Freitag, 31. Juli 2015

Die Expedition

„Jetzt ist schon wieder was passiert.“ (Wolf Haas: Wie die Tiere)
Eines Tages beschloss unser neuer Bürgermeister, eine Expedition auszurüsten, die erkunden sollte, wie die Welt unter unserer Stadt aussah. Aus alten Sagen wusste man, dass der Untergrund von Gängen und Höhlen durchzogen war, die noch nie ein Lebender betreten hatte. Sofort ergriff eine nagetierhafte Geschäftigkeit die hiesige Bevölkerung. Von unermesslichen Schätzen war die Rede und die Abergläubigen warnten vor den Toren der Hölle. Wie es der Zufall wollte, begann man mit dem Abstieg in die Unterwelt im Keller meines Hauses. Zwanzig Männer in schwarzen Overalls, mit Grubenlampen, Äxten und Schaufeln, fanden sich in meinem Wohnzimmer ein und besprachen das weitere Vorgehen.
Wendy & Lisa – Waterfall. https://www.youtube.com/watch?v=fdkVmTdluSo

Die Zeit hat Fangzähne

Franky. Alter Schulfreund. Wann habe ich dich das letzte Mal gesehen? Das muss in der Mittelstufe gewesen sein. Damals waren wir dicke Kumpels. Ich war in deinem Kinderzimmer, du warst in meinem Kinderzimmer. Deine Mutter hat uns Brote geschmiert, meine Mutter hat uns Brote geschmiert. Dann bist du sitzengeblieben. Achte oder neunte Klasse. Ich bin weitergezogen, du bist neben mir gefallen. Wir haben uns aus den Augen verloren. Es ist wie im Krieg, nur ohne Tote.
Jetzt treffe ich dich wieder auf Facebook. Wir sehen uns immer noch nicht, aber wir tauschen kleine Nachrichten aus, machen Witze. Du arbeitest jetzt bei einem „Fahrgeschäft“ und ziehst von Kirmes zu Kirmes, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt. Fahrendes Volk sozusagen. Das ganze Jahr bist du unterwegs und siehst die Heimat nur, wenn in Mainz oder Bad Kreuznach ein großes Volksfest stattfindet. Bist du einer von den Jungs geworden, die beim Auto-Scooter die Wagen einparken? Von diesem Job habe ich als Kind geträumt. Oder ist es der „Twister“ und du sitzt an der Kasse und machst gleichzeitig die Ansagen: „Die nächste Fahrt geht rückwärts“ und solche Sprüche? Ich wage es gar nicht zu fragen, wie du lebst.
Ich sitze hier bequem am Notebook, lebe fürstlich ganz allein in einem Zehn-Zimmer-Haus mit einem Bilderbuchgarten. Wissenschaftler, Journalist, Schriftsteller. Was man so macht, wenn man das verdammte Abitur geschafft hat. Fahre gelegentlich nach Berlin, wo ich in einer noblen Altbauwohnung residiere und Aperçus zu Papier bringe. Du hast vielleicht noch nicht mal einen festen Wohnsitz und kennst das Leben nur im Wohnwagen. Ich habe, bis auf ein Jahr in einer Studenten-WG, nie Miete gezahlt. Der Schriftsteller und der Schausteller.
Jetzt ist deine Mutter gestorben. Ich habe ihr Gesicht längst vergessen. Bei Facebook hast du nur das Bild einer Kerze eingestellt. Ich spreche dir mein Beileid aus, Franky. Du kommst wieder nach Hause, um deine Mutter zu beerdigen. Und ich bin ehrlich traurig. In Gedanken bin ich bei dir. Du marschierst immer noch neben mir. Wir können gar nicht anders.
Franz Schubert - Ave Maria. http://www.youtube.com/watch?v=2bosouX_d8Y

