Montag, 20. April 2009
Brunnenkiez-Krimi Nr. 4
Im Grunde sind die Menschen ja nicht anders abgerichtet als Hunde, dachte Mardo. Im Hund spiegelt sich der Mensch. Angeleinte Menschen, angeleinte Tiere. Und wenn er etwas tut, will er einen Lohn dafür. Wenn er ins Wahllokal geht, erwartet er Wahlgeschenke. Und wenn er sein Leben ohne Mord und Totschlag hinbringt, sollen ihm die zahlreich zur Auswahl stehenden Religionsgemeinschaften gefälligst das ewige Leben im Paradies bereithalten (selbstverständlich wie im Prospekt beschrieben). Immer will der Mensch ein Stück Wurst als Belohnung. Alles muss einen Preis haben. Und wenn es ein versilberter Blechpokal ist, mit dem der Sieger der alljährlich im Brunnenviertel stattfindenden Schnitzeljagd ausgezeichnet wird. Es reicht, um das Spiel, um die Jagd beginnen zu lassen.
Der Pokal, um den es gehen sollte, stand im Verkaufsraum von "Wahnke" in der Torstraße. Hier gab es Medaillen, Trophäen und Pokale ab achtzig Cent aufwärts. Aber Lutz Konopke war in Eile und er hatte er eine Menge zu verlieren. Trotz des Türklingelns, das er beim Betreten des Geschäfts ausgelöst hatte, war er allein. Er nahm den kleinen Schlüssel mit der Nummer 41 aus seiner Manteltasche, steckte ihn in einen mittelgroßen Pokal mit Klappdeckel und hatte den Laden bereits wieder verlassen, als der alte Wahnke endlich aus den Katakomben seines Pokal-Discounts hervor gekrochen war. Harkan war hinter ihm her. Und er war hinter dem Schlüssel her. Und hinter dem Paket. Und den Sachen in dem Paket. Es hörte nicht auf.
Mardo schaute aus dem Küchenfenster. Auf dem alten Bahndamm, hinter dem früher die Berliner Mauer gestanden hatte, schob ein Bagger alte Bretterbuden zusammen. Auch eine alte Lagerhalle war bereits abgerissen worden. Es hieß, dass hier eine Reihe Wohnhäuser entstehen sollte. Hoffentlich würden sie ihm und seinem Orangenbaum nicht das Licht nehmen. Im Mauerpark schnüffelten ein Labrador und ein Schäferhund gegenseitig an ihren Hinterteilen herum.
Mary kam in die Küche. "Ich habe uns zur Kiezrallye angemeldet."
"Was für eine Kiezrallye?" brummte Mardo.
"Na, wie jedes Jahr. Wir fahren mit Rädern mit."
"Kein Zeit. Und wie du weißt, habe ich gar kein Fahrrad." Mardo war von Natur aus erzfaul, eigentlich hätte er sich seine Antriebslosigkeit als Behinderung in den Personalausweis eintragen lassen müssen.
"Haste einen neuen Kunden? Davon weiß ich ja gar nichts." Mary setzte sich mit einem aufmunternden Lächeln an den Küchentisch. Mardos Geschäfte liefen nicht gut. Es war eben Weltwirtschaftskrise. Endlich hatten alle eine gute Ausrede, die pleite waren.
"Ja. Dieter Bohlen."
"Aha. Sollst du einen Superstar für ihn finden?"
"Nein, eine seriös klingende Stimme."
"Es geht heute nachmittag um drei Uhr los. Du kannst Antonias Rad nehmen."
"Was gibt’s denn zu gewinnen?"
"Den Siegern winkt ewiger Ruhm. Und die Startgelder werden für das Frühlingsfest gebraucht."
"Das kostet uns auch noch Geld?!" Mardo war entrüstet.
"Schnauze, Schätzchen! Wir sehen uns um drei Uhr am AEG-Tor. Und vergiss nicht, das Rad abzuholen, sonst kannst du neben mir her rennen."
"Muss ich denn wirklich mit?"
"Du weißt doch, dass nur Teams mitmachen können. Also lass mich nicht hängen."
