Die Garde stirbt, aber sie
ergibt sich nicht. In den letzten Jahren verstarben mein Doktorvater Ekkehart
Krippendorff und Elmar Altvater (beide 2018), mein Zweitgutachter Wolf-Dieter
Narr (2019), der in seinem Gutachten schrieb, meine Dissertation lese sich
stellenweise „wie ein Sektfrühstück“, und vorgestern Peter Grottian, bei dem
ich als Doktorand mein letztes Seminar hatte. Ein linker Revoluzzer, der ständig
Ärger mit der Justiz, konservativen Politikern und dem Verfassungsschutz hatte.
Die alte Garde des OSI, dieser marxistischen Kaderschmiede an der FU Berlin,
gibt es nicht mehr.
Samstag, 31. Oktober 2020
R.I.P. Peter Grottian
Covid-19 antwortet nicht
Jahrzehntlang waren wir mit
Problemen befasst, die wir Menschen selbst geschaffen haben: mit politischen
Umwälzungen wie dem Ende des Kommunismus und der Wiedervereinigung, mit Kriegen
und Terrorismus, mit Wirtschaftskrisen und Armut. Plötzlich haben wir es
Problemen zu tun, die von der Natur an uns herangetragen werden. Erst waren es
klimatische Veränderungen, dann ein Krankheitserreger namens Covid-19.
Die Herausforderungen der
klimatischen Veränderungen konnten wir noch ausblenden, zumindest auf den
Wohlstandsinseln wie Deutschland. Die Gefahr liegt in ferner Zukunft, für
unmittelbare Erscheinungen wie sommerliche Hitzewellen gibt es technische
Lösungen wie Klimaanlagen. Wir schließen einfach die Augen. Das Virus bedroht
unser Leben jedoch direkt, hier und jetzt. Wir stellen fest, dass man mit der
Natur, im Gegensatz zum politischen Gegner, nicht reden kann.
Unsere Wordgewandtheit, unsere
Drohungen und Schmeicheleien, unsere Kompromissvorschläge nutzen uns nichts. Wenn
Corona ein Land wäre, hätten es die Amerikaner schon längst bombardiert. Was
tun wir? Wir greifen die Menschen an, die mit der Bedrohung zu tun haben. Wenn
das Virus schon nicht auf unsere Beschimpfungen reagiert, dann tun es
wenigstens die Politiker. An ihnen, an den von ihnen beauftragten Experten und
an den zuständigen Behörden lassen wir unseren Zorn aus. Es wird uns nichts
nutzen.
Die Natur im Allgemeinen wie
auch Covid-19 im Besonderen sind blind und taub. Sie interessieren sich nicht für
das Grundgesetz. Wir können mit ihnen kein juristisches Seminar veranstalten.
Sie sind keinem Argument zugänglich. Damit können wir nicht umgehen. Das haben
wir nicht gelernt. Es soll etwas geben, das mächtiger als der Mensch ist? Das
kann nicht sein, das darf nicht sein. Wir empfinden es als eine narzisstische
Kränkung und quengeln wie störrische Kinder bei jeder Einschränkung unseres
privilegierten Lebens.
Es ist richtig: Wir leben in
einer Corona-Diktatur. Aber auf dem Thron sitzt kein Politiker und kein
Milliardär. Wir erleben auch nicht die Rache der gequälten Natur, keinen Reflex
des Planeten gegen die Seuche Mensch. Es ist einfach da. Mächtig. Schweigend. Widerstand
zwecklos.
Jet -
Are You Gonna Be My Girl. https://www.youtube.com/watch?v=tuK6n2Lkza0
Donnerstag, 29. Oktober 2020
Jugenderinnerung
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Die Platte hängt.
Dienstag, 27. Oktober 2020
Die Zukunft, Tag 1
Es war das erste Mal, dass sie
in einem autonom betriebenen Fahrzeug unterwegs war. Lautlos glitt es durch
eine ausgedehnte Parklandschaft und hielt schließlich vor einer gläsernen
Kuppel, die im Sonnenlicht hellblau leuchtete.
Die Eingangshalle war
menschenleer, nur an einem Empfangstresen stand eine Frau hinter einer
meterhohen Plexiglasscheibe.
„Sie sind Kaya Berger?“
„Ja.“
„Sie werden erwartet. Raum 432
im vierten Stock. Der Aufzug ist dort drüben.“
Kaya ging zum Aufzug. Vergeblich
suchte sie ein Tastenfeld. Schließlich sagte sie: „Öffnen“.
