Freitag, 31. Juli 2020

Warum wir nicht mehr auf den Auslöscher drücken sollten


Neulich saß ich mit ein paar Freunden auf der Terrasse eines Restaurants und wir sprachen über unsere Reisepläne. Wir stellten fest: Es gibt keine. Alle bleiben in diesem Sommer zuhause und selbst für den Herbst sind bestenfalls Wochenendausflüge geplant. Keiner hat in diesem Jahr in einem Flugzeug gesessen, keiner hat ein Hotel gebucht. Diverse Reisen sind natürlich wegen Corona storniert worden, aber ich konnte ein generelles Desinteresse am Reisen feststellen.

Vielleicht liegt es an unserem Alter. Wir haben schon alles gesehen. Nimmt man die vergangenen Reisen aller Beteiligten zusammen, ist die Weltkarte fast komplett. Nord-, Mittel- und Südamerika, Karibik, Nord-, Ost- und Südafrika, Russland, China, Japan, Indien, Australien, Indonesien und Europa sowieso komplett. Jetzt erzählen mir die Leute von der „rheinhessischen Toskana“ oder dem Rheingau. Ich selbst war seit acht Jahren nicht mehr im Ausland und ich habe – Pandemie hin oder her – nicht das geringste Interesse, mich in den nächsten Jahren wieder auf den Weg zu machen.

Es bleiben die Erinnerungen. Dabei habe ich festgestellt, dass ich keine Fotografien von meinen Reisen habe. Die Ausnahme sind drei Prag-Reisen in den Achtzigern, als ich mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen Kafkas Welt dokumentiert habe. Ich war auf der Golden Gate Bridge und der chinesischen Mauer, ich war im Louvre und im Kreml, ich habe Löwen und Elefanten in freier Wildbahn gesehen und im Amazonas-Dschungel übernachtet. All das habe ich nur als Bild im Gedächtnis, es gibt keine Fotos.

Die Menschen, mit denen ich unterwegs war, haben allerdings fotografiert und mir einige Bilder hinterlassen. Merkwürdigerweise sind es hauptsächlich Fotografien von mir. Mein Gesicht interessiert mich jedoch als Reiseeindruck am allerwenigsten. Schließlich sehe ich es sowieso jeden Tag im Badezimmer. Ich bin froh, dass ich meine Zeit nicht mit Fotografieren verschwendet habe. Viele Menschen investieren ihre Zeit und ihre Energie in Urlaubsfotos, anstatt den Anblick einfach zu genießen. Man kann sich die Zeit nehmen und eine halbe Stunde eine schöne Landschaft betrachten – oder man macht ein Foto und hetzt weiter. Schließlich hat man sie ja „im Kasten“.

Gar nichts hat man. Die kleinen Bilder, die man nach Hause mitbringt, vermitteln nichts von der wahren Größe und Schönheit eines Anblicks. Ich kann mich noch nach Jahrzehnten an einzelne Reiseszenen erinnern, weil ich schon auf der Reise wusste, dass mir nichts außer der Erinnerung bleiben würde. Diese Bilder habe ich immer bei mir, der verregnete Morgen auf dem französischen Campingplatz, als wir uns mit einer paar Flaschen Cinzano in mein Auto gesetzt und Musik gehört haben, während sich draußen die Côte d’Azur der versprochenen Postkartenidylle verweigerte, das nette Gespräch mit dem Rentnerpärchen in einem Waschsalon in Boston.

Was wird aus den vielen Urlaubsfotos? Bestenfalls werden sie einmal angeschaut und dann vergessen. Sie sind nur ein Surrogat. Wir können unser Gedächtnis nicht mit den Mitteln der modernen Technik auslagern. Mir helfen meine Notizen, die ich mir auf den Reisen mache. Ein paar Stichwörter, ein paar Sätze. Manchmal schreibe ich auch nach meiner Rückkehr ein paar Seiten. Wenn man Jahre später zufällig über diese Notizen stolpert, geht eine Tür auf. Der Abend in einem walisischen Pub, am Nachbartisch spricht man Gälisch. Allein auf den Stufen einer antiken Ruine auf Capri, weil man keine Lust auf die blaue Grotte hatte. Das kleine Kind im Zugabteil, das mir großzügig ein Stückchen von seiner Brezel anbietet.

Die Bilder, die wir in unseren Fotoalben und Handys haben, können uns nichts bieten, wenn es ums Reisen geht. Sie halten diese Momente nicht fest. Sie erzählen keine Geschichte, sie sagen nichts darüber aus, wie wir uns in diesem Augenblick gefühlt haben. Wenn man den Auslöser drückt, löscht man Erinnerungen aus.


Donnerstag, 30. Juli 2020

Drei Steine


Es kamen drei Steine geflogen

Ihr Name war einerlei

Sie flogen in hohem Bogen

Stein eins, Stein zwei und Stein drei


Live aus dem Literaturschlachthof Wichtelbach


Blogstuff 468

“Just because some of us can read and write and do a little math, that doesn't mean we deserve to conquer the Universe.” (Kurt Vonnegut)

Die Jahre von 33 bis 45 waren bei mir 1999 bis 2011 und ich habe sie nicht als finster in Erinnerung.

15. Juli 1984: Stefan Bellof gewinnt mit einem Porsche 956 das 1000-km-Rennen auf dem Nürburgring. Er gewann in diesem Jahr sechs von elf Rennen und wurde Sportwagen-Weltmeister. Mein erstes Autorennen. Ein Jahr später verlor er in der Eau Rouge in Spa sein Leben.

Peter Rühmkorf schrieb in sein Tagebuch: „Gefühl wiedermal von einem bis auf den Grund verfehlten Schriftstellerleben. Opus magnum ohne die mindeste öffentliche Resonanz; kein einziges Buch bislang in eine Fremdsprache übersetzt und bei Auslandsreisen als sozusagen Meisterbrief oder Diplom vorzuweisen; aufs Ganze gesehen nur 2112 Bücher in Hardcover erschienen und der Rest kleene Bändchen, Hefte.“ Die Kollegen hatten es also auch nicht einfach. 