Natürlich war Mardo gekommen. Er stand mit Mary in einer Gruppe von vielleicht zwanzig Leuten, die zu Fuß, auf Rädern, Motorrollern und mit Autos an der Kiezrallye teilnehmen wollten. Für zehn Euro pro Team bekamen sie eine Startkarte, auf der bereits der erste Stempel zu sehen war. Eine Frau, die wie eine Rocksängerin aussah und von sich behauptete, eine "Quartiersmanagerin" zu sein, erklärte die Spielregeln. Es gab sechs Rätsel, die zur Lösung der Schnitzeljagd führen sollten. In ihrer Hand hielt sie die Zettel mit der ersten Aufgabe. Mardo fragte sich, was Quartiersmanager wohl machten. Es klang nach einer Zimmervermittlung für Touristen. Aber er war hier, um mit seinem detektivischen Verstand eine Aufgabe zu lösen. Einige Teilnehmer kannte er, so zum Beispiel Nuray, eine Jungtürkin mit blondiertem Haar, und Sarah, ihre deutsche Freundin mit den pechschwarzen Locken. Sie nahmen auf ihren Roller-Blades am Rennen teil. Aber da gab es auch ein Pärchen, das Mardo noch nie gesehen hatte: Ein junger Mann, schwarzes gegeltes Kurzhaar, spielte nervös mit seinem Autoschlüssel herum, während seine Begleiterin an den Fingernägeln kaute.
"Die Stars der Graunstraße live erleben. Ist es nicht himmlisch, noch nicht zur Schule gehen zu müssen? Die ersten beiden Buchstaben." Was sollte dieser Schwachsinn? Harkan war wütend, aber er durfte nichts riskieren. Hier waren zuviele Menschen und er konnte sich nicht sicher sein, ob der Schlüssel überhaupt noch im Pokal war. Er hatte Lutz erwischt und er hatte mit ihm einen kleinen Spaziergang in den Humboldthain gemacht. Dort hatte Lutz ihm schließlich alles verraten. Und nun musste er sich mit diesen Dorftrotteln an einer Schnitzeljagd durch diesen Kiez beteiligen. Aber es ging um viel Geld. Neben ihm saß Cindy, die gerade ihren Kaugummi in die Länge zog und um einen hochkomplex manikürten Zeigefinger wickelte. Die Meute der Rallyeteilnehmer bewegte sich in Richtung Osten, Harkan fummelte an einem zerfledderten Falk-Plan herum.
"Graunstraße ... mal sehen."
"Ick denke, wir fahren ersma dem janzen Pulk hintahea." Cindy kam eigentlich aus dem Spreewald. Der Osten stirbt, die Städte gehen langsam zugrunde und zuerst erwischt es die Dörfer. Irgendwann knattert niemand mehr am Samstagabend mit seinem Moped um die Dorflinde. Die Jungen suchen sich eine neue Heimat, die Alten folgen ihren Hausärzten irgendwann in die Kreisstadt. Und so war Cindy nach Berlin gekommen, so wie viele andere Cindys und Silvios.
In den Kellereingängen tanzte noch das Laub des vergangenen Jahres, während an den Bäumen schon in die ersten Knospen blühten. Der Frühling kam reichlich spät in diesem Jahr. Stimmten denn die Vorhersagen zur Erderwärmung und Klimakatastrophe nicht mehr? Andererseits waren die Zusammenhänge zwischen menschlicher Blödheit und Hautkrebs kriminologisch eindeutig erklärbar. Es gab einen Täter, ein Motiv, ein Tatwerkzeug und kein Alibi. Schuldig ist der Mensch, als Motiv haben wir Habsucht und Herrschsucht, als Tatwerkzeug all die Autos, Flugzeuge und furzenden Kühe – und während der letzten eine Million Jahre war der Täter ja wohl durchgehend am Tatort Erde.
Mardo strampelte Mary hinterher und fragte sich, wie schmerzhaft die ganze Angelegenheit für seinen couchverwöhnten Hintern wohl sein würde.
"Da vorne!" rief Mary über die Schulter.
Mardo begriff nichts. Mary stieg vom Rad und verschwand in einem Durchgang. Mardo folgte ihr und sah, wie sie sich einen Stempel und einen Zettel mit einem neuen Rätsel geben ließ. Natürlich! Die Kita in seiner Straße. "Sternenhimmel" war das Lösungswort. Die Buchstaben S und T trugen sie auf ihre Karte ein.
"Viele Busse und ein großes Bild. Sag laut was du siehst und nimm den zweiten Buchstaben."
Mardo und Mary sahen sich einen Augenblick lang an. Fast hätte Mardo laut gerufen, so schmerzhaft traf ihn der Geistesblitz. Aber es waren inzwischen einige andere Teams an der Kita angekommen. Also radelten die beiden erst einmal zurück zur Brunnenstraße.
"Wohin willst du?" fragte Mary.
"Zum Busdepot der BVG. Ist gleich da vorne. Keine Ahnung, wie die Straße heißt."
Kurze Zeit später standen sie keuchend in der Usedomer Straße und starrten auf das Wandbild, das auf der Brandmauer des Gebäudes an der Wattstraße zu sehen war.