Tatsächlich öffnete sich der
Fahrstuhl.
„Vierter Stock.“
Sie stieg aus und stand in einem
langen Flur. Die ganze Decke schimmerte in gelbem Licht, als wären Kerzen
hinter Milchglas verborgen. Sie suchte Raum 432, aber es gab diese Nummer
nicht. Bei Raum 430 endete die Zählung. Sie überlegte einen Augenblick und
klopfte an die Tür von Raum 430.
Nichts. Sie klopfte erneut.
Die Tür wurde geöffnet und ein
älterer Mann mit Halbglatze und einem Kranz wirrer grauer Haarsträhnen stand
vor ihr. Auf seinem Hemd waren Kaffeeflecken und er trug Hausschuhe.
„Was wollen Sie von mir?“
„Entschuldigung“, sagte Kaya,
„ich suche Raum 432.“
„Das ist Raum 430. Können Sie
nicht lesen.“
„Es gibt keinen Raum 432. Können
Sie mir vielleicht weiterhelfen?“
„Waren Sie überhaupt schon mal
hier? Möglicherweise gibt es diesen Raum. Woher soll ich das wissen?“
Kaya schaute ihn schweigend an.
„Versuchen Sie es in der
Zentrale oder in Raum 423. Vielleicht ist es nur ein Zahlendreher.“ Dann
schloss der Mann seine Tür.
Sie ging zu Raum 423. An der Tür
war ein Schild mit ihrem Namen angebracht. Sie drückte die Türklinke. Der Raum
war nicht abgeschlossen. Vor ihr lag ein großes Büro mit Blick auf den Park.
Sie ging hinein und setzte sich auf den Drehstuhl. Die Sitzfläche kippte nach
unten und sie lag auf dem Boden.
Die Tür ging auf. Ein junger
Mann in einem schwarzen Shirt kam auf sie zu.
„Sie sind die neue Kollegin.
Herzlich willkommen! Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Das Büro ist sehr schön, aber
der Stuhl ist nicht in Ordnung. An wen muss ich mich in dieser Sache wenden?“
Der Mann kam näher und sah ihr
tief in die Augen. „Für die Büroausstattung bin ich zuständig. Das kann
allerdings eine Weile dauern. Den Bürostuhl müsste ich bestellen.“
Er stand nun unangenehm nahe vor
ihr. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren.
„Was machen Sie denn heute
Abend, Frau Berger? Essen Sie gerne?“
„Was soll die Frage?“
„Wir könnten vielleicht zusammen
essen gehen. Mögen Sie türkisches Street Food?“
„Verlassen Sie sofort mein
Büro!“
Enttäuscht trat der Mann einen
Schritt zurück. Dann ging er mit einem höhnischen Grinsen und schloss die Tür
hinter sich.
Kayas Handy vibrierte. Sie nahm
das Gerät aus ihrer Hosentasche. Die Nummer auf dem Display sagte ihr nichts.
„Berger.“
„Hallo, Frau Berger“. Eine
freundliche Frauenstimme. „Ich bin Sofia Venturini, die Personalchefin. Kommen
Sie doch bitte zu mir in Raum 612.“
Wenig später saß Kaya vor Frau
Venturini, die überraschend jung war.
„Willkommen in unserem
Unternehmen. Ich hoffe, Sie hatten keine Probleme und haben Ihr Büro bezogen?“
Kaya zögerte einen Augenblick.
Dann erzählte sie, was ihr bisher passiert war.
Die Personalchefin lächelte.
„Das war nur ein kleiner Test.“
„Der Fahrstuhl mit Sprachsteuerung,
der komische Kauz und der Möchtegern-Casanova waren ein Test?“
„Der Fahrstuhl nicht. Der
komische Kauz ist Herr Dombrowski, ein Softwaredesigner. Sie hätten hätte auch an
eine andere Tür klopfen können. Der Casanova war ganz sicher ein Test. Ich weiß
es selbst nicht genau. Es wird permanent getestet.“
Kaya stutzte. „Sie meinen, alles
kann ein Test sein?“
„Ja, Test und Wirklichkeit gehen
in unserem Unternehmen ineinander über. Wenn Sie wissen, dass es ein Test ist,
passen Sie Ihr Verhalten an. Sie reagieren dann so, wie es der Versuchsleiter
erwartet. In unserem Unternehmen ist es anders. Zufällige Vorfälle können als
Test gewertet werden. Tests werden in der Wirklichkeit fortgesetzt, damit sie
den Unterschied nicht merken. Hat der Casanova Ihnen absichtlich einen kaputten
Stuhl hingestellt, um Kontakt mit Ihnen aufnehmen zu können, oder war es ein
geplanter Test? Ich weiß es nicht.“
„Warum nicht? Ich dachte, Sie
hätten das veranlasst. Machen Sie denn keine Tests, Frau Venturini?“
„Doch, natürlich. Aber ich bin
nicht die einzige, die testet. Wir alle führen die Ereignisketten fort, um den
Unterschied von Testsituation und alltäglicher Situation zu verwischen.