Bei einer Hinrichtung in den USA macht man ein EKG mit erstaunlichem Ergebnis: Erst zwei Minuten später ist der Delinquent tot. https://en.wikipedia.org/wiki/John_Deering_(murderer)

Dreißig Jahre deutsche Einheit. Da wird man uns wieder die Geschichte der „friedlichen Revolution“ erzählen. War es eine Revolution? Wer waren die Köpfe der Revolution, welche Namen fallen uns ein? Wer wurde von den revolutionären Massen aufs Schild gehoben, welche grundlegenden Veränderungen gab es? Das sind die nüchternen Fakten: Das Volk wählte den blutleeren CDU-Bürokraten und Stasi-Spitzel Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten, statt Veränderungen forderten die angeblichen Revolutionäre ein Leben als Bundesbürger und die entsprechenden Verhandlungen führten ein Westdeutscher namens Kohl und ein Russe namens Gorbatschow. Wo ist der deutsche Danton, der deutsche Lenin oder der deutsche Che Guevara? Die DDR brach zusammen, der Staat wurde von den Machthabern aufgegeben. Es gab nie eine Revolution in Deutschland.

P.S.: Die SED hatte 2,3 Millionen Mitglieder. Über Nacht wurde, in bester deutscher Tradition, aus einem Volk von Mitläufern ein Volk von Widerstandskämpfern.

P.P.S.: Kein Politiker der Wende machte nach der Einheit in der Bundesrepublik Karriere (Ullmann, Weiß, Böhme, M. Merkel, Schorlemmer, Schnur, Bohley, Schult, Eppelmann, Lengsfeld, Reich usw.). Wer erinnert sich noch an das Neue Forum oder den Demokratischen Aufbruch? Günter Nooke von Demokratie Jetzt ging 1996 in die CDU und darf heute als „Afrikabeauftragter“ der Bundesregierung auftreten. Damit ist er der Erfolgreichste. Angela Merkel hatte mit dem Fall der Mauer nichts zu tun, ihre politische Tätigkeit begann im Februar 1990 in der Hauptgeschäftsstelle des Demokratischen Aufbruchs für den Stasi-Spitzel Schnur.

Thievery Corporation - The Outernational Sound. https://www.youtube.com/watch?v=fP_UJEniNhM


Mittwoch, 29. Juli 2020

Leise weht der Wind des Todes

Blogstuff 467

"Trinken ist wahrscheinlich sicherer als Sport. Da verletzt man sich nicht, man bekommt nur einen Kater!" (Kimi Räikkönen) 

Der typische AfD-Wähler ist in seinem Ausländerhass schizophren oder zumindest inkonsequent. Er will, dass die Migranten alle niederen Tätigkeiten erledigen, für die sich die Deutschen zu schade sind. Tellerwäscher, Putzfrau usw. Aber die Migranten sollen sich, nachdem sie stumm und klaglos ihre Arbeit verrichtet haben, unsichtbar machen. Am liebsten wäre es ihm, die Putzfrau würde morgens mit dem Flugzeug aus Istanbul kommen und nach Feierabend sofort zurückfliegen. Es ist dem Rechtsextremisten unerträglich, den Migranten in einem Geschäft zu begegnen oder im Restaurant am Nebentisch zu sehen. Sein Albtraum ist die schwarze Familie, die im Nebenhaus einzieht.

Breslau 1924: Egon Erwin Kisch erfindet die Kisch-Lorraine.

Letzten Freitag stand ich im Supermarkt vor dem Regal mit Zeitungen und Zeitschriften. Da überkam mich plötzlich der verrückte Einfall, zum ersten Mal seit Jahren wieder eine Tageszeitung zu kaufen. Ich lese gerade einen Roman von Max Hermann-Neiße, der 1920 veröffentlicht wurde. Da sitzen Leute in Cafés und lesen Zeitung. Vielleicht probiere ich das auch mal? Es ist neun Uhr morgens und alles, was REWE zu bieten hat, ist die BILD und das Regionalblatt. Und ein einziges Exemplar der Süddeutschen Zeitung. Keine FAZ, keine Welt, keine Taz, nix. Ich nehme es in die Hand und bin erschrocken, wie dünn es ist. Richtig mager. Früher waren die großen Tageszeitungen dick und schwer. Die Samstagsausgabe der FAZ mit den Stellenanzeigen wog mindestens ein Kilo. Und jetzt dieses schwindsüchtige Blättchen. Dann der Preis: 3,50! Barilla Nudeln sind gerade für 69 Cent im Angebot. Dafür kriege ich zweieinhalb Kilo Nudeln! Natürlich habe ich sie wieder zurückgelegt. Das ist doch Wahnsinn. Für umgerechnet sieben Mark hat man früher einen ganzen Roman bekommen.

"Schafft eure verdammten Ärsche aus der Scheiß-Kiste. Los, los, los, Beeilung! Ich gebe euch Feuerschutz." Wenn man als Actionfilmfan seine Kinder zur Schule bringt.

Natürlich wird es Flugtaxis geben. Aber sie werden einen halben Meter über der Straße fliegen und sich an die Verkehrsordnung halten müssen. Alles andere wäre in Deutschland zu kompliziert.

“Andy Bonetti – bewaffnet und gefährlich“. In diesem Action-Thriller genießt Bonetti das privilegierte Leben eines tadschikischen Aristokraten, der durch eine verlorene Wette gezwungen wird, ein Jahr in einem saarländischen Ghetto zu verbringen. – Gelungene Persiflage auf das Subgenre der Crossover-Multikulti-Dramödie.

Jede Weinflasche ist eine Metapher, pure Metaphysik. Sie kommt voll auf die Welt, leert sich allmählich und landet am Ende im Müll, weil sie nutzlos geworden ist.