Donnerstag, 30. Juli 2015

Willkommenskultur

Wenn in Deutschland von Kultur gesprochen wird, werde ich immer hellhörig. „Willkommenskultur“. Den Begriff gab es vor einigen Jahren noch gar nicht. Er muss erst in jüngster Zeit erfunden worden sein. Und da gibt es nur zwei Gruppen von Verdächtigen für diese Wortschöpfung: Politiker und Journalisten. Ich mache es kurz: Es gibt keine Willkommenskultur in Deutschland. Der Fremde ist nie willkommen. Er ist bestenfalls geduldet. Und für Ausländer sieht es ganz schlecht aus. Falls man sogar noch eine andere Hautfarbe als die Deutschen hat, ist es in diesem Land sogar wirklich gefährlich. Niemand heißt dich willkommen, höchstens ein paar andere Außenseiter von den Linken, der Antifa, der Caritas, den Ökopazifisten, den Veganern, den Homosexuellen und wie die ganzen Leute heißen, die man sonntags nicht auf dem Fußballplatz sieht, wenn die Dorfmannschaft gegen die Mannschaft vom Nachbardorf spielt.
Man kann selbst als Deutscher zwanzig Kilometer weiter in eine neue Nachbarschaft ziehen und ist dann für den Rest seines Lebens ein Fremder. Der deutsche Michel lässt niemanden in seine Herde. Er wirft dir höchstens ein paar Brocken zu, damit du nicht randalierst. Nicht, weil er Mitleid mit dir hat, sondern weil er seine Ruhe haben will. Jede Art von Mobilität ist dem Deutschen suspekt. Warum verlässt jemand seine Heimat? Hat man ihn dort nicht haben wollen? Dann wollen wir ihn auch nicht. Hat ihm die eigene Heimat nicht gefallen? Solche Querulanten wollen wir hier nicht. Warum ist er nicht zu Hause geblieben? Du kannst zu Besuch kommen, meinetwegen auch hier Urlaub machen – aber dann gehst du wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist. Es gibt keine Integration in Deutschland. Weder für ortsfremde Deutsche, noch für Ausländer.
Es gibt sie noch nicht mal in der Familie. Zwei Beispiele aus unserer Familienchronik. Meine Großmutter mütterlicherseits kam nach dem Tod meines Großvaters an der Ostfront 1946, nach Flucht und Lagerhaft, mit ihren beiden kleinen Kindern aus Schlesien ins Haus der Schwiegereltern. Eine noble Villa im Taunus, links und rechts des Eingangs zwei mächtige Elefantenschädel. Im Haus hingen Felle von Löwen, Zebras und Antilopen. Geschnitzte Masken und Speere. Mitbringsel von der Zeit des Urgroßvaters im Kolonialdienst, wo er für den Bau einer Eisenbahn in Kamerun zuständig war, aber hauptsächlich auf Großwildjagd gegangen ist. Die Hakenkreuzflagge wehte bis 1945 über dem Anwesen, alle drei Söhne sind im Krieg gefallen. Der Urgroßvater war da schon längst an den Spätfolgen der Malaria gestorben. Der ehrenvolle Tod fürs Vaterland. Und meine Mutter und meine Großmutter wurden wie Parias behandelt. Geduldet. Aschenputtel. In der eigenen Familie.
Meiner Großmutter väterlicherseits ging es nicht besser. Als mein Großvater in Kriegsgefangenschaft war, lebte meine Großmutter mit meinem Vater auf dem Bauernhof ihrer Schwiegereltern. Sie durften nicht am Tisch mit der Familie essen. Meine Großmutter bekam ein Zimmer zugewiesen und man stellte ihr einen kleinen Gaskocher hin. Darauf hat sie dann die Mahlzeiten für sich und ihren Sohn zubereitet. Sie blieb eine Fremde in der eigenen Familie. Der Enkel, mein Vater, durfte nicht bei seinen Großeltern am Tisch sitzen.
So sind die Deutschen in ihrer eigenen Familie. Und da wird von „Willkommenskultur“ gesprochen. Wenn es nicht so bitter wäre, würde ich jetzt lachen.
Cyndi Lauper - True Colors. https://www.youtube.com/watch?v=HFiz-j66X74