"Ein Baum."
"Ein A."
Wieder einer dieser ominösen Quartiersmanager, wieder ein Stempel. Hinter ihnen knatterte ein altes Mofa und gerade bogen die beiden Mädels auf ihren Roller-Blades um die Ecke. Langsam wurde es Mardo warm.
Harkan war sauer. So konnten sie einfach nicht gewinnen. Er hatte sich sogar anstellen müssen, um diesen bescheuerten Stempelabdruck auf seine Teilnahmekarte zu bekommen. Vielleicht sollten sie sich darauf konzentrieren, den Gewinnern den Pokal zu stellen. Aber was, wenn bei der Preisverleihung der Deckel geöffnet wurde? Der Schlüssel war unglaublich wichtig. Es war der Schlüssel zu einem Spind in der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße. Er konnte nicht alle Spinde aufbrechen, er musste an den Schlüssel kommen. Zwar gab es in diesen Bibliotheken kein Zeitlimit, aber er brauchte das Geld aus dem Überfall dringend, um eine Lieferung aus Polen bezahlen zu können.
Cindy hatte es vermasselt, soviel war klar. Sie hätte Lutz nicht mit dem Geld alleine lassen sollen. Natürlich war der Typ verschwunden und hatte sein Handy ausgeschaltet. Er blickte zu ihr hinüber. Sie hatte hellblonde Ponyfransen, einen ausrasierten Nacken und ein Augenbrauenpiercing. Ihre Zähne waren so klein und gelb wie Maiskörner. Er fragte sich schon seit einiger Zeit, warum er überhaupt mit diesem märkischen Bauerntrampel zusammen war.
"Am Mauerpark, da lernt man frei. Mit Buchstabe 1 bist du dabei." Mary und Mardo radelten zur Bernauer Straße und bogen nach Norden ab. Die "Freie Schule am Mauerpark" in der Wolliner Straße lieferte einen weiteren Buchstaben. Eine Freundin von Mary arbeitete hier. Aus einem offenen Fenster drang des helle Lachen von Kindern. Es soll Orte in Berlin geben, da gilt Kinderlachen als Lärm und wird juristisch verfolgt.
Das nächste Rätsel war schon schwieriger: "Sieh die grüne Schrift, den Sinn verstehst du nicht. Letzter Buchstabe." Als man ihnen den Stempel und die neue Rätselkarte gegeben hatte, sollte sie es in der Max-Urich-Straße versuchen. Dort sollte eine Brachfläche und ein Graffito geben. Aber wo war eigentlich diese Max-Urich-Straße? Dazu gaben Leute von der Mitwohnzentrale keine Auskunft.
Mary schlug vor, den Stadtplan an der Bushaltestelle zu konsultieren. Da hielt plötzlich ein schwarzer Golf GTI vor ihnen.
"Ist das hier eine Schule?" fragte die blonde Beifahrerin aus dem Fenster.
"Ist das ein Statdplan?" Mardo deutete auf den Plan, den sie auf ihrem Schoß ausgebreitet hatte.
Mary erklärte dem ausgestiegenen Fahrer den Weg zur Stempelfee, die im Gebäude auf die Rallyeteilnehmer wartete, Mardo blickte kurz auf die Karte. Dann ging es weiter. Schon wieder musste er auf die andere Seite des Viertels strampeln. Lange durfte die Jagd nicht mehr dauern, schon jetzt schmerzten einige, bisher völlig unbekannt gebliebene Körperteile ganz unangenehm.
R war der letzte Buchstabe des inhaltlich nicht zu interpretierenden Grafitto an der Brandmauer. Auf der Brachfläche Ecke Ackerstraße stand noch ein alter Imbisswagen, daneben lag eine Döner-Fabrik.
Das Brunnenviertel ist nicht schön, dachte Mardo, als Mary sich den Stempel geben ließ und die neue Aufgabe bekam. Aber an Orten wie diesem ist Berlin wenigstens ehrlich. In ihren Kiezen ist die Stadt ganz bei sich, hier kann sie sich geben, wie sie nun einmal ist: alltäglich, banal, irgendwie gerade beschäftigt, manchmal schlecht gelaunt, manchmal mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Dort, wo Berlin schön ist, wirkte es auf Mardo verlogen. Er mochte den Pariser Platz mit dem B-Tor nicht, auch nicht den Gendarmenmarkt oder all diese neuen Bauten, die irgend etwas repräsentieren sollen. Was repräsentieren eigentlich Gebäude wie der Hauptbahnhof oder die zahllosen Shopping Malls, die den Eindruck erwecken, als seien sie aus großer Höhe wahllos über der Stadt abgeworfen worden? Berlin sicher nicht.