Letztlich unterliegen auch die Verschwörungsideologen den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie. Wer die absurdesten Ideen hat und am lautesten schreit, schafft es in den Blickpunkt der Medienöffentlichkeit. Augenblicklich sind das Attila Hildmann und die QAnon-Bewegung, dessen deutscher Botschafter Xavier Naidoo heißt.

David Bowie & Brian Eno - Moss Garden. https://www.youtube.com/watch?v=w4YO4RJjm8E

 


Dienstag, 28. Juli 2020

Saloonkomponisten

Blogstuff 466

Sie werden schon sehen, dass jede Epoche die Epidemie hat, die sie verdient. Jeder Zeit ihre Pest. (Ödön von Horvath)

Er lachte wie einer, der sich mit dem Lachen beeilen muss.

Den ganzen Nachmittag in seinem Kinderzimmer bekifft Marillion hören und unglücklich in Renate aus der 9b verliebt sein, das sind die Achtziger in einem Satz.

Heute steht uns der gesamte Erdball zur Verfügung, wenn wir uns an einem anderen Ort vergnügen wollen als zuhause – sofern wir den Segnungen des Wohlstands teilhaftig geworden sind. Aber das war es auch schon. Wir kennen den ganzen weiten Weg bis zu den Gitterstäben, aber die Welt außerhalb dieses Planeten bleibt uns verschlossen. Nur eine Handvoll Menschen hat vor Jahrzehnten einmal den lächerlich nahen Mond erreicht, vom Rest des Sonnensystems und des Universums quasseln wir nur. Wir bleiben Gefangene, die sich selbst den Käfig bis zum Hals zuscheißen.

Seine Druckerei hatte sich auf hochwertige Schmuckbinden für Zigarren spezialisiert und mit dem Niedergang der Rauchkultur ging es auch mit seinem Geschäft bergab. Und so wanderte er eines Tages nach Irland aus und wurde Whiskeybrenner.

Wieso glauben wir eigentlich, tiefgreifende Veränderung könne es nur ohne Gewalt geben? Wie viele Leute musste man in Frankreich köpfen, bis sich die Demokratie durchgesetzt hat? Wie viele Nazis mussten erschossen oder aufgehängt werden, bis man in Deutschland eine Demokratie aufbauen konnte? Welches Imperium ist ohne Krieg entstanden?

Früher hatten die alten weißen Männer ihren Hobbykeller, jetzt haben sie Twitter, FB und den Kommentarbereich diverser Medien. Weil sie alle beratungsresistent und im Besitz ewiger Wahrheiten sind, sind ihre Diskussionen auch so fruchtlos. Sie wollen sich nicht überzeugen lassen, sie wollen überzeugen und Recht behalten. Ein ewiges Armdrücken auf intellektuell extrem niedrigem Niveau.

Beim Boxen heißt Burn Out technischer K.o.

Schade, dass wir nicht in einem Film sind, sondern im echten Leben, sonst kämen jetzt Luftballons von der Decke.

„Die Welt“ von Porsche-Poschardt hat eine verkaufte Auflage von 51.000 Exemplaren pro Tag. Da werden sich einige “Wurstblattpoeten” (Max Hermann-Neiße) bald einen neuen Job suchen müssen.

Höcke hat ein Gesicht wie ein steckbrieflich gesuchter Sittenstrolch, dazu die Völkermordvisage von Kalbitz – da braucht man im Wahlkampf gar keine Parolen mehr, man erkennt sofort, wohin die Reise mit der AfD geht.

Empire Of The Sun - We Are The People. https://www.youtube.com/watch?v=hN5X4kGhAtU

 


Montag, 27. Juli 2020

Das Höllenreich der Mitte

Nirgends ist das Leben trauriger als in der Mittelschicht. Eigentlich ist es in Deutschland nur unten oder oben auszuhalten, dazwischen liegt das Höllenreich der Mitte. Natürlich würde ich mich im Zweifelsfall für ein Leben in der Oberschicht entscheiden, aber wenn das nicht klappt – und so geht es vermutlich vielen Menschen –, dann würde ich ein Leben in der Unterschicht vorziehen.

Leistung und Disziplin sind die prägenden Begriffe für die Welt der Mittelschicht. Sie sind in einem permanenten Kampf gegen den Abstieg gefangen, sie leben in ständiger Angst vor dem Absturz. Die Firma macht Pleite und man wird plötzlich arbeitslos. Die Lücke im Lebenslauf als Makel. Die teure Scheidung. Der Verlust des Eigenheims. Die Suchtkrankheit. Überall lauern die Gefahren für den bürgerlichen Lebensstil. Ständig muss man an sich arbeiten, an seiner Karriere, an seinem Körper, an seiner Biographie. Man darf sich keinen einzigen Augenblick der Disziplinlosigkeit leisten. Die Fassade muss gegenüber anderen Angehörigen der Mittelschicht ständig aufrechterhalten werden: Welches Auto fährst du? Wo warst du im Urlaub? Auf welche Schule geht dein Kind?

Der Prolet hat eine Arbeit oder er hat keine. Er hat keine Angst vor dem Arbeitsamt, andererseits hat er auch keine Hoffnung auf eine Karriere. Er lebt von der Hand in den Mund und das ist, bei aller Armut, auch ungeheuer befreiend. Er hat nichts zu verlieren. Diese Angst ist der Mittelschicht vorbehalten. Der Reiche wiederum kennt keine Arbeit und keine Angst vor dem Abstieg. Er hat ein schönes Erbe erhalten und lebt von Mieteinnahmen und Dividenden. Oben und unten ist das Dasein auf die gleiche Weise unbeschwert, wenn es auch in der konkreten Ausprägung nicht unterschiedlicher sein kann.