Mittwoch, 29. Juli 2015

Titelschutz

Hiermit beantrage ich Titelschutz für:
Djangolito und die Kammer des Schreckens
King Djangolito und die weiße Frau
Djangolito – Tag der Abrechnung
Djangolito und der Tempel des Todes
D wie Djangolito
Episode VI: Die Rückkehr des Djangolito
Djangolito – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt
2001: Djangolito im Weltraum
James Bond jagt Djangolito
Djangolito – Jenseits der Donnerkuppel
Djangolito: Smaugs Einöde
Djangolito bedroht die Welt
Djangolito, übernehmen Sie
Djangolito IV – Der Kampf des Jahrhunderts
Djangolito – Aufbruch nach Pandora
101 Djangolitos
Djangolito im Wunderland
Ein Fisch namens Djangolito
Djangolito Reloaded
Djangolito Mutant Ninja Turtles
P.S.: Und wer mal so richtig gepflegt Bock auf echte Action hat, klickt dieses Video an. Achtung! Nix für geföhnte Susis. https://www.youtube.com/watch?v=yysbbPStfWw

Idee für eine Geschichte

„Ich kenne kein schändlicheres Publikum als den Schriftstellerverband. Diese Leute kann ich wirklich nicht ertragen.“ (Daniil Charms: Die Kunst ist ein Schrank)
Im Dachrestaurant des Clubs der Schriftsteller in Downtown Bad Nauheim trifft Andy Bonetti seinen Erzfeind Igor Stumpf, Verfasser von Beziehungsdramen und Sohn eines reichen Hutfabrikanten, der am Nachbartisch sitzt und fortwährend gehässige Bemerkungen über ihn macht, hauptsächlich über Bonettis jüngste Veröffentlichung, die Ballade „Ein Knopf geht auf die Reise“. Es kommt zum Kampf und Bonetti wirft Stumpf von der Terrasse des Restaurants. Beim Sturz in die Tiefe hält Igor Stumpf einen Monolog über die Notwendigkeit der Kunst. Titel: „Alles klebt“ oder „Zu Hause lebt man länger“.
„Und während er langsam und schweigend in den Sonnenuntergang ritt, hörte man leise, wie aus weiter Ferne, das wehmütige Wimmern einer Mundharmonika …“ (Andy Bonetti: Djangolito – Sein Gesangbuch war der Colt)
Produktinformation:
Verpassen Sie nicht „Sie nannten ihn Djangolito“, „Gott vergibt … Djangolito so gut wie nie!“, „Djangolito – Deine Mutter wartet mit dem Essen auf dich“ und „Djangolitos große Schwester“. Demnächst in Ihrer Bahnhofsbuchhandlung.
Undertones - Julie Ocean. https://www.youtube.com/watch?v=rVrgauVv-fQ
 

