Neulich saß ich mit ein paar Freunden auf der Terrasse eines Restaurants und wir sprachen über unsere Reisepläne. Wir stellten fest: Es gibt keine. Alle bleiben in diesem Sommer zuhause und selbst für den Herbst sind bestenfalls Wochenendausflüge geplant. Keiner hat in diesem Jahr in einem Flugzeug gesessen, keiner hat ein Hotel gebucht. Diverse Reisen sind natürlich wegen Corona storniert worden, aber ich konnte ein generelles Desinteresse am Reisen feststellen.
Vielleicht liegt es an unserem Alter. Wir haben schon alles gesehen. Nimmt man die vergangenen Reisen aller Beteiligten zusammen, ist die Weltkarte fast komplett. Nord-, Mittel- und Südamerika, Karibik, Nord-, Ost- und Südafrika, Russland, China, Japan, Indien, Australien, Indonesien und Europa sowieso komplett. Jetzt erzählen mir die Leute von der „rheinhessischen Toskana“ oder dem Rheingau. Ich selbst war seit acht Jahren nicht mehr im Ausland und ich habe – Pandemie hin oder her – nicht das geringste Interesse, mich in den nächsten Jahren wieder auf den Weg zu machen.
Es bleiben die Erinnerungen. Dabei habe ich festgestellt, dass ich keine Fotografien von meinen Reisen habe. Die Ausnahme sind drei Prag-Reisen in den Achtzigern, als ich mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen Kafkas Welt dokumentiert habe. Ich war auf der Golden Gate Bridge und der chinesischen Mauer, ich war im Louvre und im Kreml, ich habe Löwen und Elefanten in freier Wildbahn gesehen und im Amazonas-Dschungel übernachtet. All das habe ich nur als Bild im Gedächtnis, es gibt keine Fotos.
Die Menschen, mit denen ich unterwegs war, haben allerdings fotografiert und mir einige Bilder hinterlassen. Merkwürdigerweise sind es hauptsächlich Fotografien von mir. Mein Gesicht interessiert mich jedoch als Reiseeindruck am allerwenigsten. Schließlich sehe ich es sowieso jeden Tag im Badezimmer. Ich bin froh, dass ich meine Zeit nicht mit Fotografieren verschwendet habe. Viele Menschen investieren ihre Zeit und ihre Energie in Urlaubsfotos, anstatt den Anblick einfach zu genießen. Man kann sich die Zeit nehmen und eine halbe Stunde eine schöne Landschaft betrachten – oder man macht ein Foto und hetzt weiter. Schließlich hat man sie ja „im Kasten“.
Gar nichts hat man. Die kleinen Bilder, die man nach Hause mitbringt, vermitteln nichts von der wahren Größe und Schönheit eines Anblicks. Ich kann mich noch nach Jahrzehnten an einzelne Reiseszenen erinnern, weil ich schon auf der Reise wusste, dass mir nichts außer der Erinnerung bleiben würde. Diese Bilder habe ich immer bei mir, der verregnete Morgen auf dem französischen Campingplatz, als wir uns mit einer paar Flaschen Cinzano in mein Auto gesetzt und Musik gehört haben, während sich draußen die Côte d’Azur der versprochenen Postkartenidylle verweigerte, das nette Gespräch mit dem Rentnerpärchen in einem Waschsalon in Boston.
Was wird aus den vielen Urlaubsfotos? Bestenfalls werden sie einmal angeschaut und dann vergessen. Sie sind nur ein Surrogat. Wir können unser Gedächtnis nicht mit den Mitteln der modernen Technik auslagern. Mir helfen meine Notizen, die ich mir auf den Reisen mache. Ein paar Stichwörter, ein paar Sätze. Manchmal schreibe ich auch nach meiner Rückkehr ein paar Seiten. Wenn man Jahre später zufällig über diese Notizen stolpert, geht eine Tür auf. Der Abend in einem walisischen Pub, am Nachbartisch spricht man Gälisch. Allein auf den Stufen einer antiken Ruine auf Capri, weil man keine Lust auf die blaue Grotte hatte. Das kleine Kind im Zugabteil, das mir großzügig ein Stückchen von seiner Brezel anbietet.
Die Bilder, die wir in unseren Fotoalben und Handys haben, können uns nichts bieten, wenn es ums Reisen geht. Sie halten diese Momente nicht fest. Sie erzählen keine Geschichte, sie sagen nichts darüber aus, wie wir uns in diesem Augenblick gefühlt haben. Wenn man den Auslöser drückt, löscht man Erinnerungen aus.