Sehen wir uns die öffentlichen Debatten an: Die großen Themen wie Emanzipation, Ökologie, Rassismus, Lebensstil und Moral im Allgemeinen sind reine Mittelschichtveranstaltungen. Unterschicht wie Oberschicht leben hingegen völlig ungeniert. Sie sind frei von dieser calvinistischen Strenge, mit der sich die Mittelschichtangehörigen gegenseitig quälen und überwachen. Migranten bezeichnen sich gegenseitig fröhlich als Kanaken, die fünffache Mutter mit Kopftuch kann ihrem Mann das Leben so zur Hölle machen, dass er sich freiwillig in die Shisha-Bar verzieht.

Arbeitslosigkeit, fehlende Rücklagen für das Alter, Alkohol zu jeder Tageszeit oder Vorstrafen wegen Drogen? Ganz unten lebt es sich unbeschwert. Ehebruch, Mülltrennung – da pfeif ich drauf. Ich mache, was ich will. Elektroautos und Gendersternchen waren im Proletariat nie ein Thema. Genauso sieht es bei den Bonzen aus. Wer braucht Moral, wenn er Geld hat? Maserati fahren und das Kindermädchen vögeln, Steuern hinterziehen und Pelzmäntel kaufen. Fertig ist die Laube.

Die Mittelschicht, das ist die Hölle. Niemand ist unfreier und unglücklicher als ein Büroangestellter, der die Eigentumswohnung abstottern muss und die Grünen wählt. Dann beschimpft er die Kindergärtnerin als Rassistin, weil sie eine Indianerparty für die Kinder veranstaltet, denn dieses Gefängnis aus totalitären Glaubensgrundsätzen und Verhaltensmaßregeln macht ihn aggressiv. Wer möchte denn so leben?

Samstag, 25. Juli 2020

Bloggen am Limit


Blogstuff 465

“Ich habe eine Nacht im Auto geschlafen, weil meine Frau gedacht hat, ich wäre vom Teufel besessen, nur weil ich in eine Chilischote gebissen hatte.“ (Helmut Kohl)

In einem Artikel zur aktuellen Sinus-Jugendstudie heißt es: „Hauptsache, normal und sicher: Die Jugend von heute wünscht sich, in der Mitte der Gesellschaft zu stehen und bürgerlicher Durchschnitt zu sein.“ Arbeit und Familie. Willkommen bei der Generation Amthor. 

Ich habe Zeit / Ich habe keine Zeit. Offenbar geht es um Besitz. Wer keine Zeit hat, ist ein armes Schwein.

Ich weiß nicht, ob es am neuen tschetschenischen Koch in der Kantine liegt, aber inzwischen haben so viele Redakteure von Bonetti Media Reizdarmsyndrom, dass praktisch alle Arbeitsplätze in der Nähe der Toilette sind.

„Die linke Hand lässt sich besser aufhalten.“ (Sigmar Gabriel)

Bonetti ist Gesamtsieger in der Kategorie Kundenzufriedenheit (Focus 27/2020). Wir bedanken uns für Ihr Vertrauen. Mit der Bonetti-Kundenkarte bekommen Sie jetzt drei Prozent Rabatt auf die Mehrwertsteuer in jedem Geschäft.

Schwarzer Humor, schwarze Materie, Schwarzarbeit, Schwarzmarkt, Schwarzwald, Schwarzmalerei, Schwarzlicht und Schwarzfahren – wo bleibt der Aufschrei gegen diese Verunglimpfung der afrodeutschen Bevölkerung? Boykottiert Schwarzkopf-Shampoo!

Haben sich die Nasenlöcher und die Ohren eigentlich im Lauf der Evolution an die menschlichen Finger angepasst oder war es umgekehrt?

Seit Jahren bin ich Stammgast diverser Kneipen und Restaurants und jetzt bin ich ein Fall für die Gastrologie. Findet das Universum das etwa witzig?!

„Bisher sehe ich auf deinem Einkaufszettel nur Hackfleisch, Salami, Käse und Schokolade. Denk doch mal an Obst und Gemüse! Was ist mit den Vitaminen?“ - *Schreibt „Zitronenkuchen“ auf den Zettel*

Hätten Sie’s gewusst? Neugeborene Pygmäen haben dieselbe Hautfarbe wie europäische Babys. Außerdem kommen sie mit glatten Haaren auf die Welt. Nach einigen Wochen verdunkelt sich ihre Haut und die glatten Haare fallen aus.

In einer schmalen Gasse, die vom Marktplatz zur Stadtmauer führt, steht ein kleines Haus. Jeden Samstagabend stieg er die steilen, dunklen Holztreppen hinauf, um seinen Freund Max zu besuchen, der in einem winzigen Mansardenzimmer unter dem Dachgiebel hauste. Max war von der Schule geflogen, aber seine Freunde besuchten ihn gerne, denn er hatte aufregende Bücher, die ihnen allen unbekannt waren. An diesem Abend las er aus Charles Bukowskis „Fuck Machine“.   

Gorillaz - Feel Good Inc. https://www.youtube.com/watch?v=HyHNuVaZJ-k

 

 


Freitag, 24. Juli 2020

Pantoffelhelden des Widerstands


“Hilde!”, rief er aus seinem Arbeitszimmer. „Hilde!“

Seine Frau kam aus dem Wohnzimmer und lehnte sich an den Türrahmen. „Ach, Dieter, jetzt schrei doch nicht so. Was gibt’s denn?“

„Der Benno hat mich schon wieder beleidigt. Verschwörungstheoretiker hat er mich genannt. Und der Wodarg wäre ein Scharlatan. Dabei ist der Arzt.“

„Musst du bei dem schönen Wetter den ganzen Tag vor deinem Computer sitzen? Komm doch raus auf den Balkon. Oder mach wenigstens mal das Fenster auf. Man erstickt ja in diesem Mief.“

„Auf den Kommentar muss ich antworten. Ich habe da ein paar neue YouTube-Videos. Da Leute kapieren es einfach nicht. Ich bringe hier Fakten, Fakten, Fakten und die ganzen Schlafschafe können nix außer persönliche Angriffe. Ad hominem, sage ich nur, ad hominem.“

„Ja, das ist jetzt dein neuer Lieblingsausdruck. Und die Schutzmaske ist der Gesslerhut. Von wegen Wilhelm Tell. Das hast du mir schon hundert Mal erzählt. Wie kann man nur sein ganzes Leben im Internet verbringen? Was ist denn eigentlich mit deiner Gitarre? Du wolltest doch mal wieder üben?“

Dieter schwieg und fing verbissen an zu tippen. Benno, Tunix, Gramsci, Fidel und wie sie alle hießen. Seine Freunde aus dem Netz. Alle Opfer der Medienpropaganda. Staatsfunk und Internetseiten, die von Bill Gates finanziert waren. Marionetten des Systems. Abtrünnige. Verräter.