Verstehen Sie? Test und Wirklichkeit sind nicht voneinander zu unterscheiden.“
„Also ist mein Stuhl gar nicht
kaputt. Wenn ich in mein Büro zurückgehe, steht dort ein neuer?“
„Nein, Ihr Stuhl ist tatsächlich
nicht in Ordnung. Wenden Sie sich in an ihren Vorgesetzten, Herrn Singh. Er ist
in Raum 401. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg an Ihrem neuen Arbeitsplatz.“
Phil Spitalny Orchestra - Puttin' On The Ritz.
https://www.youtube.com/watch?v=seB5BYvkMXk
Sonntag, 25. Oktober 2020
Ihre neuen Karriereoptionen
Sie
suchen eine neue Herausforderung?
Sie
spüren, dass mehr in Ihnen steckt?
Sie
glauben an Ihre Chance in einer Wachstumsbranche?
Bonetti
Media. Perfektion hat einen Namen.
Wir
führen Sie.
Wir
beseitigen Ihre Zweifel.
Wir
lehren Sie das neue Denken.
Wir
befreien Sie von emotionalen Bindungen.
Bonetti
Media. Wir sind die Zukunft.
Wir
geben Ihnen eine Aufgabe.
Wir
setzen Ihnen ein Ziel.
Wir
geben Ihrem Leben einen Sinn.
Bonetti
Media. Immer wissen, was läuft.
Wir
suchen:
Lieferfahrer
Stenotypistinnen
Reinigungskräfte
Komm
zu Bonetti Media. Noch heute.
Samstag, 24. Oktober 2020
Kleinstadtabenteuer
Unser
Summer of Love war irgendwann in den siebziger Jahren. Die Luft vibrierte.
Nachts trieben wir uns gerne am Bahnhof herum und saßen im fahlen Licht einer
Laterne auf einer Bank. Drei Jungs, drei Mädchen. Wir Jungs saßen am liebsten
auf der Lehne der Bank, weil das cool aussah. Manchmal saßen wir auch vor der
Post, die längst abgerissen ist. Eine niedrige Mauer, dahinter ein Stück Rasen,
auf das man sich legen konnte.
Christian
war der Intellektuelle. Er hatte Jack Kerouac gelesen. Zumindest sagte er das.
Ein schmächtiger, unscheinbarer Bursche. Dann Uwe. Der Revoluzzer. Man durfte
ihn nicht fotografieren, damit die Polizei keine Fahndungsfotos hätte. Ein
blonder Strahlemann, der geborene Anführer. Und ich. Undefiniert. Ich las gerne
MAD und war im Fußballverein.
Kerstin
war ein kleines, schüchternes Mädchen. Wir hatten uns mal geküsst, als wir
allein waren. Sie hatte einen tollen Mund. Volle Lippen und schöne Zähne wie
aus der Werbung. Aber wenn wir mit den anderen zusammen waren, ließen wir uns
natürlich nichts anmerken. Dann Anke mit den hautengen Jeans. Als ich ihr im
Klassenzimmer mal ein Stück Kreide auf den Hintern geworfen habe, gab es eine
Art Überschallknall. Der Inbegriff von Knackarsch.
Petra
hatte als einzige von den drei Mädchen einen sichtbaren Busen. Sie war üppig
gebaut. Sie wohnte im selben Stadtteil wie ich. Als wir mal nachts zusammen
nach Hause gegangen sind, habe ich eine Weile ihre Hand gehalten und sie hat es
zugelassen. Beinahe hätte ich ihr einen dieser sagenumwobenen Zettel mit dem
berühmten Text „Willst du mit mir gehen? Ja – Nein – Vielleicht“ geschrieben,
habe es aber zum Glück gelassen. Die Jungs erzählten sich, dass noch nie ein
Mädchen Ja angekreuzt hat, aber mit Vielleicht wäre man praktisch am Ziel.