Dienstag, 28. Juli 2015

Blogstuff 7

Hätten Sie’s gewusst? Am 9. November 1953 wurde in der Kasseler Treppenstraße die erste Fußgängerzone Deutschlands eröffnet. Bei uns ist am 9. November immer was los!
„Away team“ heißt das Außenteam des Raumschiffs Enterprise.
Jeopardy, erster Teil: Der berühmte Phlegmatiker mit dem breiten Gesäß. - Wer ist Helmut Kohl?
Den Fahrradhelm lasse ich inzwischen auch beim Schlafen auf. Ich könnte ja aus dem Bett fallen.
Preis der Woche: 62,49 Dollar. Soviel kostet eine Drive Through-Hochzeit in Las Vegas. Soll die Zeremonie von Elvis durchgeführt werden, der anschließend auch noch singt, müssen Sie mindestens 378,35 Dollar ausgeben („Visions from the King Wedding“).
Es ist wie im Märchen. Ich bin der Igel, und die anderen Menschen sind Hasen, die glauben, ich würde an dem allgemeinen Wettrennen teilnehmen. Ich habe weder Beruf noch Familie. Jeden Tag, den ich lebe, würden die Hasen als Urlaubstag definieren. Das Schreiben ist Teil meines Vergnügens, meiner Entspannung.
Sie sprach sächsisch mit belgischem Akzent.
Sollte es nicht zukünftig bei Schiffsunglücken „Transgender und Kinder zuerst“ heißen? In meinen Augen würde sich in dieser Formulierung der Debattenfortschritt der letzten zwanzig Jahre widerspiegeln.
Ist es bei dir auch gerade Montag? In Wichtelbach eröffnet Costa Cordalis heute ein Matratzen-Outlet-Center.
Es gibt Lichtgeschwindigkeit, Schallgeschwindigkeit – und Angela Merkel.
„Angela Merkel nimmt mit Sicherheit Depressiva. Sonst kriegst du diesen Gesichtsausdruck doch nicht hin.“ (Matthias Beltz)
Je nachdem, wie das Leben gewesen ist, kann Demenz auch eine Gnade sein.
Unter der Rubrik „schon gewusst?“ finde ich bei Wikipedia folgenden Eintrag: „Die Schraubenbaumart Pandanus candelabrum könnte den Weg zu Diamantvorkommen weisen.“ Habe sofort ein Exemplar in meinem Garten eingepflanzt. Und wenn ich keine Diamanten finde, habe ich wenigstens Schrauben.
Kunst macht Durst.
Ich bin heute zum ersten Mal Traktor gefahren. Kommt auch gleich nochmal in den Nachrichten.
Jeopardy, zweiter Teil: Seine Seele ist so schwarz wie die Lungen des Marlboro-Manns. - Wer ist Wolfgang Schäuble?
Die Verhandlungen zwischen EU und Griechenland erinnern mich an das klassische Muster Good Cop – Bad Cop aus den Hollywood-Filmen. Der deutsche Polizist (den man sich natürlich immer in einer Wehrmachtsuniform denken muss – an diesem Klischee wird sich bis ans Ende unserer Tage nichts mehr ändern) brüllt herum und droht. Dann kommt der französische Polizist, liebenswürdig und charmant, vielleicht mit einem schwarzen Menjou-Bärtchen, und spricht beschwörend auf den verängstigten Griechen ein: „Der Typ flippt gleich total aus. Ich hab das schon mal erlebt. Der wird zur Wildsau. Dann kennt er sich selbst nicht mehr. Ich hab hier mal ein Papier vorbereitet. Lies es dir durch und dann unterschreibst du. Glaub mir, das ist das Beste für dich.“
Das „europäische Haus“ ist keine coole WG geworden, sondern erinnert eher an eine Fabrik mit klarer Arbeitsteilung und Hierarchie. Da gibt es gutbezahlte Bosse und arme Schlucker, die die Drecksarbeit machen müssen. Es gibt große und kleine Zimmer, manche haben Klimaanlage und Internetanschluss, manche haben noch nicht mal fließendes Wasser oder Strom. Und der Grieche muss lebenslänglich seine Schulden abarbeiten, genauso wie seine noch ungeborenen Kinder und Kindeskinder.
Eat this, Habermas: Glaube ist etwas für Idioten. Sie glauben an Gott, an ihre (und nur ihre) Nation oder an das Geld. Und die allergrößten Idioten glauben an die Macht guter Argumente. (Ich habe im Studium die „Theorie des kommunikativen Handelns“ komplett gelesen! Tausend Seiten Steine fressen – für nix und wieder nix)
Die Zeiger der Uhr drehen sich endlos im Kreis, sie haben kein Ziel.
Neulich im Offside: "Ich weiß es noch, als ob es gestern gewesen wäre. Es war einer dieser verregneten Novembertage, als ich mit meinen Sportkameraden aus dem Mannschaftsbus der BVG stieg. Frohnau. Messepokal. Hier dürfen nur Lernbehinderte mitmachen. Unsere Chance! Mike? ... Mike! Du musst schon wieder aufs Klo? Du warst doch erst vor fünf Minuten. Und wozu nimmst du dein Handy mit?" Helden der A-Jugend. Wer nie Fußball gespielt hat, hat nicht gelebt.
Wussten Sie, dass die elektrische Zahnbürste nur ein zufälliges Nebenprodukt der amerikanischen Dildo-Industrie ist?
Metallica - Wherever I May Roam. https://www.youtube.com/watch?v=ouqkTqTLl9s