Mit der Gitarre war es auch vorbei. Er war jetzt siebzig. Gicht, Rheuma, Rücken, Blutdruck. Einfach alles. An Gitarre war gar nicht zu denken. Sweet Home Alabama, sein Lieblingsstück. Angeblich rechts, behaupteten irgendwelche jungen Leute. Durfte man nicht mehr bringen. Er hatte es vierzig Jahre lang gespielt, aber natürlich nie auf den Text geachtet. Von Lynyrd Skynyrd wusste er auch nichts, außer dass sie einen merkwürdigen Bandnamen hatten.

Die jungen Leute heutzutage. Die haben doch keine Ahnung. Er war 1968 dabei gewesen. Wenn auch nur in Gütersloh. Dann kam der Radikalenerlass. Aber er war nie irgendwo Mitglied gewesen. Ehrensache als Anarchist. Also entkam er mit knapper Not dem Berufsverbot und hatte vierzig Jahre im Grünflächenamt gearbeitet. Aktiver Umweltschutz. 1975 der Summer of Love, als er Hilde kennenlernte. Mit dem Rucksack durch Griechenland. Wahnsinn! Haste mal ‘ne Drachme, Alter?

Wo war denn jetzt die Datei mit der URL von dem Video? Er musste hier mal dringend Ordnung machen. Eigentlich hatte er ja jede Menge Zeit. Kinder aus dem Haus, Schäfchen im Trockenen, Haus längst abbezahlt und die Rente kam pünktlich. Aber sein Zimmer sah aus, als wäre er fünfzehn und hätte ADHS plus Messi-Syndrom.

Diesen Kommentar noch, dann gucke ich nochmal bei den Blogs der Spielplatzrebellen und von Flattermann Schwammkopf vorbei, dachte er. Und dann gönne ich mir ein Bierchen auf dem Balkon. Was Hilde wohl zum Abendbrot macht? Wo sind denn meine Pantoffeln?

David Bowie - What in the World. https://www.youtube.com/watch?v=gLTFedtVXdY

 


Mittwoch, 22. Juli 2020

The Newsmaker


Chilly Lemmons. Klingt nach einem Cocktail oder wenigstens nach einer Sängerin. Aber sie arbeitete als Kellnerin. Chilly hatte ein winziges Kellerzimmer, über dessen Wände hundert Jahre alte Kakerlaken krochen. Die Decke war so hoch, dass man sie nicht sehen konnte, und vor dem einzigen Fenster rumpelte und kreischte alle fünf Minuten eine U-Bahn vorbei. Es war ein verdammt tiefer Keller.
Von acht Uhr abends bis zum Morgengrauen bediente sie im Madison Queer Garden in Neukölln. Sie hatte mal die Kotze von Sido aufgewischt, das war ein Highlight ihrer Arbeit gewesen. Ansonsten hingen hier die Leute rum, die Künstler werden wollten, aber noch immer nicht bemerkt hatten, dass sie es nicht schaffen würden.
Früher hatte der Laden schon am Nachmittag auf, aber irgendwann saß an jedem Tisch ein bärtiges Holzfällerhemd mit Dutt vor seinem Macbook und schrieb an einem Roman. Alle zwei Stunden bestellte es einen neuen Chai Latte oder ein Fläschchen Club-Mate, an dem es endlos herumnuckelte. Das war ein deprimierender Anblick und brachte keinen Umsatz.
Nachts bevölkerten Leute wie Señor Coucho die Bar. Er war über vierzig und hatte seinen Stolz längst abgelegt. Das Job-Center bezahlte seine Miete, seine Krankenkasse und ein kleines Taschengeld, das für Brot und Käse reichte. Sein drei Zentner schwerer Leib war mit Tätowierungen wie „All Sachbearbeiter Are Bastards“ und „Socialismo o muerte“ dekoriert. Den Alkohol verdiente er sich mit Gemälden, die er aus Internetfotografien destillierte, meistens grotesk vergrößerte Details von Graffiti oder Berliner Straßenszenen, die in rostiges Eisen gerahmt wurden.
Der dritte White Russian verbreitete gerade Wärme in seinem Bauch und Zuversicht in seinem Herzen, als MC Feinripp an seinen Tisch trat. Er hatte wie immer sein Basecap aus schwarzem Leder auf, die er nur zum Schlafen ablegte, damit niemand seine Halbglatze sah. In guten Zeiten hatte er in Clubs Platten aufgelegt, aber die Zeiten waren nicht gut. Seine Eltern in Westdeutschland zahlten die Miete und den Rest finanzierte er mit der Grasplantage in seiner Wohnung.
„Welch seltener Glanz in unserer bescheidenen Jurte“, begrüßte ihn Señor Coucho und wies mit einer großzügigen Geste auf den Stuhl gegenüber.
„Was bekomme ich denn für diese kostbaren Gewürze?“ fragte MC Feinripp und wedelte mit einem durchsichtigen Plastikbeutel, während er sich setzte.
Señor Coucho ließ den Beutel in den weiten seines bunt gemusterten Ponchos verschwinden und sagte: „Du hast dir gerade einen Zwanzig-Euro-Bonus erworben.“
Schon stand Chilly Lemmons an ihrem Tisch. Hellblaue Kurzhaarfrisur, schwarzes Top und eine Hose aus Schlangenhautimitat.
Gut gelaunt gab der König des Gartenbaus einen Zombie in Auftrag.
Chilly hob eine Braue. „Ist bei dir der Wohlstand ausgebrochen?“
Er grinste nur. „Der Durst kann Berge versetzen. Usbekisches Sprichwort.“
Als sie wieder allein waren, setzte MC Feinripp eine Verschwörermiene auf und senkte die Stimme. „Wir haben jetzt endlich eine Location für die Party gefunden. Todsichere Sache. Garantiert ohne Bullen und Stress.“
***
Josef Nothnagel betrat das Büro des Chefs. Bonetti zündete sich gerade eine Cohiba mit einem Hundert-Zloty-Schein an.
„Nothnagel, wie lange arbeitest du jetzt für mich?“
„Vier Wochen.“
„Warst du schon mal am Westhafen?“
„Nie gehört.“
„Schreib dir mal auf: Lise-Meitner-Straße 45. Direkt am Kanal. Da gehst du zum Chef, der heißt Toni. Du sagst, Andy schickt dich. Dann weiß er Bescheid. Wir mieten die Halle für eine Nacht. Nächste Woche Samstag.“
Als Nothnagel gegangen war, griff Bonetti zum Telefonhörer. „Paule, wir machen das. Für eine Nacht lässt du deinen Club wieder leben. Miete geht auf meine Kappe, dafür habe ich die Story exklusiv. Sag deinen Leuten, sie können die Buschtrommeln anwerfen. Feinripp, Cleopatra und wie sie alle heißen. Erster August. Die Leute sollen mit dem Taxi kommen, ich will da keine Autos stehen sehen. Kann ja sein, dass doch mal ein paar Streifenhörnchen vorbeikommen.“
***
Sonntagabend. Auf Bonettis Schreibtisch begann das Whiskyglas zu vibrieren. Die Druckmaschinen wurden gerade angeworfen. Am Montag würde „The Underground“, Bonettis neues Boulevardmagazin, mit daumendicken Buchstaben auf der Titelseite erscheinen: „DEUTSCHLANDS FETTESTE CORONA-PARTY“. Mit einer tanzenden Chilly Lemmons in Großaufnahme.
Wenn man die Nachrichten selbst macht, gibt es nur Gewinner. Chilly hat zweihundert Euro für das Foto bekommen, die DJs haben Geld verdient, Paule und seine Crew vom „SadoMaso“ in Friedrichshain haben ohne Ende Getränke verkauft, Señor Coucho hat sich frisches Bildmaterial besorgt und zweitausend Partygäste hatten einen Riesenspaß.
Señor Coconut - El Baile Aleman. https://www.youtube.com/watch?v=nGnFF5w5sro

