Mittwoch, 2. September 2009
Exemplarische Analyse des Spätkapitalismus
Das Produkt "Fruit-Bonbons. McCandy" der Firma Genucchi aus Brüssel erscheint dem flüchtigen Beobachter zunächst als ein weiteres unscheinbares Erzeugnis der Lebensmittelindustrie: Es handelt sich hierbei um eine kleine zweiteilige Blechdose mit einem Durchmesser von 7,5 cm und einer Höhe von 2,5 cm, die durch einen mechanischen, an der Außenwand der Dose angebrachten Messingverschluss zu öffnen ist. Die Oberseite wird von einem Bild der amerikanischen Comic-Familie Duck vollständig eingenommen, während die untere Seite das übliche Kleingedruckte wie unerwünschte Nebenwirkungen und durchschnittliche Strahlungswerte enthält. Der Inhalt besteht aus winzigen bunten Zuckerbonbons mit Fruchtgeschmack.
Besagter Gegenstand lässt sich, vor dem Blick adoleszenter und erwachsener Käufer gut verborgen, auf den untersten Regalen belgischer Supermärkte finden, wo sie – zumeist in unmittelbarer Kassennähe – eine ständige Gefahr für einkaufende Mütter mit Kindern im Alter zwischen drei und sieben Jahren bilden. Die unauffällige Verpackung sowie die Produktgröße ermöglichen es jedem Kleinkind mit ein wenig kriminellem Geschick, eine solche Dose in den, kurz vor der Kasse natürlich randvollen, Wagen zu schmuggeln. Der geringe Preis und die übliche Hektik an der Kasse bescheren dem kreativen Nachwuchs nach vorläufigen Untersuchungen eine Erfolgsquote von immerhin 98,8 Prozent.
Neben diesen psychologischen Hinterlistigkeiten des real existierenden Kapitalismus soll es uns hier aber besonders um das Verhältnis von Marketing und Sozialisation gehen, oder um es in einer Frage zu formulieren: Inwieweit nehmen Produkte der Lebensmittelindustrie, die entsprechenden internationalen Konzerne und ihre politischen Interessenvertreter Einfluss auf die soziale Prägung und die psychische Formung der nachfolgenden Generationen? Betrachten wir zunächst einmal den äußeren Eindruck, den jenes Produkt beim infantilen Konsumenten weckt. Die eindeutig auf die kindlichen Käuferschichten zugeschnittene Zeichnung zeigt Donald Duck nebst Daisy, Tick, Trick und Track und Oma Duck gemeinsam in einem knallroten Cabriolet unbekannter Herkunft, das eindeutig menschliche Züge aufweist. Es soll hier der Eindruck ungetrübter Fahr-, also letztlich Konsumfreude vermittelt werden, an dem einträchtig Personen aller Altersgruppen und Sozialschichten teilnehmen – quasi ein Drei-Generationen-Auto. Auf der Unterseite fällt die Aufschrift "Fruit-Bonbons" ins Auge, erst etwas kleiner darunter der eigentliche Produktname "McCandy". Auch hier werden unschuldige Erstkonsumenten behutsam und unterbewußt auf bestimmte Begriffe konditioniert, welche die Lebensmittelindustrie in späteren Verkaufsschlachten durch die sogenannte "Passwort-Technik" mühelos reaktivieren kann. Hilflos und zumeist unwissend müssen die Eltern jener armen Geschöpfe mit ansehen, wie sie die Assoziation von süßem Fruchtgeschmack zum Produktnamen täglich mehr verfestigt und damit ein weiterer kapitalistischer Reiz-Reaktions-Mechanismus installiert wird. Ferner suggerieren die stabile Verpackung und die unschuldige Aufmachung einen gewissen materiellen Wert, der das Produkt für den unbedarften Novizen des Ausbeutersystems aus der Menge der Wegwerfprodukte heraus ragen lässt. Vor allem der angesprochene Kundenkreis wird eine solche Dose eifersüchtig hüten und so der Infiltration auf unbestimmte Zeit ausgesetzt bleiben. Die Größe der Dose entspricht außerdem genau jenen Erwartungen, die Kinder, nach einer Untersuchung von Hopperflap/Proctor (Harvard Press 2008), im Durchschnitt an ein Schatzkästlein haben. Auch nach Verbrauch des Inhalts, nachdem also die Zuckersucht des abhängigen Kunden finanziell befriedigend abgemolken ist, und mit Beginn der Nutzlosigkeit der Verpackung verbleibt die Dose im Besitz des Verbrauchers und bildet, allein aufgrund der Tatsache, daß es einen vollständig umschlossenen und nicht einsehbaren Innenraum besitzt, für diesen eine nicht unbeträchtliche Geheimnishaftigkeit.
Der Begriff "Schatzkästlein" sei mir Stichwort und Überleitung zugleich: Kommen wir nun zum Verschluss. Die Dose ist nur durch kräftiges und mehrmaliges Drehen eines Messinggriffs zu öffnen, ein Vorgang, den gewiß nur geduldige Erwachsene ausführen können und den kein noch so begabtes Kind nachzuvollziehen in der Lage sein wird. Hier liegt nun das eigentliche Problem. Das Kind, trotzdem es nach erfolgreichem "Einkauf" und der nachfolgenden Resignation der Eltern juristisch Eigentümer der Dose und somit auch der darin enthaltenen Bonbons ist, kann aus eigener Kraft nicht an den Inhalt gelangen. Es muss sich ständig um die Hilfe älterer oder doch zumindest weiter entwickelter Individuen bemühen, es wird in seinen Konsumgelüsten also zunächst stimuliert und dann frustriert. Auf diese Weise gelingt es dem Otterngezücht der herrschenden Klasse nicht nur, die Gier nach den Zuckerperlen zu steigern, sondern auch geradezu spielerisch, den imperialistischen Kardinalmechanismus von Arbeit und Kapital, also von Frustration und Stimulanz, zu konditionieren.
Hier enthüllt sich nun aber der ganze schändliche Charakter der amorphen Kräfte, die im Hintergrund der Industrie die Fäden zivilisatorischer Entwicklung, vulgo kapitalistischer Akzeleration durch kognitive Retardierung – schnaub! – zu ziehen die Impertinenz besitzen. Die sozialen Auswirkungen lassen sich zum Zeitpunkt dieser Untersuchung auch nicht annähernd überschauen. Wird eine Generation von bonbon-, fress- und konsumsüchtiger Oralzombies die ahnungslose Gesellschaft überrollen, nur ihrem Zwingherrn Genucchi hörig, unter seiner Zuchtknute des Zuckermonopols sich windend, oder entreissen die völlig entfesselten Käufermassen belgischer Fruchtbonbons der politischen Klasse die Macht, um den totalen Versorgungsstaat zu gründen? Eine Frage, die wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen