Prolog
Hamburg Hauptbahnhof, Montag, 17 Uhr. Ich habe eine Stunde Zeit, bis ich von einer Freundin abgeholt werde. Da ich nichts zu lesen habe und auch kein Smartphone besitze, setze ich mich auf eine Bank und beobachte die abfahrenden Regionalzüge während der Rush-Hour. Ich habe noch nie so viele Menschen rennen sehen. Mehr als die Hälfte der Leute spurtet mit der Aktentasche in der Hand an mir vorbei. Ein Mann um die fünfzig im grauen Dreiteiler sprintet zu einem Zug, bleibt eine Minute unschlüssig vor der Tür stehen und steigt schließlich ein. Einige Minuten später – die Züge halten tatsächlich sehr lange, so dass die Hetzerei völlig sinnlos erscheint – springt er wieder hinaus und rennt zu einem anderen Zug. Ich würde mir gerne seine Geschichten anhören, aber ich kann ihn natürlich nicht fragen. Hier spricht niemand. Hier rennt man schweigend.
Hamburg Hauptbahnhof, Dienstag, 8 Uhr. Wieder Rush-Hour. Niemand rennt. Auf dem Weg zur Arbeit hat es keiner eilig.
Erster Akt
Der ICE von Hamburg nach Frankfurt hat bereits bei Abfahrt 22 Minuten Verspätung. Ich bleibe gelassen. Heute muss ich nur noch in Schweppenhausen ankommen. Nichts weiter. Dann verpasse ich eben den Anschlusszug in Frankfurt. Was soll’s? Dann hole ich mir vielleicht noch eine Currywurst. Positiv denken. Das sind doch Petitessen.
In Hannover haben wir nur noch 16 Minuten Rückstand. Der Anschlusszug kommt plötzlich wieder in Reichweite. Hoffnung keimt auf, diese zutiefst menschliche und doch oft vergebliche Regung.
Dann die Durchsage: Ist ein Arzt im Zug? Notfall in Wagen 5. Soll ich den Duke spielen und aufstehen? Ich habe immerhin einen Doktortitel. Mich eine halbe Stunde ins Bistro setzen und dann mit blasiertem Blick auf meinen Platz zurückkehren?
In Göttingen wartet schon das Notarztteam. Die Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit, wie es im Bahnjargon heißt. Aber es kommt noch schlimmer.
Meine Nemesis steht plötzlich vor mir.
Eine kleine alte Hexe in geschmacklosen Sommerklamotten. Fettiges Haar und nur noch einen einzigen, gigantisch langen Zahn im Unterkiefer.
Sie fragt nicht: „Ist hier noch frei?“ Sie sagt: „Das muss hier weg!“
Hastig nehme ich meinen Rucksack vom Gangplatz und werfe ihn auf die Gepäckablage.
Wortlos setzt sie sich neben mich. Umständlich kramt sie ein Taschentuch aus ihrem Rucksack und wischt sich stöhnend den Schweiß von der Stirn. Sterbender Schwan nix dagegen. Dann zieht sie sich umständlich die Jacke aus. Im Sitzen. Obwohl ich mich schon an die Scheibe gepresst habe, rammt sie mir mehrfach den Ellenbogen in die Seite.
Kurze Zeit später kommt der Getränkefritze.
„Bleiben Sie hier!“ schnauzt sie den jungen Mann an. „Kaffee!“
Die Suche nach dem Portemonnaie beginnt. Ellenbogen. Immer und immer wieder. „Ich werde doch noch drei Euro für einen Kaffee haben“, klagt sie. Ihre Jacke rutscht von ihrem Schoß.
Sie nimmt die Jacke und knallt sie mir vor die Brust. „Sie nehmen das jetzt mal“, faucht sie mich an.
Der Getränkemann und ich sehen uns nur an. Deutsche Rentner. Tickende Zeitbomben. Warum kann nicht ein freundlicher Islamist mit seinem Sprengstoffgürtel neben mir sitzen?
Schließlich hat sie ihren Kaffee. Selbstverständlich hat sie sich noch über die Wucherpreise beschwert. Trotzdem kramt sie immer noch in ihrem Rucksack. Ich sehe schon den siedend heißen Kaffee in meinem Genitalbereich. Stattdessen Ellbogen. Es hört nicht auf.
Sie fummelt eine zerfledderte Illustrierte aus dem Rucksack. „FREIZEIT SPASS“. Ellbogen. Dann geht die Suche nach der Brille los. Ellbogen. Und die Fahrkarte muss auch noch mal begutachtet werden. Ellbogen. Ich sehe, dass sie nach Stuttgart will. Von dort aus geht es noch weiter in irgendein schwäbisches Nest. Daher der Dialekt. Schwaben kenne ich ja aus Berlin. Man muss sie einfach gernhaben.
Das zahnlose Weib wird ruhiger. Inzwischen murmelt sie auch immer eine Entschuldigung, wenn sie mich anrempelt. Etwa alle zehn Sekunden. Jetzt fummelt sie wieder in ihrem Rucksack herum und zieht ein Bonbon aus der Nachkriegszeit hervor. Sie bietet es mir an. Ich schüttele stumm den Kopf. Kann nicht reden.