Montag, 20. Juli 2020

Warum wir uns endgültig von der Linken verabschieden können


Die links angehauchte Berliner Bourgeoisie mit Diplom in Klugscheißerei rotiert mal wieder um ein paar Straßennamen, anstatt sich mit der wachsenden Armut in der Stadt zu befassen. In Bürgerinitiativen und an Antifa-Stammtischen, die von der weißen Mittelschicht dominiert werden, diskutiert man über die Mohrenstraße. Es gibt doch den Senatsbeschluss, bei Neubenennungen Frauennamen zu verwenden. Ich schlage Margaret-Thatcher-Straße vor.
Ulrich van der Heyden, Spezialist für die Kolonialgeschichte Afrikas an der FU Berlin, merkt zurecht an, dass der Kurfürstendamm in Berlin nach dem Brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620 – 1688) benannt wurde (1685 taucht der Name zum ersten Mal auf einer Karte auf), der ein Profiteur des Sklavenhandels gewesen ist. Kann also auch weg. Wie wäre es mit Petra-Kelly-Straße? Hauptsache, der kapitalistische Kommerzkarneval der Modeboutiquen und Juweliere bleibt unangetastet.
Pars pro toto zeigt diese Debatte, wie verkommen die Linke inzwischen geworden ist. Ich spreche nicht von der parlamentarischen Linken, dem munteren Denunziantenstadl im Berliner Reichstag, sondern von den Leuten, die sich – aus mangelnder Reflexion, fehlender Phantasie oder falsch verstandener Tradition – selbst als Linke bezeichnen. Die Wohlstandsgesellschaft im Prenzlauer Berg und in Kreuzberg, die Hammer und Sichel gegen Tofu und Fahrrad eingetauscht haben und sich ganz sicher sind, das sei der gesellschaftliche Fortschritt.
Das Feld der Politik, der eigentlichen Gestaltung, hat diese Linke längst den neoliberalen Parteien überlassen, die sie in Gestalt der Grünen häufig sogar selbst bei Wahlen unterstützt. Die Klimadebatte 2019 war vielleicht der letzte Versuch, noch einmal in der Welt der konkreten Gesetzgebung Fuß zu fassen. Die Ergebnisse waren mehr als ernüchternd, sie waren frustrierend. Trotz der mit hohem Aufwand betriebenen Demonstrationen und öffentlichen Debatten haben sie die Bastionen der Mächtigen nicht erstürmt, obwohl ihre Forderungen bescheiden genug waren: Kapitalismus mit ökologischem Antlitz. Hochnäsig wurden ihre Vorschläge auf St. Nimmerlein („2038“) verschoben.
Also wendet sich die linke Bourgeoisie anderen Projekten zu. Die Vertretung von Minderheiten wie Schwarzen, Transsexuellen oder Flüchtlingen. Gruppen also, die im Land der Angestellten und Rentner die kleinsten Puzzlesteinchen der Gesellschaft darstellen und keine Lobby haben. Ihr moralischer Puritanismus findet darüber hinaus sein Betätigungsfeld in jenen Bereichen, in denen er auf keinen Widerstand trifft: Geschichte, Kultur und Sprache. Mit Inbrunst macht man sich in akademischen Zirkeln an die Säuberung der Geschichte und der Literatur von Rassisten und Frauenfeinden, von Antisemiten und Sklavenhaltern. Sie stürzen sich auf Denkmäler und Straßenschilder, während die neoliberale Karawane seelenruhig weiterzieht. Der Bürger betrachtet derweil gelangweilt derlei Possen und Belanglosigkeiten, beißt in seinen Mohrenkopf und beschäftigt eine Gastarbeiterin als Putzfrau. Und so verabschiedet sich die Linke allmählich aus der Geschichte und der Politik.
Max Romeo - Chase The Devil. https://www.youtube.com/watch?v=WpIAc9by5iU

