Montag, 27. April 2009

Die Führung


"Wir kommen jetzt in den geschlossenen Teil der Anstalt. Sehen Sie, alles ist in hellen freundlichen Farben gehalten. Die Fenster sind nicht vergittert, aber natürlich aus Panzerglas, um eine Flucht verhindern zu können. Gitterstäbe haben einen negativen Einfluß auf unsere Gäste. Wir nennen sie ‚Gäste‘, nicht Patienten. Jeder, der sich in unsere Obhut begibt, soll das Gefühl haben, respektiert und geachtet zu werden. Der Aufenthalt in diesem Hause dient einzig und allein dem Wohlbefinden unserer Gäste. Daher können sie beispielsweise beim gemeinsamen Mittagessen auch von einer Speisekarte wählen oder individuelle Kleidung tragen, solange ihr Zustand solche Maßnahmen zuläßt. Zufriedene Gäste sind pflegeleichte Gäste, unzufriedene Gäste machen viel Arbeit. Das ist unsere Philosophie. Zu Ihrer Linken sehen Sie nun die Zellentüren. Die Zellen sind sehr geräumig und voll möbliert. Allerdings haben Tische und Stühle keine Kanten, damit niemand verletzt werden kann. Tisch, Bett und Schrank sind fixiert, der Stuhl sitzt in einer Schiene, so dass er nur vor und zurück bewegt werden kann. Wie im Bundestag, im Reichstag – Sie verstehen? In Zelle 7 haben wir jemanden sitzen, der sich für einen Bankdirektor hält. Er will die ganze Zeit Aufträge für den Kauf und Verkauf von Unternehmensanteilen geben und verlangt Mitarbeiter, Telefone und so weiter. Kommen Sie nur weiter. Hier haben wir einen angeblichen Fraktionsvorsitzenden, Zelle 23. Ihm geht es um einen Krieg in einem Land, das völlig unbekannt ist. Aber er will die UNO kontaktiert wissen. Sehen Sie den gegenüberliegenden Block? Dort sitzen die Menschen, die sich für Experten halten, davon haben wir jede Menge. Und hier, in Zelle 88, eine gewisse Frau Merkel, die hält sich für die Bundeskanzlerin. Wahnsinn, oder? Manchmal frage ich mich: Wie wäre es eigentlich, wenn ich der Irre wäre und alle Insassen Recht hätten? Das wäre komisch, oder?"

Über das Grillen


Das Grillen gehört zu den wesentlichsten und ursprünglichsten Äußerungen des menschlichen Lebens, des menschlichen Wesens. Jedesmal, wenn wir das Grillfeuer entzünden und unser Freund, der Kohlensack, neben uns wacht, huldigen wir der Zähmung des Feuers. Feuer hat es natürlich schon immer gegeben, etwa wenn der Blitz einschlug oder irgendwelche Neanderthaler im Hochsommer achtlos eine Zigarettenkippe in den knistertrockenen Wald geworfen haben. Aber das beherrschte Feuer eröffnete dem Homo Sapiens endlich die Möglichkeit, Fleisch zu grillen, anstatt es roh oder gar teilweise verfault, jedenfalls in sehr unhygienischem Zustand, zu essen. Und Fleisch bedeutet Energie, Energie für das versorgungsintensivste Organ des Menschen: das Gehirn. Es verbrauchte in manchen Zeiten der Entwicklungsgeschichte etwa ein Drittel der Energie eines Menschen, 100 Milliarden Gehirnzellen im permanenten Funkverkehr mussten versorgt werden. Mit gegrilltem Fleisch ließ sich die Energiezufuhr erhöhen und die Leistung des Gehirns steigerte sich unaufhörlich. Wo wäre die menschliche Zivilisation ohne das Grillen? Genau darum gehört das gemeinsame Grillen auch heute noch zu den Grundmustern menschlichen Verhaltens und zu den Kernbeständen unserer Kultur. Es waren ausschließlich die tapfersten und ernsthaftesten Männer ihrer Generation, die das Grillfeuer über die Jahrtausende gehütet haben und es bis heute bewahren. Im Berliner Tiergarten dürfen wir sie beobachten.