Eigentlich
war ich in alle drei verknallt. Aber nur ein bisschen. Außerdem war ich ohnehin
zu schüchtern. Bis zu meiner ersten richtigen Freundin sollten noch Jahre
vergehen, aber das wusste ich damals noch nicht.
Hexennacht.
Wir hatten ein paar Flaschen Wein in einer Aldi-Tüte dabei. Die Bahnhofsgegend
war völlig verlassen. Der letzte Zug war durchgefahren, die Kneipe längst zu. Wir
kletterten über den Gitterzaun und setzten uns auf die Bank am Gleis 1.
Christian erzählte, wohin er später mal reisen würde. Mit dem Auto quer durch
Amerika. Und Australien. Uwe erzählte was vom Untergrund. Er wollte nach
Berlin. In Kreuzberg würde man die richtigen Leute treffen. Die Weinflasche
kreiste. Wir Jungs rauchten wie echte Kerle.
„Was
machen Sie da?“ Die dunkle Stimme eines älteren Mannes durchschnitt die Nacht.
Wir konnten ihn erst nicht sehen, denn er stand im Dunkeln vor dem
Bahnhofsgebäude.
„Geht
dich einen Scheiß an“, rief Uwe.
„Verschwinden
Sie! Aber sofort!“ Der Mann klang ziemlich wütend.
„Ruf
doch die Bullen“, antwortete Uwe.
Wir
rannten zum Gitterzaun und Christian kletterte schon hinüber, als ich sah, dass
in der Mitte eine Tür war. Ich drückte die Klinke runter. Sie war tatsächlich
offen. Wir gingen zur Post und legten uns auf den Rasen. Heiliger Scheißdreck! Wir lachten und
fühlten uns großartig.
Elise
LeGrow - Who Do You Love. https://www.youtube.com/watch?v=4BYzRmiBwRE
Montag, 19. Oktober 2020
Die Entscheidung
Er
betrachtete seinen Wandkalender. Jeder Tag hatte eine Nummer. Der Monat begann
mit Tag 1 und endete mit Tag 30. Alles in schönster Ordnung. Das gefiel ihm.
Und da er keine Termine hatte, ging er hinaus in den nebelgrauen Herbsttag und
beschloss, sich an diesem Tag etwas Besonderes zu gönnen.
Vor
dem Haus saß ein Bettler und hob die Hand, als er ihn sah. Aber selbst die
verzweifelten Gesichter der Laokoon-Gruppe hätten ihm keinen roten Heller
entlockt. Er hatte genau 124 Euro in seiner Brieftasche und dort gehörten sie
auch hin. Er dachte an seine Kindheit zurück. Sommer, Freibad, der Geruch von
Sonnenöl und Bratfett. Der Kiosk. Damals hatte er nur Geld für eine Tüte Pommes
frites mit Ketchup oder ein Eis am Stiel. Wie oft hatte er vor der bunten Tafel
mit den Eissorten gestanden und sein Kleingeld gezählt?
Jetzt
konnte er sich alles leisten. Aber wo sollte er anfangen? Er schlenderte die
Straße entlang und spähte in das Schaufenster einer Konditorei. Vielleicht ein
Stück Torte? Eine Tasse Kaffee? Aber er mochte die Stehtische nicht. Seit wann
isst man Torte im Stehen? Als er noch ein kleiner Junge war, mochte er
Malzbonbons. Seine Oma kaufte sie ihm tütenweise. Bayrisch Blockmalz, die
Schrift in Fraktur, die Tüte hatte ein weiß-blaues Rautenmuster. Auch kandierte
Erdnüsse mochte er. Es gab rote Automaten, die an den Häuserwänden
festgeschraubt waren. Für zehn Pfennig bekam man eine Handvoll. Sie waren
längst verschwunden, genauso wie Lutscher. Kein Kind hatte mehr einen Lutscher
im Mund.
Er
setzte sich auf eine Bank und schloss die Augen. Er hob den Kopf und das
Sonnenlicht war orange auf seinen Lidern. Jetzt eine Zigarre. Er hatte schon
seit zehn Jahren nicht mehr geraucht. Einfach eine gute Zigarre. Als Kind hatte
er die verschiedenen Zigarrenbinden seines Vaters gesammelt und in ein Album
geklebt. Wohin war dieses Album verschwunden? Gab es überhaupt noch
Tabakwarenläden, in denen man eine einzelne Zigarre kaufen konnte? Er konnte
sich gar nicht daran erinnern, wann er zuletzt ein solches Geschäft in seiner
Stadt gesehen hatte.