Samstag, 4. Juli 2020

Wir sind noch lange nicht am Tiefpunkt


Blogstuff 456
“You want to know something? We are still in the Dark Ages. The Dark Ages--they haven't ended yet.” (Kurt Vonnegut)
„Neom“ heißt eine geplante Stadt, die Saudi-Arabien für 420 Milliarden Euro am Roten Meer, unweit des Westjordanlands und des Gaza-Streifens, bauen will. Wäre es nicht eine großzügige Geste, wenn sich an diesem Ort auch Palästinenser ansiedeln dürften? Gelebte arabische Solidarität – vielleicht auch für Syrer und Iraker?
Stellen Sie sich vor, ein gescheiterter Stümper wie der Fleischereifachverkäufer Sigmar Gabriel schreibt ein Buch. Über irgendein Sonntagsredenthema wie Freiheit oder Nachhaltigkeit. Das liest natürlich kein Schwein. Aber es verkauft sich sehr gut. Es ist ein ideales Geschenk für eine Geburtstagsfeier oder Weihnachten. Der Schenker dokumentiert mit diesem Buch seine Seriosität, sein Interesse an öffentlichen Fragen und seinen Intellekt. Das ist viel besser als ein Restaurantgutschein oder eine Flasche Whisky, d.h. als Dinge, die wirklich Spaß machen. Der Beschenkte demonstriert beim Überreichen des Geschenks lebhaftes Interesse und erweist sich damit dem Schenker gegenüber als ebenbürtig. Natürlich wird er nie auch nur einen Blick hineinwerfen. Man hört doch dem Geschwätz der Politiker schon im Fernsehen nicht zu und so ein Buch verschlingt viele Stunden kostbarer Lebenszeit. Am liebsten würde er es gleich wegwerfen, bei Ebay vertickern oder weiterverschenken. Aber der Schenker kommt ja irgendwann wieder. Was ist, wenn er es im Bücherschrank nicht findet? Also entfernt man brav die Zellophanhülle, klebt einen Post-It-Zettel auf Seite 174 und stellt es in den Bücherschrank aus Pressspan in Eiche-Optik im Wohnzimmer.
In meiner Jugend gab es noch saftige politische Skandale, an die sich leider kaum noch jemand erinnert. Als Reagan Präsident war, gab es die „Iran-Contra-Affäre“. Die Amerikaner verkauften Waffen an den Iran, mit dem sie offiziell verfeindet waren. Mit dem Geld finanzierten sie die rechtsextremistische Guerilla in Nicaragua, die gegen die linke Regierung kämpfte. Die Guerilla wiederum finanzierte sich durch Kokainschmuggel in die USA – mit Wissen der CIA. Großes Kino! Am Ende musste nur ein kleiner CIA-Mitarbeiter ins Gefängnis, alle anderen kamen mit Bewährungsstrafen davon oder die Verfahren wurden eingestellt. Der in diesem Zusammenhang berühmt gewordene Militärberater Oliver North wurde im Anschluss Moderator von Fox News, republikanischer Kandidat für den US-Senat und Präsident der National Rifle Association.
Politiker der Gegenseite hängen ihr Fähnchen nach dem Wind. Die eigenen Leute sind Instinktpolitiker, wenn sie die Meinungsumfragen richtig deuten können.
Du brauchst nicht tausend Rubel, sondern tausend Freunde, lautet ein altes russisches Sprichwort. Im Kapitalismus gilt das nicht mehr. Kostenlose Hilfe durch Freunde ist entgangener Profit. Freundschaft trägt nichts zum Wirtschaftswachstum bei. Vereinsamung ist gut für den Konsum.
Kunden, die Sigmar Gabriel gekauft haben, kauften auch: Wolfgang Petry, Mario Basler, Rainer Brüderle und Oliver Pocher.
King Crimson – Nuages (That Which Passes, Passes Like Clouds). https://www.youtube.com/watch?v=9l3CZov4VKA