Montag, 20. April 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 4


Im Grunde sind die Menschen ja nicht anders abgerichtet als Hunde, dachte Mardo. Im Hund spiegelt sich der Mensch. Angeleinte Menschen, angeleinte Tiere. Und wenn er etwas tut, will er einen Lohn dafür. Wenn er ins Wahllokal geht, erwartet er Wahlgeschenke. Und wenn er sein Leben ohne Mord und Totschlag hinbringt, sollen ihm die zahlreich zur Auswahl stehenden Religionsgemeinschaften gefälligst das ewige Leben im Paradies bereithalten (selbstverständlich wie im Prospekt beschrieben). Immer will der Mensch ein Stück Wurst als Belohnung. Alles muss einen Preis haben. Und wenn es ein versilberter Blechpokal ist, mit dem der Sieger der alljährlich im Brunnenviertel stattfindenden Schnitzeljagd ausgezeichnet wird. Es reicht, um das Spiel, um die Jagd beginnen zu lassen.

Der Pokal, um den es gehen sollte, stand im Verkaufsraum von "Wahnke" in der Torstraße. Hier gab es Medaillen, Trophäen und Pokale ab achtzig Cent aufwärts. Aber Lutz Konopke war in Eile und er hatte er eine Menge zu verlieren. Trotz des Türklingelns, das er beim Betreten des Geschäfts ausgelöst hatte, war er allein. Er nahm den kleinen Schlüssel mit der Nummer 41 aus seiner Manteltasche, steckte ihn in einen mittelgroßen Pokal mit Klappdeckel und hatte den Laden bereits wieder verlassen, als der alte Wahnke endlich aus den Katakomben seines Pokal-Discounts hervor gekrochen war. Harkan war hinter ihm her. Und er war hinter dem Schlüssel her. Und hinter dem Paket. Und den Sachen in dem Paket. Es hörte nicht auf.

Mardo schaute aus dem Küchenfenster. Auf dem alten Bahndamm, hinter dem früher die Berliner Mauer gestanden hatte, schob ein Bagger alte Bretterbuden zusammen. Auch eine alte Lagerhalle war bereits abgerissen worden. Es hieß, dass hier eine Reihe Wohnhäuser entstehen sollte. Hoffentlich würden sie ihm und seinem Orangenbaum nicht das Licht nehmen. Im Mauerpark schnüffelten ein Labrador und ein Schäferhund gegenseitig an ihren Hinterteilen herum.
Mary kam in die Küche. "Ich habe uns zur Kiezrallye angemeldet."
"Was für eine Kiezrallye?" brummte Mardo.
"Na, wie jedes Jahr. Wir fahren mit Rädern mit."
"Kein Zeit. Und wie du weißt, habe ich gar kein Fahrrad." Mardo war von Natur aus erzfaul, eigentlich hätte er sich seine Antriebslosigkeit als Behinderung in den Personalausweis eintragen lassen müssen.
"Haste einen neuen Kunden? Davon weiß ich ja gar nichts." Mary setzte sich mit einem aufmunternden Lächeln an den Küchentisch. Mardos Geschäfte liefen nicht gut. Es war eben Weltwirtschaftskrise. Endlich hatten alle eine gute Ausrede, die pleite waren.
"Ja. Dieter Bohlen."
"Aha. Sollst du einen Superstar für ihn finden?"
"Nein, eine seriös klingende Stimme."
"Es geht heute nachmittag um drei Uhr los. Du kannst Antonias Rad nehmen."
"Was gibt’s denn zu gewinnen?"
"Den Siegern winkt ewiger Ruhm. Und die Startgelder werden für das Frühlingsfest gebraucht."
"Das kostet uns auch noch Geld?!" Mardo war entrüstet.
"Schnauze, Schätzchen! Wir sehen uns um drei Uhr am AEG-Tor. Und vergiss nicht, das Rad abzuholen, sonst kannst du neben mir her rennen."
"Muss ich denn wirklich mit?"
"Du weißt doch, dass nur Teams mitmachen können. Also lass mich nicht hängen."