Berlin wird durch Kieze wie das Brunnenviertel repräsentiert, hier finden alle großen Themen unserer Zeit ihren Ort: soziale Spaltung und Integration, Teilung und Einheit, Aufbau und Zerstörung, Vergangenheit und Zukunft. Dieses Berlin hat eine Geschichte zu erzählen, und es hat ein Gesicht, das nur eine Mutter lieben kann. Das Schöne, das Perfekte ist oft auch sehr langweilig. Es hat nichts außer seiner glänzenden Oberfläche. Die deutsche Hauptstadt aus dem Reiseführer, dieser Tunnel aus hübschen Bildern, durch den die Touristen geführt werden, überließ Mardo gerne den Anderen.
Der letzte Buchstabe führte sie zur Moschee in der Jasmunder Straße: "Such den Ort des Propheten, für den vierten Buchstaben sollst du beten."
Mary hatte einfach eine arabische Kollegin vom Gesundbrunnencenter angerufen. "Ashabi Kehf" hieß die Moschee und damit hatten sie das Lösungswort: STAFRA.
"Was soll denn das heißen?" fragte Mardo.
"Wir müssen einen Fehler gemacht haben", vermutete Mary.
"Und wo sind eigentlich all die anderen Teilnehmer?"
"Ich glaube, wir haben den Anschluss verloren. Lass uns zu diesem Quartiersmanagement fahren. Vielleicht stehen die Sieger ja schon fest," Mary schwang sich wieder auf’s Rad.
Als sie die Ramlerstraße entlangfuhren, hatte Mardo seinen zweiten Geistesblitz.
"Mary. Warte!"
Sie hielt an und blickte sich zu ihm um.
"Es ist St. Afra. Die Kirche bei uns in der Straße."
Mary stutzte einen Augenblick, dann lächelte sie. "Na klar! Los, wir fahren hin."
Sie merkten nicht, dass ihnen ein schwarzen Golf folgte.
Vor der Kirche stand die Quartiersmanagerin, die wie eine Rocksängerin aussah. Sonst niemand.
"Sind wir die Ersten?" keuchte Mardo aufgeregt.
"Ja. Aber zum Sieg fehlt euch noch eine letzte Antwort. Diesmal ist es eine Zahl."
Jetzt kamen auch Harkan und Cindy.
"Kein Problem", rief Harkan. "Sag uns die Aufgabe und dann holen wir uns den Pokal."
Die Quartiersmanagerin erhob feierlich die Stimme. "Wieviele Meerschweinchen gibt es im Streichelzoo?"
"Was?!" schrie Harkan. "Bin ich hier im Irrenhaus gelandet? Wo ist denn der Streichelzoo in diesem Höllenkiez?"
"Das ist unfair", plärrte Cindy. "Wir wollen den Pokal."
Mardo trat ruhig dazwischen. "Keine Sorge, Leute. Der Streichelzoo ist hier gleich um die Ecke. Durch den Gleimtunnel durch und dann links die Treppe hoch. Dauert keine fünf Minuten."
Harkan war verblüfft. Spielte dieser Trottel hier den Sportsmann oder war er einfach nur blöd? Er würde mit dem Auto viel schneller dort sein und wieder zurück, um den Pokal und den Schlüssel zu sichern. Er schubste Cindy an und sprang in sein Auto. Mit quietschenden Reifen rasten sie davon.
Mardo blickte ihnen nach und sah dann Mary an. "Willst du es sagen?"
"Nein, sag du’s ihr."
Mary und Mardo gingen gerne in den Streichelzoo auf dem alten Bahndamm. Der Anblick der Tiere hatte etwas Beruhigendes, Entspannendes. So als ob man in ein Lagerfeuer oder aufs Meer schaut. Natürlich macht so ein Kaninchen oder ein Pony nichts Besonderes, aber das machen die Wellen am Strand ja eigentlich auch nicht.
Mardo schaute die Frau mit dem Pokal an: "Sieben."
"Richtig."
Der Rest ist schnell erzählt. Mary, die seit Jahren studiert, erkennt den Schlüssel. Schließlich leiht sie in der Stabi oft Bücher aus. Sie finden eine Sporttasche mit viel Bargeld, Harkan und Cindy betreten kurze Zeit später die Bibliothek. Mardo ruft Kommissar Leber an und wartet mit der Tasche gemächlich an der Buchrückgabe, bis dieser mit seinem Assistenten eintrifft.
Harkan und Cindy haben sich getrennt. Er lebt inzwischen in Plötzensee, sie in Moabit.
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