Montag, 4. Mai 2009
Die Flucht
Ich mußte verschwinden, soviel war klar. Und so verließ ich den Norden und ging nach Süden.
Im ICE fiel ich niemandem auf. Die Menschen lasen Zeitung, aßen mitgebrachte Brote oder schliefen. Die Welt war in diesem Zug so beruhigend normal. Kinder lachten, Greise dösten am Fenster. Bald erreichten wir Grams, aber Grams war nicht weit genug. Ich fuhr weiter bis Kargstadt. War das weit genug? Die Bahnhöfe sehen alle gleich aus. Im Nebel erkannte ich den langgestreckten Bahnhofsbau. Vielleicht sollte ich in eine größere Stadt fahren. Allerdings würde man mich in größeren Städten sicher eher vermuten als in einer kleinen Stadt in der Provinz. Der Zug fuhr an und bald darauf hielt er in Böswillingen. Ich beschloß, wenigstens den Zug zu wechseln, um meine Spur zu verwischen.
Ein alter schmutziger Regionalzug bremste mit ohrenzerfetzendem Qietschen. Ich stieg ein, ohne auch nur die Himmelsrichtung seiner Fahrt zu kennen. Wenige Menschen mit Plastiktüten, resigniertes Schweigen. Braun und grau schwebte die Landschaft vorüber. Vorbei an verwitterten Strommasten, kleinen fensterlosen Backsteinhäuschen, schwarzbraunem Gestrüpp, aufgegebenen Gleisanlagen, bleigrauen Tümpeln. Dann ein Wald, schwarzes laubloses Geäst, der Boden zäher brauner Schleim, Andeutung von Wegen, die sich im Gewirr der verzweigten Linien verlieren. Am Horizont Wipfel und Himmel übergangslos im sonnenlosen Dunst. Das Bild brach auf, etwas brach hervor, ein Handrücken, schwarz behaart. Vorbei an grauen Holzschuppen, leeren Häusern mit hohlen Augen, aufgestapelten Kisten, fein geäderten Büschen, braungelben Feldern, dunklen Bäumen.
Viele Dörfer, schließlich eine Stadt. Ich stieg aus; es war mehr der Hunger, der mich hinaus trieb. Gegenüber dem Bahnhof fand ich eine kleine Gaststätte, in der mich Personal und Gäste mißtrauisch betrachteten. Ein einzelner Fremder bedeutete nie etwas Gutes. Gebratene Würste und Kartoffeln, das Bier fast geschmacklos. Als ich die Rechnung bezahlte, fragte ich nach einem Gästezimmer. Ich wurde an eine Pension auf dem Marktplatz verwiesen. Der Weg dorthin war auf gemeine Weise banal, die Fassaden waren so langweilig, daß ich mich zu fürchten begann. Wer dieses Leben aushielt, mußte zu allem fähig sein.
Wenig später lag ich auf einem Bett, dessen Matratze sich wie eine Hängematte bog. Ein Blick durch das Fenster, nichts zu sehen. Ich fing an nachzudenken. Vielleicht bin ich gar nicht auf der Flucht. Vielleicht bin ich nur einem Ruf gefolgt. Wer mich gerufen hat, weiß ich nicht. Wer mich jagt, weiß ich nicht. Keine Gesichter, keine Namen. Es hatte keinen Sinn, diese Gedanken weiter zu verfolgen. Ich mußte mir etwas zu trinken besorgen. Also verließ ich das Zimmer wieder und suchte einen Supermarkt. Ich fand ihn und fand Wein. Der Pensionswirt verbarg seine Abscheu nicht, als ich mit einer Tüte zurück kehrte, aus der das leise Klirren der Flaschen drang. Seinen Blick ertrug ich leicht, die unsichtbaren Blicke nicht. Wo suchten sie mich? Stunden später war es mir egal. In diesem Augenblick wäre es mir auch egal gewesen, wenn sie mich gefunden hätten.
Am nächsten Morgen verließ ich die Stadt wieder. Ich folgte auf meinen Weg den Gleisen. Hier fühlte ich mich sicher, obwohl es keinen Grund dafür gab. Ich bin heimatlos, mit leichtem Gepäck. Soll ich zurück kehren? Soll ich mich wehren? Soll ich angreifen? Weiß ich, wen ich angreifen soll? Weiß ich, wo ich angreifen soll? Weiß ich überhaupt, wohin ich zurück kehren soll?
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