Natürlich war Mardo gekommen. Er stand mit Mary in einer Gruppe von vielleicht zwanzig Leuten, die zu Fuß, auf Rädern, Motorrollern und mit Autos an der Kiezrallye teilnehmen wollten. Für zehn Euro pro Team bekamen sie eine Startkarte, auf der bereits der erste Stempel zu sehen war. Eine Frau, die wie eine Rocksängerin aussah und von sich behauptete, eine "Quartiersmanagerin" zu sein, erklärte die Spielregeln. Es gab sechs Rätsel, die zur Lösung der Schnitzeljagd führen sollten. In ihrer Hand hielt sie die Zettel mit der ersten Aufgabe. Mardo fragte sich, was Quartiersmanager wohl machten. Es klang nach einer Zimmervermittlung für Touristen. Aber er war hier, um mit seinem detektivischen Verstand eine Aufgabe zu lösen. Einige Teilnehmer kannte er, so zum Beispiel Nuray, eine Jungtürkin mit blondiertem Haar, und Sarah, ihre deutsche Freundin mit den pechschwarzen Locken. Sie nahmen auf ihren Roller-Blades am Rennen teil. Aber da gab es auch ein Pärchen, das Mardo noch nie gesehen hatte: Ein junger Mann, schwarzes gegeltes Kurzhaar, spielte nervös mit seinem Autoschlüssel herum, während seine Begleiterin an den Fingernägeln kaute.

"Die Stars der Graunstraße live erleben. Ist es nicht himmlisch, noch nicht zur Schule gehen zu müssen? Die ersten beiden Buchstaben." Was sollte dieser Schwachsinn? Harkan war wütend, aber er durfte nichts riskieren. Hier waren zuviele Menschen und er konnte sich nicht sicher sein, ob der Schlüssel überhaupt noch im Pokal war. Er hatte Lutz erwischt und er hatte mit ihm einen kleinen Spaziergang in den Humboldthain gemacht. Dort hatte Lutz ihm schließlich alles verraten. Und nun musste er sich mit diesen Dorftrotteln an einer Schnitzeljagd durch diesen Kiez beteiligen. Aber es ging um viel Geld. Neben ihm saß Cindy, die gerade ihren Kaugummi in die Länge zog und um einen hochkomplex manikürten Zeigefinger wickelte. Die Meute der Rallyeteilnehmer bewegte sich in Richtung Osten, Harkan fummelte an einem zerfledderten Falk-Plan herum.
"Graunstraße ... mal sehen."
"Ick denke, wir fahren ersma dem janzen Pulk hintahea." Cindy kam eigentlich aus dem Spreewald. Der Osten stirbt, die Städte gehen langsam zugrunde und zuerst erwischt es die Dörfer. Irgendwann knattert niemand mehr am Samstagabend mit seinem Moped um die Dorflinde. Die Jungen suchen sich eine neue Heimat, die Alten folgen ihren Hausärzten irgendwann in die Kreisstadt. Und so war Cindy nach Berlin gekommen, so wie viele andere Cindys und Silvios.

In den Kellereingängen tanzte noch das Laub des vergangenen Jahres, während an den Bäumen schon in die ersten Knospen blühten. Der Frühling kam reichlich spät in diesem Jahr. Stimmten denn die Vorhersagen zur Erderwärmung und Klimakatastrophe nicht mehr? Andererseits waren die Zusammenhänge zwischen menschlicher Blödheit und Hautkrebs kriminologisch eindeutig erklärbar. Es gab einen Täter, ein Motiv, ein Tatwerkzeug und kein Alibi. Schuldig ist der Mensch, als Motiv haben wir Habsucht und Herrschsucht, als Tatwerkzeug all die Autos, Flugzeuge und furzenden Kühe – und während der letzten eine Million Jahre war der Täter ja wohl durchgehend am Tatort Erde.
Mardo strampelte Mary hinterher und fragte sich, wie schmerzhaft die ganze Angelegenheit für seinen couchverwöhnten Hintern wohl sein würde.
"Da vorne!" rief Mary über die Schulter.
Mardo begriff nichts. Mary stieg vom Rad und verschwand in einem Durchgang. Mardo folgte ihr und sah, wie sie sich einen Stempel und einen Zettel mit einem neuen Rätsel geben ließ. Natürlich! Die Kita in seiner Straße. "Sternenhimmel" war das Lösungswort. Die Buchstaben S und T trugen sie auf ihre Karte ein.