Er
öffnete die Augen und sah auf seine Schuhe. Dunkelbraune Lederschuhe. Wann hatte er sie gekauft? Vor zehn Jahren? Da kam ihm
plötzlich eine Idee. Als Kind hatte er Adidas-Schuhe getragen. Adidas Samba.
Schwarz, mit weißen Streifen. Er würde sich Sportschuhe kaufen. Natürlich
machte er seit Jahren keinen Sport mehr. Aber warum nicht? In der Innenstadt
gab es ein Schuhgeschäft, dass die neuesten Modelle im Angebot hatte. Er würde
sich ein Paar Schuhe kaufen. Ein großartiger Einfall. Besser als Steakhaus oder
Vinothek.
Im
Schuhgeschäft sah er sich lange um. Es gab tolle Modelle. „Fußbetttechnologie“
und andere Fachbegriffe. Aber seine 124 Euro reichten nicht für die
Sportschuhe, die er gerne gehabt hätte. Seine Kreditkarte hatte er zuhause
gelassen. Eine Verkäuferin kam auf ihn zu und fragte, ob sie ihm helfen könne.
Er sah in ihre Augen und erinnerte sich für einen Augenblick an ein Gespräch,
das er mit seiner Ex-Freundin geführt hatte.
Sie
hatten sich Jahre nach der Trennung in einem Café getroffen und ein wenig
geplaudert. Sie war inzwischen verheiratet und hatte einen Sohn. Er hatte sie
an diesem Tag gefragt, welche Augenfarbe ihr Ehemann habe. Sie hatte
geantwortet, dass seine Augen blau seien. In Wirklichkeit waren sie grün. Er
hatte sich über ihre Antwort lustig gemacht, bis es ihm selbst peinlich wurde.
Und darüber hinaus. Wie ein Zwölfjähriger.
Die
Augen der Verkäuferin waren grün mit winzigen schwarzen Punkten. Kiwi-Augen. Viele
verwechseln hellgrüne Augen mit blauen Augen und dunkelgrüne Augen mit braunen
Augen. In Deutschland gibt es viel mehr Menschen mit grünen Augen, als man
denkt. Er schüttelte den Kopf. Nein, sagte er, Sie können mir nicht helfen.
Dann verließ er das Sportgeschäft.
Auf
dem Weg nach Hause setzte ein feiner Nieselregen ein. Nicht stark, aber
beständig. Als er seine Wohnungstür aufschloss, war er nass bis auf die Haut.
Bob Marley - Satisfy My Soul. https://www.youtube.com/watch?v=jAdBJu7qWwQ
Samstag, 17. Oktober 2020
Candyman Stan und der Smoothie des Todes
Blogstuff 504
„So lange der Mensch nicht im Höchsten frei, bei
sich, selbständig ist, so lange kann er auch in Kunst und Wissenschaft nicht
das Höchste erreichen.“ (Ludwig „Wigerl“ Feuerbach)
Es ist
nicht nur das Vermögen ungleich verteilt, sondern auch Schönheit und
Intelligenz.
Wenn
man lange genug im Hunsrück gelebt hat, denkt man bei Share-Holder an den
Frisör und bei Hofdame an die Bäuerin.
Wie
war das nochmal? Abstand halten + Nasen-Mund-Schutz tragen + App installieren +
Lüften (ANAL).
Wieso
streiken die Krankenschwestern und Kindergärtnerinnen? Manager sieht man nie
streiken.
Die
neuen Öko-Batterien sind super. Die werfe ich einfach auf den Komposthaufen.
Brunch
heißt auf Deutsch Frittagessen. (Dauert ein bisschen)
Zu
wenig Frauen in der Forschung? Ich sage nur: FRAUnhofer-Institut.
Zu
wenig Frauen in den Medien? Was ist mit der Bachelorette und den Trucker-Babes?
Ich
gebe es zu. Als ich jung war, habe ich einige Jahre in der Pornoindustrie
gearbeitet. Aber für die Sexszenen hatte ich ein Double.
Hätten
Sie’s gewusst? In Bingen steht die älteste deutsche Steinbrücke des
Mittelalters. Die Drususbrücke aus dem 11. Jahrhundert kann heute noch befahren
werden, im Gegensatz zu manchen „modernen“ Brücken.
Ich
habe mal ein Praktikum bei einem Sniper gemacht. Fand ich nicht gut. Viel zu
stressig. Ich dachte, ich sitze im Büro und recherchiere Opfer oder so. Aber es
war echt gefährlich. So ein Scharfschützengewehr ist komplizierter als ein
Legobausatz.