Ich muss meine gesamte dreißigjährige Ausbildung zum Zen-Buddhisten in die Waagschale werfen. Jetzt nicht austicken. Dann ist die Reise vorbei. Ich konzentriere mich im Geiste auf verbale und nonverbale Gewaltexzesse. Mein reichhaltiges Repertoire an Beleidigungen und Schimpfwörtern – im Stillen dekliniere ich es durch. Ich stelle mir vor, wie ich mit einem Vorschlaghammer einen Zimmermannsnagel durch ihre Stirn treibe – aber das könnte mir als Körperverletzung ausgelegt werden.
Schließlich ein erschöpftes Aufzucken religiöser und philosophischer Fragen:
Warum ich?
Wofür werde ich bestraft?
Was passiert als nächstes?
Intermezzo
Durchsage des Schaffners: Der Zug endet heute außerplanmäßig in Frankfurt. Unwetterschäden auf der Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim. Reisende nach Stuttgart achten bitte auf weitere Durchsagen.
Zweiter Akt
Aus den Augenwinkeln sehe ich das Entsetzen in ihren Augen. Langsam verwandelt sich ihr Gesicht in eine Maske des Zorns. Äußerlich unbewegt drehe ich mich zum Fenster.
Innerer Reichsparteitag.
Jubelschreie aus hunderttausend Kehlen. Es ist ergreifend. Gänsehaut. Feuchte Augen.
Nächste Szene: Maracana-Stadion. Verlängerung gegen Argentinien. Ich mache das 1:0 und renne in die Fankurve.
Brülle meinen Jubel hinaus.
Die Fans drehen völlig durch. Rasten komplett aus. Ich sehe die Plakate. „Karma hat einen Namen: Deutsche Bahn“. „DB rulez“.
Die alte Vettel ist in Frankfurt gestrandet.
Ich schäme mich der Emotionen nicht, die mich in diesem Augenblick überwältigen, liebe Lesende. Die Schadenfreude ist maßlos, unbeschreiblich. Sie durchströmt mich wie Champagner.
Ich unterdrücke das unbändige Verlangen, gleich jetzt, wo sie neben mir sitzt, die Geschichte aufzuschreiben. Einfach das Notizbuch und den Stift aus meiner Jackentasche zu holen, um diesen Sturm aus Gefühlen und Gedanken für ewig festzuhalten.
Epilog
Endlich sind wir in Frankfurt. Ankunft auf Gleis 7. In Gedanken bin ich schon bei den Anschlusszügen und meiner triumphalen Ankunft im Hunsrück.
Dann sehe ich die vielen Teddys. Die Kerzen, die Botschaften. Natürlich. Hier ist vor einigen Wochen ein kleiner Junge ermordet worden. Auf Gleis 7 vom einfahrenden Zug überrollt. Auf den Schienen, über die wir gerade in den Bahnhof gekommen sind, ist er gestorben. Es ist etwas ganz anderes, an dem Ort zu stehen, als ihn nur in der Tagesschau zu sehen. Tränen schießen mir in die Augen.
In einer Nanosekunde bin ich aus meiner erbärmlichen Eitelkeit gerissen. Gleis 7. Ausgerechnet. Halt dein ungewaschenes Maul, Bonetti. Beschwer dich nie wieder. Sei froh, dass du heute nach Hause kommst, du dämlicher Schwätzer. Das Karma hat mir eine Lektion in Demut erteilt.
Mit leerem Kopf sitze ich in der S-Bahn von Frankfurt nach Mainz. Mir gegenüber sitzen zwei junge Leute, die über ihre Arbeit am Kindertheater sprechen. Froschkönig. Sie drehen sich ihre Kippen für den Augenblick, in dem sie den Zug verlassen können.
Die letzten Kilometer nach Bingen stehe ich in einem uralten Intercity, dessen Wagen mit Menschen vollgestopft sind, weil zwei komplette Wagen für die Passagiere gesperrt sind. Begründung: das Licht geht nicht. Am helllichten Tag im August. Ist mir egal. Bahnwahnsinn. Habe ich heute seit acht Uhr morgens. Es ist halb vier.
Ich lehne vor der Toilette an der Wand, auf dem Boden vor mir eine arabische Mutter mit ihren drei kleinen Kindern. Sie haben Buntstifte und Papier ausgebreitet. Die beiden Mädchen malen mit Rosa und Lila irgendwelche engels- oder prinzessinnenähnliche Figuren, der größere Junge macht auf seinem Smartphone ein Spiel. Die Mutter fragt mich, ob sie die Sachen beiseite räumen soll, damit ich überhaupt an eine der Türen komme. Ich sage, sie soll die Kinder ruhig spielen lassen, und gehe durch die beiden altertümlichen Türen, die sich noch nicht automatisch öffnen lassen, in den nächsten Wagen. Wir verabschieden uns mit einem Lächeln. Es kann so einfach sein.
Bingen. Ich sehe den Rhein, die Weinberge. Ich bin wieder da. Glücklich, traurig. Um eine Lektion reicher.