Donnerstag, 2. Juli 2020

König Klappstulle


König Klappstulle residiert in einem Chalet, das er eigenhändig auf einem Fundament aus Euro-Paletten errichtet hat. Die Wände sind aus Spanplatten, die Fenster aus Plastikfolie und das Dach besteht aus acht Motorhauben, die mit Eisenketten verbunden sind. Eine Matratze, eine Holztruhe, ein Tisch und ein bequemer Ledersessel bilden das Interieur. Auf dem Tisch befinden sich stapelweise Blätter voller Textfragmente und alte Zeitungen, auf deren Rändern er sich Notizen macht. Eines Tages wird er das Material zusammenfassen. Er wartet einfach auf den richtigen Zeitpunkt.
Die Sonne scheint und der Stullenkönig öffnet erwartungsfroh seine Tür, die früher tatsächlich mal eine Tür gewesen ist. Auf ihrer Vorderseite prangt ein großes H, offensichtlich gehörte sie mal zu einer Herrentoilette. Das Chalet steht in einem kleinen Birkenwäldchen und dieses Wäldchen steht wiederum auf dem Hof einer verlassenen Fabrik, die von hohen Backsteinmauern umgeben ist. Er wohnt hier ganz allein, denn ein schweres schmiedeeisernes Tor versperrt den Zugang zur Straße. Aber in einer Seitenmauer ist eine schmale Bresche, durch die man ein Gebüsch erreicht. Und auf der anderen Seite des Gebüschs ist der Parkplatz eines Baustoffhandels.
Hier ist der Stullenkönig ganz in seinem Element. Er macht auf der Mitarbeiter-Toilette an der Rückseite der riesigen Halle eine ausführliche Katzenwäsche und erledigt die vordringlichsten Geschäfte. Dann betritt er wohlgemut und erleichtert den Backshop an der Vorderseite.
„Wie immer?“ fragt die Verkäuferin.
„Wie immer“, sagt der König und lacht vergnügt.
Zwei Klappstullen vom Vortag. Eine mit Schinken, eine mit Käse. Dazu einen großen Pott Kaffee. Für ihn kostenlos. Dafür trägt er anschließend die Abfälle zum Müllcontainer und leert den Mülleimer vor der Tür.
„Was gibt’s Neues in der Welt?“ fragt er die Verkäuferin.
Sie erzählt ihm die kleinen und großen Dinge aus den Nachrichten.
König Klappstulle schüttelt den Kopf. Kein gutes Material. Es lohnt sich nicht darüber zu schreiben.
„Dann muss ich mir wohl wieder selbst was ausdenken“, sagt er zur Verkäuferin.
„Wann ist dein Buch denn endlich fertig?“ fragt sie ihn.
„Bald“, sagt er und beißt in die Käsestulle. „Bald.“
***
Sie sitzt am Fenster ihrer Wohnung. Dritter Stock, Hinterhof. Abends ist das Licht am besten. Auf der Leinwand entsteht ein Porträt von König Klappstulle. Die ausgefranste Jeans, die ihm viel zu groß ist, und die nur von Hosenträgern gehalten wird. Der dunkelrote Bademantel aus Frottee, der meistens offensteht. Manchmal trägt er auch einen schwarzen Frack. Sandalen im Sommer, Lederstiefel im Winter. Dazu seine bunten Inka-Mützen, von denen er einige hat. Dunkelbraune Locken, Vollbart. Sein Lächeln.
Sie hat schon einige Bilder gemalt. Sie kennt die Geschichten vom König Klappstulle nicht, aber sie stellt sich die Geschichten vor. Auf einem Bild ist auch der Backshop zu sehen, in dem sie tagsüber arbeitet. Andere Bilder zeigen die Stadt oder es sind Phantasielandschaften mit Tieren, die sie sich selbst ausgedacht hat. Manchmal kommt der König auch noch mal kurz vor Feierabend. Dann gibt sie ihm ein paar von den Sachen, die sie sowieso wegschmeißen muss. Nussecken und Schweineohren, Amerikaner und Puddingteilchen. Wenn sein Buch fertig ist, sind auch ihre Illustrationen fertig. Bisher hat sie ihm noch nichts davon erzählt.
Muddy Waters - Louisiana Blues. https://www.youtube.com/watch?v=mQAhLUnV1FU

Mittwoch, 1. Juli 2020

Herr Ober, ein neues Thema!


In diesem Sommer ist eine Debatte aus Amerika herübergeschwappt, die alle Merkmale einer Sommerlochdiskussion hat. Erstens führt niemand diese Debatte außer ein paar gelangweilten Journalisten und Leuten, die zu viel Zeit in den sozialen Medien verbringen. Zweitens vertritt niemand ernsthaft die Forderung, um die es geht. Drittens gibt es keine Chance, die Forderung umzusetzen.
Das Schlagwort der aktuellen Gespensterdebatte lautet „Abschaffung der Polizei“. In Minneapolis, dem Ausgangspunkt der BlackLivesMatters-Bewegung, wird es ernsthaft diskutiert, also glaubt man, wir müssten auch in Karlsruhe oder Regensburg darüber diskutieren. Kurze Antwort: Nein, müssen wir nicht.
Wir können und müssen über das Thema Rassismus diskutieren. Rassismus in unserer Gesellschaft und Rassismus in der Polizei als Teil dieser Gesellschaft. Wie viele Rechtsextremisten haben wir in Deutschland? Zehn Prozent der Bevölkerung? Fünfzehn Prozent? In dieser Größenordnung gibt es vermutlich auch Rechtsextremismus und Rassismus in der Polizei. Und bei den Chirurgen. Oder bei den Fernfahrern. Im Osten und im Westen. In den Großstädten und auf dem Land. Was wir brauchen: Strafverfolgung, Ermittlungen gegen Netzwerke. Da gibt es im Kampf gegen rechte Gewalttäter noch erhebliches Verbesserungspotential. An diesem Punkt lohnt es sich, die Diskussion langfristig weiter zu führen.
Zurück zum Thema: Wer fordert die Abschaffung der Polizei? Die freie Mitarbeiterin einer Zeitung mit bundesweit 49.000 verkauften Exemplaren täglich. Keine Partei, die im Bundestag vertreten ist. Keine der sechzehn Landesregierungen, denen bekanntlich die Polizei unterstellt ist. Und selbstverständlich auch nicht der Bundesinnenminister, dem die Bundespolizei unterstellt ist. Die Debatte wird nur an den digitalen Stammtischen geführt.
Warum wird es niemals einen Politiker geben, der die Abschaffung der Polizei fordert? Weil der Personenschutz für Politiker Aufgabe der Polizei ist. Es gab nie einen Staat ohne Polizei. Keine Polizei, kein Staat. Ganz einfach. Ende der Debatte. Herr Ober, ein neues Thema!
P.S.: Bonetti Media hat einen Katzenhai in einem Baggersee ausgesetzt. Wir verraten nicht, wo genau seine Rückenflosse demnächst das Badewasser teilt. Wir kriegen das Sommerloch schon klein.
Pink Floyd - A Saucerful of Secrets. https://www.youtube.com/watch?v=eEqPX-Z833Y