Montag, 27. Juli 2015

Wenn du morgens in einem fahrenden Zug wach wirst

„Der Zufall ist allmächtich, Keule, vajiss dit nie.“ (Fil’s Didi & Stulle: Endstation Mars)
Als ich letzten Monat nach einer Party in Hamburg mit dem Zug nach Berlin gefahren bin, ist mir unterwegs die Geschichte wieder eingefallen. Zugegeben: Der Beginn ist mir heute sehr peinlich, aber ich will ehrlich sein und alles so schildern, wie es wirklich vorgefallen ist.
Ende der neunziger Jahre hatte auch mich ein wenig das Börsenfieber gepackt. Das mag daran gelegen haben, dass ich zu dieser Zeit beruflich viel mit Wirtschaftswissenschaftlern, Managern und Unternehmern zu tun hatte. Auch wenn ich vor Scham am liebsten in den Boden versinken würde: Es begann tatsächlich mit jener vermaledeiten T-Aktie, der „Volksaktie“, für die damals überall Reklame gemacht wurde. Ich ließ mir also bei meiner Berliner Sparkassenfiliale an der Bundesallee, Ecke Hohenzollerndamm, ein entsprechendes Wertpapierdepot einrichten und beantragte (wie lustig der Begriff heute klingt) die Zuteilung von 100 Aktien im Wert von 2850 DM, damals etwa ein halbes Monatsgehalt.
Der Börsengang der Telekom AG im Herbst 1996 kam – und ich ging leer aus. Ich hatte keine Aktien zugeteilt bekommen, da der IPO (solche Begriffe kannte ich plötzlich) mehrfach überzeichnet gewesen war. Zunächst war ich enttäuscht und wollte nie wieder etwas mit Aktien zu tun haben. Aber dann habe ich mich doch weiter mit dem Thema beschäftigt und landete alsbald wie viele junge Menschen am sogenannten Neuen Markt. Internet, Software, Biotechnologie, Windräder, Solarenergie – das war die Welt meiner Generation. Ursprünglich hatte ich mich gemeinsam mit einem Freund 1996 mit dem ersten deutschen Internet-Newsletter selbständig machen wollen, aber dann bekam ich das Angebot, als Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut arbeiten zu können (ich musste noch nicht mal eine Bewerbung schreiben) und sagte zu. W., der Freund aus Mainzer Studentenzeiten, wagte den Schritt in die Selbständigkeit alleine und gab „Internet-Intern“ heraus (im Print!), später „intern.de“.
Und wenn man sich mit Aktien befasst und den ganzen Tag am Computer hockt, landet man auch irgendwann in einer entsprechenden Internet-Community. In meinem Fall war das „Wallstreet Online“. Dort trieb ich mich vorzugsweise im Bereich „Sofa“ herum, wo nicht nur über Aktien diskutiert wurde. Es war die Chillout-Zone, wenn man sich zum Thema Geldanlage ausreichend informiert hatte. Dort lernte ich alsbald Leute kennen und irgendwann beschlossen wir, uns einmal persönlich zu treffen. Es war in einer Cocktail-Bar irgendwo in Mitte und ich weiß nur noch, dass ich mindestens drei Zombies getrunken habe und mein Purpfeifchen eifrig die Runde machte. Ich war so blau, dass ich es gerade noch ins Taxi schaffte. Am nächsten Morgen ging ich wie in Trance in mein Büro, schloss die Tür hinter mir und bettete mein Haupt auf den Schreibtisch. Der Kollege, der mich zum Mittagessen abholte, weckte mich aus meinem Tiefschlaf.