"Viele Busse und ein großes Bild. Sag laut was du siehst und nimm den zweiten Buchstaben."
Mardo und Mary sahen sich einen Augenblick lang an. Fast hätte Mardo laut gerufen, so schmerzhaft traf ihn der Geistesblitz. Aber es waren inzwischen einige andere Teams an der Kita angekommen. Also radelten die beiden erst einmal zurück zur Brunnenstraße.
"Wohin willst du?" fragte Mary.
"Zum Busdepot der BVG. Ist gleich da vorne. Keine Ahnung, wie die Straße heißt."
Kurze Zeit später standen sie keuchend in der Usedomer Straße und starrten auf das Wandbild, das auf der Brandmauer des Gebäudes an der Wattstraße zu sehen war.
"Ein Baum."
"Ein A."
Wieder einer dieser ominösen Quartiersmanager, wieder ein Stempel. Hinter ihnen knatterte ein altes Mofa und gerade bogen die beiden Mädels auf ihren Roller-Blades um die Ecke. Langsam wurde es Mardo warm.

Harkan war sauer. So konnten sie einfach nicht gewinnen. Er hatte sich sogar anstellen müssen, um diesen bescheuerten Stempelabdruck auf seine Teilnahmekarte zu bekommen. Vielleicht sollten sie sich darauf konzentrieren, den Gewinnern den Pokal zu stellen. Aber was, wenn bei der Preisverleihung der Deckel geöffnet wurde? Der Schlüssel war unglaublich wichtig. Es war der Schlüssel zu einem Spind in der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße. Er konnte nicht alle Spinde aufbrechen, er musste an den Schlüssel kommen. Zwar gab es in diesen Bibliotheken kein Zeitlimit, aber er brauchte das Geld aus dem Überfall dringend, um eine Lieferung aus Polen bezahlen zu können.
Cindy hatte es vermasselt, soviel war klar. Sie hätte Lutz nicht mit dem Geld alleine lassen sollen. Natürlich war der Typ verschwunden und hatte sein Handy ausgeschaltet. Er blickte zu ihr hinüber. Sie hatte hellblonde Ponyfransen, einen ausrasierten Nacken und ein Augenbrauenpiercing. Ihre Zähne waren so klein und gelb wie Maiskörner. Er fragte sich schon seit einiger Zeit, warum er überhaupt mit diesem märkischen Bauerntrampel zusammen war.

"Am Mauerpark, da lernt man frei. Mit Buchstabe 1 bist du dabei." Mary und Mardo radelten zur Bernauer Straße und bogen nach Norden ab. Die "Freie Schule am Mauerpark" in der Wolliner Straße lieferte einen weiteren Buchstaben. Eine Freundin von Mary arbeitete hier. Aus einem offenen Fenster drang des helle Lachen von Kindern. Es soll Orte in Berlin geben, da gilt Kinderlachen als Lärm und wird juristisch verfolgt.
Das nächste Rätsel war schon schwieriger: "Sieh die grüne Schrift, den Sinn verstehst du nicht. Letzter Buchstabe." Als man ihnen den Stempel und die neue Rätselkarte gegeben hatte, sollte sie es in der Max-Urich-Straße versuchen. Dort sollte eine Brachfläche und ein Graffito geben. Aber wo war eigentlich diese Max-Urich-Straße? Dazu gaben Leute von der Mitwohnzentrale keine Auskunft.
Mary schlug vor, den Stadtplan an der Bushaltestelle zu konsultieren. Da hielt plötzlich ein schwarzer Golf GTI vor ihnen.
"Ist das hier eine Schule?" fragte die blonde Beifahrerin aus dem Fenster.
"Ist das ein Statdplan?" Mardo deutete auf den Plan, den sie auf ihrem Schoß ausgebreitet hatte.
Mary erklärte dem ausgestiegenen Fahrer den Weg zur Stempelfee, die im Gebäude auf die Rallyeteilnehmer wartete, Mardo blickte kurz auf die Karte. Dann ging es weiter. Schon wieder musste er auf die andere Seite des Viertels strampeln. Lange durfte die Jagd nicht mehr dauern, schon jetzt schmerzten einige, bisher völlig unbekannt gebliebene Körperteile ganz unangenehm.

