leere Flaschen, volle Aschenbecher“ habe ich bis heute nicht verwendet. Die Beschreibung eines Autounfalls mit Totalschaden auf der Bundesallee, als ich in meiner Eigenschaft als chronisch unterfinanzierter Student das Stadtmagazin „zitty“ in Kneipen und Kinos ausgefahren habe, endet mit den für mein weiteres Dasein prophetischen Worten „Welcome to the BVG-World“. Aber ich schweife ab.
In diesem Telefonat, von dem ich eigentlich erzählen möchte, ging es um nichts Konkretes und ich weiß auch bis heute nicht, mit wem ich überhaupt gesprochen habe. Ich nahm eines Abends den Hörer ab und wurde von einem unbekannten Herrn angebrüllt, beleidigt und bedroht. Als es mir gelang, den Redeschwall mit einer eigenen Wortmeldung zu unterbrechen, und ihn fragte, wer er überhaupt sei, schrie er mich an, ich solle nicht so tun und den Ahnungslosen spielen, er würde mich fertigmachen. Schließlich gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, dass er sich verwählt haben müsse. Ich schlug ihm vor, die Nummer jenes Mannes, auf den er so wütend sei, doch einfach noch einmal anzurufen. Wenn er mich dann wieder in der Leitung habe, könne man weiterdiskutieren. Er legte tatsächlich auf und zu meiner großen Erleichterung blieb der Apparat in den folgenden Minuten stumm.
Das zweite Telefonat war ebenso merkwürdig. Ein Polizist rief an und erklärte mir, dass man mich wegen Fahrerflucht auf der zuständigen Wache zu sprechen wünsche. Das überraschte mich, denn ich konnte mich beim besten Willen an kein strafwürdiges Fehlverhalten erinnern. Der Beamte erklärte mir, ich hätte beim Ausparken einen anderen Wagen beschädigt, sei danach ausgestiegen und hätte einen Zettel mit meinem Namen und meiner Telefonnummer hinter dem Scheibenwischer des anderen Fahrzeugs befestigt. Der Besitzer des beschädigten Fahrzeugs habe die Polizei gerufen, es stellte sich heraus, dass Name und Nummer nicht zusammen passten. Ich erklärte dem Polizisten, ich hätte gar kein Auto. Das hat wiederum ihn überrascht. Da hatte sich also ein unbekannter Fluchtfahrer bei seinem Schauspiel für die Passanten, als er eine beliebige Telefonnummer auf einen Zettel notierte, ausgerechnet meine Nummer ausgedacht. Was für ein unglaublicher Zufall, dieses „Glück“ hätte ich mir beim Lottospiel auch gerne einmal gewünscht. Den Besuch auf der Wache hat man mir freundlicherweise erspart.
Der dritte Anruf ereignete sich vor knapp zehn Jahren: Das Finanzamt rief bei mir an. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen lebendigen Menschen dieser grauenerregenden Großorganisation am Telefon. Zu meiner Überraschung handelte es sich um eine nette Frau, die ich stimmlich in den Altersbereich Dreißig bis Vierzig einsortieren würde. Sie wollte sich von mir verabschieden, meine Akte beim Finanzamt würde nun geschlossen. Das fand ich aufregend: Wir kannten uns nicht, wir waren uns nie begegnet, aber nun mussten wir voneinander Abschied nehmen. Wir unterhielten uns dann noch ein bisschen. Sie sagte – und ich fand das wirklich goldig -, es sei schade, denn ich sei ein so angenehmer, weil leicht zu bearbeitender Fall gewesen. Ich hatte immer nur eine Viertelstunde für meine Steuererklärung gebraucht, sie wahrscheinlich nicht viel länger für die Durchsicht und den Steuerbescheid. Stempel drauf und wieder mal kriegte ich keinen Cent zurück. Vielleicht bekam sie stattdessen in ihrem Bereich, der vermutlich nach Buchstaben sortiert ist, oder erst nach Steuerklassen und dann nach Buchstaben, einen neuen Fall oder Kunden, der wesentlich schwieriger war. Einen Gastwirt am Rande des Nervenzusammenbruchs zum Beispiel, der mit einem Riesenkarton voller Zettel und Rechnungen ins Büro kommt. Es tat uns eigentlich beiden ein wenig leid, uns für immer trennen zu müssen. Seitdem habe ich nie wieder etwas vom Finanzamt gehört.
P.S.: Zur musikalischen Untermalung der Lektüre empfehle ich „Ring Ring“ von Abba. http://www.youtube.com/watch?v=JIB5IlIIx3M
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