Donnerstag, 13. Februar 2014
Aus dunkler Zeit
Es war eine alte Idee, die schon seit Jahren in mir schlummerte: einmal im Leben in Uhlerborn aussteigen. Ich bin schon oft mit dem Zug nach Mainz gefahren, doch ich bin nie in diesem kleinen Ort zwischen Ingelheim und den Mainzer Vororten gewesen. Ich habe auch noch nie einen Menschen gesehen, der dort ein- oder ausgestiegen wäre. Aber an jenem Januarnachmittag hatte ich Zeit. Erst am Abend war ich in einem Brauhaus auf der anderen Rheinseite, in Mainz-Kastel, verabredet, also beschloss ich, in Uhlerborn den fast menschenleeren Regionalzug zu verlassen. Als ich die Metallstufen hinabstieg und auf dem Kopfsteinpflaster des Bahnsteigs stand, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Es gab noch nicht einmal ein Bahnhofsgebäude, nur ein alter verlassener Schuppen träumte in der Wintersonne lautlos vor sich hin. Ich drehte mich um und sah eine moosbewachsene Steinbrücke, die über einen Bach in den Ort zu führen schien. Nachdem ich die Brücke überquert hatte, sah ich die ersten Häuser des Dorfs. Sie waren aus rohen Bruchsteinen zusammengefügt und hatten nur ein oder zwei Stockwerke. Ich ging weiter die Straße entlang. Niemand war zu sehen. Auch in den Fenstern sah man keinen Menschen, man hörte keine Stimmen und kein Kindergeschrei. Einfach nichts. Ich ging weiter, bis ich zur Kirche des Dorfes kam. Da ich nichts zu tun hatte, stieg ich die Stufen zum Portal hinauf und drückte die Klinke nieder. Die Tür war offen und ich ging hinein. In der Kirche war es finster, die leeren Bänke wirkten unheimlich und der Altar auf der anderen Seite des ausgedehnten Raums war nicht zu erkennen. Ich ging nach links und sah eine Treppe. Neugierig ging ich die Stufen hinauf und war bald auf dem Kirchturm. Von hier aus konnte man den ganzen Ort überblicken. Vom Platz vor der Kirche gingen vier Straßen in alle Himmelsrichtungen, doch so sehr ich auch den Kopf drehte, nirgends war ein Mensch zu sehen. Der ganze Ort schien verlassen zu sein. Nach einer Weile stieg ich wieder vom Turm hinab und setzte mich für einen Augenblick auf eine der hinteren Bänke. Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte und die Kirche verließ, war es stockdunkel. Ich ging die Straßen entlang, aber nirgendwo war ein Licht zu sehen. Ich wollte zur Haltestelle des Regionalzugs zurück, aber ich wusste den Weg nicht mehr. Da sah ich in einer Lücke zwischen zwei Fachwerkhäusern ein Licht brennen. Ich ging darauf zu und bald stand ich vor einem Haus, dessen Fenster im Erdgeschoss erleuchtet waren. Vorsichtig schaute ich hinein. Es war ein Gasthaus. Hinter der Theke stand ein breitschultriger Mann mit rotem Vollbart und zapfte Bier in bauchige Gläser. An den Tischen saßen Männer beisammen, die Bier tranken und Bratenfleisch von dampfenden Tellern aßen. Zwei Männer nah beim Fenster unterhielten sich und plötzlich lachte der eine. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und da erkannte ich ihn. Ich erkannte das Lachen, die Körperhaltung, das Haar, ja selbst sein Hemd kannte ich gut. Aber sein Gesicht war völlig verändert. Hatte er es operieren lassen? Ich war mir sicher, ihn schon in meiner Schulzeit gekannt zu haben. Da drehte er den Kopf zum Fenster und sah mich an. Schnell zog ich den Kopf zurück und drehte mich um. Ich sah die Brücke und ging zurück zum Bahnsteig. Bald darauf kam ein Zug, doch er hielt nicht an. Auch der nächste Zug fuhr vorüber. Wehe mir, dachte ich. Einmal in Uhlerborn ausgestiegen und du findest den Weg nicht mehr zurück in deine Welt.
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