R war der letzte Buchstabe des inhaltlich nicht zu interpretierenden Grafitto an der Brandmauer. Auf der Brachfläche Ecke Ackerstraße stand noch ein alter Imbisswagen, daneben lag eine Döner-Fabrik.
Das Brunnenviertel ist nicht schön, dachte Mardo, als Mary sich den Stempel geben ließ und die neue Aufgabe bekam. Aber an Orten wie diesem ist Berlin wenigstens ehrlich. In ihren Kiezen ist die Stadt ganz bei sich, hier kann sie sich geben, wie sie nun einmal ist: alltäglich, banal, irgendwie gerade beschäftigt, manchmal schlecht gelaunt, manchmal mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Dort, wo Berlin schön ist, wirkte es auf Mardo verlogen. Er mochte den Pariser Platz mit dem B-Tor nicht, auch nicht den Gendarmenmarkt oder all diese neuen Bauten, die irgend etwas repräsentieren sollen. Was repräsentieren eigentlich Gebäude wie der Hauptbahnhof oder die zahllosen Shopping Malls, die den Eindruck erwecken, als seien sie aus großer Höhe wahllos über der Stadt abgeworfen worden? Berlin sicher nicht.
Berlin wird durch Kieze wie das Brunnenviertel repräsentiert, hier finden alle großen Themen unserer Zeit ihren Ort: soziale Spaltung und Integration, Teilung und Einheit, Aufbau und Zerstörung, Vergangenheit und Zukunft. Dieses Berlin hat eine Geschichte zu erzählen, und es hat ein Gesicht, das nur eine Mutter lieben kann. Das Schöne, das Perfekte ist oft auch sehr langweilig. Es hat nichts außer seiner glänzenden Oberfläche. Die deutsche Hauptstadt aus dem Reiseführer, dieser Tunnel aus hübschen Bildern, durch den die Touristen geführt werden, überließ Mardo gerne den Anderen.

Der letzte Buchstabe führte sie zur Moschee in der Jasmunder Straße: "Such den Ort des Propheten, für den vierten Buchstaben sollst du beten."
Mary hatte einfach eine arabische Kollegin vom Gesundbrunnencenter angerufen. "Ashabi Kehf" hieß die Moschee und damit hatten sie das Lösungswort: STAFRA.
"Was soll denn das heißen?" fragte Mardo.
"Wir müssen einen Fehler gemacht haben", vermutete Mary.
"Und wo sind eigentlich all die anderen Teilnehmer?"
"Ich glaube, wir haben den Anschluss verloren. Lass uns zu diesem Quartiersmanagement fahren. Vielleicht stehen die Sieger ja schon fest," Mary schwang sich wieder auf’s Rad.
Als sie die Ramlerstraße entlangfuhren, hatte Mardo seinen zweiten Geistesblitz.
"Mary. Warte!"
Sie hielt an und blickte sich zu ihm um.
"Es ist St. Afra. Die Kirche bei uns in der Straße."
Mary stutzte einen Augenblick, dann lächelte sie. "Na klar! Los, wir fahren hin."
Sie merkten nicht, dass ihnen ein schwarzen Golf folgte.

Vor der Kirche stand die Quartiersmanagerin, die wie eine Rocksängerin aussah. Sonst niemand.
"Sind wir die Ersten?" keuchte Mardo aufgeregt.
"Ja. Aber zum Sieg fehlt euch noch eine letzte Antwort. Diesmal ist es eine Zahl."
Jetzt kamen auch Harkan und Cindy.
"Kein Problem", rief Harkan. "Sag uns die Aufgabe und dann holen wir uns den Pokal."
Die Quartiersmanagerin erhob feierlich die Stimme. "Wieviele Meerschweinchen gibt es im Streichelzoo?"
"Was?!" schrie Harkan. "Bin ich hier im Irrenhaus gelandet? Wo ist denn der Streichelzoo in diesem Höllenkiez?"
"Das ist unfair", plärrte Cindy. "Wir wollen den Pokal."
Mardo trat ruhig dazwischen. "Keine Sorge, Leute. Der Streichelzoo ist hier gleich um die Ecke. Durch den Gleimtunnel durch und dann links die Treppe hoch. Dauert keine fünf Minuten."
Harkan war verblüfft. Spielte dieser Trottel hier den Sportsmann oder war er einfach nur blöd? Er würde mit dem Auto viel schneller dort sein und wieder zurück, um den Pokal und den Schlüssel zu sichern. Er schubste Cindy an und sprang in sein Auto. Mit quietschenden Reifen rasten sie davon.
Mardo blickte ihnen nach und sah dann Mary an. "Willst du es sagen?"
"Nein, sag du’s ihr."
Mary und Mardo gingen gerne in den Streichelzoo auf dem alten Bahndamm. Der Anblick der Tiere hatte etwas Beruhigendes, Entspannendes. So als ob man in ein Lagerfeuer oder aufs Meer schaut. Natürlich macht so ein Kaninchen oder ein Pony nichts Besonderes, aber das machen die Wellen am Strand ja eigentlich auch nicht.
Mardo schaute die Frau mit dem Pokal an: "Sieben."
"Richtig."

