Dienstag, 27. Juli 2021

Lesen Sie Todesanzeigen?


Vor acht Jahren musste ich Berlin verlassen, weil ich von der Polizei gesucht wurde. Ich ließ mich im Hunsrück nieder. Es war kein Problem, dem Sachbearbeiter der Verbandsgemeindeverwaltung zu erklären, ich habe meinen Pass verloren und benötige einen neuen. Ich gab die Adresse eines unbebauten Grundstücks im Nachbardorf an. Das war auch kein Problem. Ich bekam meinen Ausweis und niemand hat meine Angaben je überprüft. Das Vertrauen der Menschen in der Provinz ist rührend.

War es mein fortschreitendes Alter? War es die geradezu groteske Ereignislosigkeit des Landlebens, nachdem ich mein Leben als „Finanzberater“ eines tschetschenischen Clans und Plutoniumschmugglers in Berlin aufgegeben hatte? Jedenfalls fing ich an, die Todesanzeigen zu lesen. Anfang des Jahres fiel mir auf, dass ein altes Ehepaar kurz hintereinander verstorben war. Zwischen dem Tod von Alfred und Svenja Dingeldey lagen nur vierzehn Tage. Sie wohnten nur wenige hundert Meter von meinem aktuellen Wohnsitz entfernt und ich beschloss, mir das Haus, zu dem ein kleiner Vorgarten und eine Scheune gehörten, bei meinen morgendlichen Spaziergängen näher anzusehen.

Wenn man plötzlich auf eine gute Idee kommt, ist alles andere eigentlich ganz einfach. Von meinen Großeltern und meiner Tätigkeit als Altenpfleger während des Zivildienstes wusste ich, wie wenig alte Menschen den Banken vertrauten und wie gerne sie Geld und Wertsachen versteckten. Dabei legten sie wie Eichhörnchen mehrere Verstecke an und vergaßen einige von ihnen. Ich klebte einen Grashalm zwischen Gartentor und Mauer. Er blieb tagelang unberührt. Offenbar hatten die Kinder noch nicht entschieden, wie sie weiter mit der Immobilie umgehen sollten. Ich nahm an, sie seien berufstätig und hätten selbst Familie. Also könnten sie höchstens am Abend oder am Wochenende das Haus aufsuchen. Laut Telefonbuch lebten sie in Simmern und in Bad Kreuznach.

Es ist nicht so, dass ich das Geld nötig hätte. Aber wenn man acht Jahre ein kulinarisch anspruchsvolles Leben führt und gerne in schönen Hotels absteigt, wenn man es vorzieht, keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachzugehen, um keine Spuren für Polizisten und Tschetschenen zu hinterlassen, gehen die Finanzmittel doch allmählich zu Ende. Es reicht noch ein paar Jahre, aber ein zusätzliches Einkommen, verbunden mit dem nötigen Nervenkitzel, kann nichts schaden.

An einem Dienstagvormittag habe ich einfach die Türen des Dingeldey-Hauses geöffnet. Die Schlösser stellten kein Hindernis dar. Der Einbruch bei Tag bietet den Vorteil, keine Lampen oder Taschenlampen einschalten zu müssen. Es erinnerte mich an die Spiele meiner Kindertage. Es war wie Ostern oder ein Versteckspiel mit anderen Jungs. In der Küche stand ein altmodischer Schrank mit Glasbehältern für Mehl, Zucker und Salz, die man herausziehen konnte. Im Salz fand ich einen Schlüssel, der offenbar zu einer Kassette passte. Die Kassette fand ich auf dem Dachboden hinter diversem Gerümpel. Das Schloss wäre auch ohne Schlüssel kein Problem gewesen. Wie naiv die Menschen doch sind.

Über zehntausend Euro. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Der Schmuck der verstorbenen Frau, den ich im Schlafzimmer fand, war wertlos. Wie sollte ich hier im Hunsrück auch einen Hehler finden? Ich ließ ihn liegen. Die Kassette würde niemand vermissen, den Familienschmuck schon. Ich verließ das Haus und ging am selben Abend gut gelaunt in ein Steakhaus. Beim örtlichen Weinhändler gab ich eine Lieferung in Auftrag und bezahlte bar.

So fing es an. Es ist eigentlich ganz einfach. Tote hinterlassen leere Häuser. Alte Menschen hinterlassen Bargeld. Die Todesanzeigen gehören inzwischen zu meiner bevorzugten Lektüre. Vielleicht sollte ich wieder in die Stadt ziehen? Wo findet man jeden Tag eine wohlhabende Leiche? In Hamburg? München?

The Smiths - That Joke Isn't Funny Anymore - YouTube

2 Kommentare:

  1. Liegt ein armer Senior tot im Keller,
    warn die Erben wieder schneller.

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    1. Richtig hieß es:
      Liegt ein Popper tot im Keller
      war ein Punker wieder schneller
      Problem: wer weiß noch, was Popper waren ?

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