Montag, 24. März 2014
Besuch in Berlin – zweiter Tag
Ich laufe die Brunnenstraße entlang. Am Bahnhof wird gebaut, eine Schulklasse zieht an mir vorüber, womöglich zurück von einer Tour der „Berliner Unterwelten“. Die Hauptachse meines alten Kiezschreiberreviers hat sich kaum verändert: ein paar neue Läden, der Leerstand ist geringer geworden und aus dem Ladenlokal eines Kulturprojekts zur Selbstverwirklichung des akademisch gebildeten Bürgertums ist ein Pizzalieferservice geworden. An der Kreuzung der Brunnenstraße und der Bernauer Straße treffe ich eine alte Freundin aus Schöneberg, mit der ich zu einem Stadtbummel verabredet bin. Wir gehen die Bernauer Straße hinunter, deren Südseite inzwischen fast vollständig bebaut ist. Auf diversen Baustellen sehen wir geschäftiges Treiben – was für Berliner Baustellen keineswegs gewöhnlich ist.
Im Mauerpark hocken junge Menschen in Gruppen zusammen, ein paar Jogger und Radfahrer sind an diesem Donnerstag zur Mittagszeit unterwegs. Ansonsten viel Müll und wenig Schönheit, vor allem auf der abgezäunten Westseite des Parks. Das Birkenwäldchen ist erfreulicherweise inzwischen hoch gewachsen und hat sich zu einem Kleintierparadies entwickelt. Wir spazieren zurück und gehen die Kastanienallee entlang. Oderberger Straße. Ich fühle mich ins Kreuzberg der neunziger Jahre zurückversetzt, die Mütter tragen hier allerdings kein Kopftuch und man hört eher Englisch statt Türkisch. Der Rosenthaler Platz, den wir wenig später erreichen, ist ein vibrierendes Hipster-Paradies, wohltuend dagegen die Stille und Anmut der Sophienstraße. Am Hackeschen Markt ist es vor Menschen kaum auszuhalten. Wir entfliehen ins echte Kreuzberg, um in einem Hinterhof der Bergmannstraße unaussprechliche Köstlichkeiten zu verspeisen, die in einem vietnamesischen Juwel von Restaurant serviert werden.
Als Absacker-Location wählen wir die „Prager Hopfenstuben“ auf der Karl-Marx-Allee. Ich nenne das Lokal schlicht „Home of the Uncoolness“. Es hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert, das gut abgehangene Stammpublikum besteht aus gelernten DDR-Bürgern, die hier unbeschwert vor sich hin berlinern. Auch beim hundertsten Besuch fühlt man sich hier als Wessi, als Fremder – was ich ja inzwischen auch wieder bin. Das „kleine Schwarze“ ist an diesem Ort kein Dresscode, sondern ein Produkt aus Hopfen, Malz und Wasser. Nur eine Frau am Nachbartisch fällt gleich dreifach auf: Sie ist jung, allein und liest in einem Buch. In Kneipen liest man doch eigentlich nur Gesichter, oder? Wir blinzeln zufrieden in die Sonne im wolkenlosen Hellblau über den sozialistischen Prachtbauten, da sehe ich zwei leere Bierflaschen neben einer unbesetzten Parkbank funkeln. Sechzehn Cent, denkt mein altes Berliner Ich nüchtern abwägend, aber ich bin ja als Wessi hier, also werde ich mich auf dem Rückweg zur U5 nicht nach ihnen bücken. Als unser zweites Pilsener Urquell an den Tisch gebracht wird, kommen zwei winzige Rentner des Wegs. Sie hat einen Stoffbeutel dabei, er ein kleines Rollwägelchen. Sie nehmen die Flaschen mit und ziehen weiter. Wir wünschen ihnen viel Glück und hoffen, dass sie trotz ihrer Armut ein schöneres Leben führen als der ewig unzufriedene Thilo Sarrazin und seine Gattin.
Sarrazin hat einmal in seiner Zeit als Berliner Senator detailliert vorrechnen lassen, wie man als Hartz IV-Empfänger mit den vorgesehenen vier Euro nochwas am Tag drei Mahlzeiten auf den Tisch bekommt, Getränke inklusive. Und zu trinken gab es auf diesem Speiseplan, der auch in einer Tageszeitung veröffentlicht wurde, Mineralwasser und Kaffee. Eine Tasse selbst aufgebrühter Kaffee schlug damals mit fünf Cent zu Buche. Sechzehn Cent sind drei Tassen Kaffee für das alte Ehepaar. Ich glaube, das kulturelle Existenzminimum für Hartz IV-Empfänger wurde damals auf eineinhalb Kinokarten pro Jahr festgelegt, eine Achtel Kinokarte pro Monat. Ich stelle mir die Expertenrunde vor, die bei Lachshäppchen und San Pellegrino stundenlang und mit unerträglich deutscher Gründlichkeit über das Minimum kultureller Bedürfnisse arbeitsloser Menschen debattiert. Stoff für das politische Kabarett eines Dieter Hildebrandt, Wolfgang Neuss hätte ein ganzes Theaterstück daraus gemacht!
Leider kenne ich einige dieser Experten persönlich, denn in der Abteilung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), in dem ich mal gearbeitet habe, wurden unter der Leitung meines Chefs Professor Günther Schmid viele Ideen für die Hartz-Gesetze entwickelt. Schmid war Berater von Kanzler Schröder (heute Graf Koks von der Gasanstalt), mit dem Radl fuhr er immer quer durch den Tiergarten zu den Besprechungen ins Kanzleramt. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass ich zu dieser Zeit mit einem Forschungsprojekt zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben bzw. Beruf und Familie befasst war und mit der ganzen Hartz-Scheiße nie etwas zu tun hatte.
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