Der Rest ist schnell erzählt. Mary, die seit Jahren studiert, erkennt den Schlüssel. Schließlich leiht sie in der Stabi oft Bücher aus. Sie finden eine Sporttasche mit viel Bargeld, Harkan und Cindy betreten kurze Zeit später die Bibliothek. Mardo ruft Kommissar Leber an und wartet mit der Tasche gemächlich an der Buchrückgabe, bis dieser mit seinem Assistenten eintrifft.
Harkan und Cindy haben sich getrennt. Er lebt inzwischen in Plötzensee, sie in Moabit.

Montag, 13. April 2009

Zwanzig Jahre Mauerfall


Es gibt Bilder, die gehen um die ganze Welt. Es gibt Orte, auf die für einen Augenblick der Geschichte alle Scheinwerfer gerichtet sind. Das Brunnenviertel ist so ein Ort.

Eigentlich klingt es surreal wie eine Märchengeschichte: Da wird quer durch Berlin und durch den heutigen Stadtteil Mitte eine hohe Mauer gebaut, die Tag und Nacht bewacht wird, als seien beide Hälften der Stadt im Kriegszustand. Man kann es eigentlich gar nicht glauben, wenn man heute die Bernauer Straße entlang geht. Aber hier sah es vor zwanzig Jahren noch völlig anders aus und vor einem knappen halben Jahrhundert spielten sich an diesem Ort dramatische Szenen ab, die weltpolitische Konsequenzen haben sollten. An der Bernauer Straße sprangen Menschen aus den Fenstern, um die letzte Gelegenheit zur Flucht zu nutzen. Staatsoberhäupter legten in der Folgezeit Kränze und Blumen an diesem Ort nieder, um ihre Verbundenheit mit der geteilten Stadt zu dokumentieren.

Als am 13. August 1961 die Grenzen zwischen den Sektoren der Westalliierten und der DDR abgeriegelt wurde, war das Brunnenviertel auf einen Schlag von seinen Nachbarbezirken im Süden und Osten abgeschnitten. Das letzte Schlupfloch des "Eisernen Vorhangs", der kapitalistische und kommunistische Gesellschaften quer durch Europa und Deutschland trennte, war geschlossen, der Flüchtlingsstrom in den Westen versiegte. Familien wurden getrennt, Arbeitsplätze waren plötzlich unerreichbar und Geschäfte schlossen. Bis zum Bau der Mauer arbeiteten viele Menschen aus dem Prenzlauer Berg in den Fabriken des Wedding. Sie gingen in der belebten Gegend um Bad- und Brunnenstraße, damals im Volksmund noch "Sachsendamm" genannt, einkaufen. Zahlreiche Geschäfte, Gasthäuser und Kinos profitierten von den Besuchern aus Ost-Berlin und der DDR, die hier auch mit ihrer eigenen Währung zahlen konnten. Nur zwei Jahre nach dem Mauerfall hatte bereits die Hälfte der Betriebe im Kiez geschlossen – ein wirtschaftlicher Aderlass, von dem sich das Viertel bis heute nicht erholt hat. Wer nun in den anderen Teil der Stadt wollte, musste zu den Grenzübergängen an der Bornholmer Straße oder der Chausseestraße. Im Brunnenviertel selbst gab es nur die kahle Wand der "Berliner Mauer", wie sie in aller Welt genannt wurde, und dahinter den militärisch gesicherten "Todesstreifen". Zu allem Überfluss wurde das isolierte Viertel am "neuen Stadtrand" West-Berlins in den Folgejahren Opfer städtebaulicher Experimente, in erster Linie der sogenannten "Kahlschlagsanierung".