Was
mir nach der Rückkehr aus Berlin auffällt: Hier im Dorf leben die Kinder
anders. Ein kleines Mädchen kommt mir auf dem Weg zur Hauptstraße mit ihrem Puppenwagen
entgegen und grüßt freundlich. Drei Jungs spielen Fußball auf der Straße. Sie
schießen den Ball in meinen Garten und klingeln, um mich zu fragen, ob sie den
Ball holen können. Keine Aufsichtsperson, alles ganz entspannt.
Die
Tage werden kürzer, das Wetter schlechter und man bleibt wegen Corona ohnehin
gerne zuhause. Warum nicht etwas Exotisches kochen? Gerichte aus längst
vergangener Zeit? Schlesisches Himmelreich zum Beispiel. Geräucherter
Schweinebauch mit Klößen und Backobst. „Kließla, Fleesch und Tunke“, wie die
Schlesier*innen es nannten. Danach „Berliner Luft“, eine Dessertcreme mit
heißen Himbeeren.
Dark
Minimal Cold Synth Wave Compilation 2019. https://www.youtube.com/watch?v=XMkEEKvdI9U
Montag, 5. Oktober 2020
Das Transferfenster schließt um Mitternacht
Bonetti
Media ist es kurz vor Schließung des Transferfensters gelungen, noch einige
wichtige Journalisten unter Vertrag zu nehmen:
·
Julian Reichelt wechselt ablösefrei von BILD in die Abteilung
Rasenpflege unseres Konzerns. Die perfekte Halmlänge zwischen Zentrale und
Parkplatz gehört zu seinen zukünftigen Aufgaben.
·
Ulf Poschardt wird ab nächster Woche in unserer Tiefgarage die Limousinen des
Managements waschen. Außerdem darf er exklusiv die Aschenbecher leeren und das
Wageninnere saugen.
·
Roland Tichy hat eine neue Aufgabe im Küchenbereich gefunden. Er ist
für zwei Jahre von „Tichys Einblick“ ausgeliehen. Für ihn werden zwei
pakistanische Tellerwäscher zu den Tottenham Hotspurs gehen müssen.
·
Gabor Steingart darf die Yacht von Andy Bonetti betreuen. Seine
Bezahlung besteht zu fünfzig Prozent aus gewagten Vergleichen und Metaphern, zu
fünfzig Prozent aus heißer Luft.
Sonntag, 4. Oktober 2020
Bloggertraum
Jetzt
habe ich zum ersten Mal von mir selbst als Blogger geträumt. In diesem Traum
fahre ich auf einen Hof, der von mehrstöckigen Wohnhäusern umgeben ist. Neben
mir sitzt eine Frau am Steuer, die ich nicht kenne, und ich weiß auch nicht,
was wir hier wollen. Als ich aussteige, klettert eine andere Frau an der
Fassade auf einer Leiter herunter. Auf dem Rücken trägt sie ein Kleinkind. Das
Kind lässt etwas fallen, das in tausend kleine Teile zerspringt. Die Mutter des
Kindes ruft mir zu, ich solle ihr beim Aufsammeln helfen. Also sammle ich die
Teile, es sind hellgraue Legosteine, für sie ein. Ein junger Mann mit
verwuscheltem Haar und Bart, Typ Student, kommt auf mich zu und sagt, er würde
mein Blog kennen. Er fände meine Texte gut und wolle mir ein paar von seinen eigenen Texten zuschicken. Er sei an meiner Meinung interessiert. Ich sage, er könne
sie mir per Mail schicken, aber er besteht darauf, sie im handgeschriebenen
Original per Post zu schicken. Ich will ihm meine Adresse geben, aber er sagt,
es genüge, wenn er „Kiezschreiber, Schweppenhausen“ auf den Umschlag schriebe.
Ich bezweifle, dass unsere Briefträgerin im Dorf mich unter diesem Namen kennt,
aber er lächelt nur und sagt, da sei er ganz sicher. Dann geht er und ich gebe
der Frau die aufgesammelten Legosteine. An dieser Stelle endet die Traumsequenz. Nach dem
Aufwachen denke ich: Warum schreibt er nicht an „Andy Bonetti, Chefdirektor der
Herzen“? Das kommt immer an. Bonetti, der Global Player, der immer menschlich
geblieben ist.
https://twitter.com/DickKingSmith/status/1310611940868325381