In den Jahrzehnten nach dem Mauerbau veränderte sich das Viertel und seine Menschen. Die Isolation West-Berlins führte zum wirtschaftlichen Niedergang, viele Menschen folgten den Arbeitsplätzen und wanderten in die Bundesrepublik ab. Neue Gesichter prägten das Straßenbild: Die einfachen Malocher und Hausfrauen verschwanden, ebenso die Kriegsversehrten, deren zerstörte Körper an die Schrecken des Weltkriegs erinnerten, Migrantenfamilien und junge Westdeutsche siedelten sich in Vierteln wie Kreuzberg oder dem Wedding an. Die Migranten kamen wegen der damals noch vorhandenen Industriearbeitsplätze, die mit einer "Berlinzulage" subventioniert wurden, die Jugend wollte der schwäbischen oder westfälischen Einöde entfliehen, wahlweise auch dem Kreiswehrersatzamt, und das Leben in der Großstadt entdecken. Ost-Berlin erschien den Neubürgern als bizarres Ausflugsziel, das geographisch zwar nicht weit entfernt lag, aber nur mühselig, nach langem Schlangestehen an den Passierscheinstellen, dem Ausfüllen eines Visumantragsformulars (drei Tage im Voraus), der Zahlung des "Mindestumtauschs" von 25 D-Mark, peniblen Taschenkontrollen und strengen Befragungen durch die "Grenztruppen" zu erreichen war.

28 Jahre lang war die Mauer ein Abenteuerspielplatz für Kinder und Graffiti-Künstler, ein Ort der politischen Provokation und Propaganda der konkurrierenden Systeme, Schicksalsort für Flüchtlinge, die den Todesstreifen in Tunneln und mit Fesselballons überwinden wollten – dann wurde sie durch eine einzige Pressekonferenz des SED-Regimes atomisiert. In der Nacht vom 9. auf den 10. November strömten die Menschen nach West-Berlin. In den Tagen nach der Maueröffnung waren der Ku’damm und andere Straßen eine einzige Partymeile: überall knatternde Trabbies, Sekt und Stone-washed Jeans. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen, die Narben der Teilung sind für Bewohner und Besucher praktisch unsichtbar geworden. Nur an der Bernauer Straße erinnert der einzige komplett erhaltene Grenzabschnitt noch an die unglaubliche Geschichte, als quer durch Berlin eine Mauer gebaut wurde.

Info: http://www.berlin.de/special/20_jahre_mauerfall/

Montag, 6. April 2009

Gedankensplitter


Wie hieß eigentlich der Indianer, der Spanien entdeckt hat?

Das neoliberale Credo vom lebenslangen Lernen soll uns nur auf eins vorbereiten: lebenslanges Arbeiten.

"Hans saß benommen und nachdenklich am Wirtshaustisch und murmelte ‚Ja, ja, Albanien‘, während er schräg nach oben zur Decke blickte."
(aus meinem Romanfragment "Der Staub der Jahre")

Mein Gott heißt Wrobel und er kann nichts.

Das Telefon klingelt. Ich hebe ab und lausche. Es ist ein fernes Telefonklingeln zu hören, sonst nichts.

Wenn viele über dich lachen, bist du ein gemachter Mann, wenn wenige über dich lachen, bist du ein Idiot.

A: "Wann haben sie dich rausgelassen?"
B: "Raus? Ich dachte, hier wäre drinnen."

Das sehr deutsche Phänomen der Mülltrennung als alter Spießertraum: Durch bloße Ordnung die Welt retten wollen.

A: "Was macht so ein Hund eigentlich den ganzen Tag?"
B: "Glaub mir, das fragt sich der Hund manchmal auch."

Halbschlaf: In einem beginnenden Traum blättere ich die Seite eines unbekannten Buches um. Dann fällt mir ein, dass ja gerade meine Augen geschlossen sind und ich gar nichts lesen kann. Doch dann kommt mir der beruhigende Gedanke, ohnehin zu schlafen und darum auch nicht wirklich umzublättern. So schlafe ich endgültig ein und träume weiter.

Das eigentliche Anwesen ist sehr groß und schön. Es verfügt über viele helle Räume, in denen ausgewählte Möbel stehen. Im Wohnzimmer gibt es einen offenen Kamin und die Küche ist vorzüglich eingerichtet. Gäbe es Besucher, würden sie mich zweifellos beneiden. Ich selbst wohne aber in einer kleinen Hütte im Garten, die ich mir aus Laub und Zweigen gebastelt habe. Sie genügt mir völlig, nur selten blicke ich überhaupt zur Villa hinüber. In dieser winzigen Behausung zwischen den Brombeersträuchern habe ich knapp über dem Boden ein Seil gespannt, auf dem ich mit meinem Einrad Kunststücke vollbringe.