Wir trafen uns wieder und eines Tages tauchten ein paar Hamburger Sofa-User bei uns auf. Wir gingen zusammen essen, eines Abends sogar mal in die „Bar jeder Vernunft“ bei mir um die Ecke, um uns eine Vorstellung anzusehen. Und dann lud uns einer der Hamburger zu seiner Geburtstagsparty nach Hamburg ein. Es waren an die hundert Leute in seiner Wohnung, Drag Queens und andere Leute aus der „Szene“ – und nach Mitternacht zog die ganze Meute noch über die Reeperbahn. Erst im Morgengrauen kamen wir in unsere Hotelzimmer. T., unser Gastgeber, arbeitete während der Woche bei einer Bank in Zürich. Freitags flog er abends nach Hamburg, um am Montagmorgen mit der ersten Maschine wieder in die Schweiz zu düsen. Er war eigentlich aus München, stockschwul, zwei Meter groß und mit einem „Matschauge“. Über Schwabing und Kreuzberg hatte es ihn nach St. Pauli verschlagen. Stolz berichtete er mir, er hätte in Berlin denselben Koksdealer wie Blixa Bargeld gehabt.
Ein Jahr später feierte T. wieder Geburtstag. Diesmal in einem ehemaligen Domina-Studio auf St. Pauli, dessen Einrichtung unverändert geblieben war. Eine Band spielte und muskulöse Jungs mit nacktem Oberkörper und schwarzer Fliege servierten die Drinks. T. und ich beschlossen in dieser Nacht, dass ich seine Biographie schreiben solle. Schwabing – Kreuzberg – St. Pauli. Sein Doppelleben als Banker wollte er in dem geplanten Buch gar nicht groß breittreten. Nur die ganzen lustigen Szene-Abenteuer. Ich war begeistert. Und weil ich seine Partys inzwischen kannte, hatte ich erst gar kein Hotelzimmer gebucht. Gegen sechs Uhr morgens verließ ich das Domina-Studio und ließ mich mit der Taxe zum Hamburger Hauptbahnhof fahren.
Es war Anfang Februar und eiskalt. Bis zum nächsten Zug nach Berlin musste ich noch eine Stunde warten. Direkt vor mir stand ein ICE. Warm. Verlockend. Und mit der Logik, die nur Betrunkenen und Wahnsinnigen eigen ist, stieg ich in den Zug, um mich ein wenig aufzuwärmen. Als ich aufwachte, hielt der Zug gerade an. Ich war verwirrt. Schnell stieg ich aus. Hamburg-Altona. Der Zug fuhr weiter. Nach Kopenhagen und zum Glück ohne mich. Dann saß ich endlich im richtigen Zug nach Berlin und schlief natürlich gleich wieder ein. Als ich zum zweiten Mal an diesem Morgen erwachte, war es heller Tag. Draußen vor dem Fenster flog die Landschaft vorüber. Wo war ich? Es konnte überall sein. Landschaft eben. Ich saß in einem Eurocity, wie ich einem Faltblatt entnehmen konnte. Berlin – Prag – Wien. In welchem Land war ich? Was würde der nächste Bahnhof sein? Noch nie bin ich mit größerer Neugier aus dem Schlaf erwacht als an diesem Tag.
Ich hatte Glück. Der Zug hielt in Berlin, erst in Spandau und damals auch noch am Bahnhof Zoo, und ich konnte ganz entspannt zu Fuß nach Hause gehen. T. habe ich leider nie wieder gesehen. Das Buch ist, wie so viele, nie über das Projekt-Stadium hinausgekommen.
P.S.: Ich habe mal bei „Wallstreet Online“ nach seinem Profil gesucht – er ist auch heute noch aktiv! Er bezeichnet sich dort als „letzte lebende Diva“ und sucht „Traummänner“. Scheint ihm also noch gut zu gehen. Aber er war schon immer ein Typ wie Ozzy Osbourne … Und den Party-Thread habe ich auch wieder gefunden. „IHM GEHÖRT DER KIEZ.... und manchmal, in winzig kleinen momenten auf seinen parties, dann sehe ich ihn an... ganz heimlich... von der seite... und ich glaube, in diesen speziellen momenten, ja da gehört ihm die ganze welt...“, schrieb eine gemeinsame Bekannte damals. Die Party war übrigens am 31.1.2003, das Netz vergisst nichts (btw: der Mann wurde exakt am gleichen Tag geboren wie meine Schwester). T. feierte an diesem Wochenende von Freitag bis Montag durch. Damals hatten wir das Geld, das wir in den Neunzigern an der Börse gemacht hatten, schon längst wieder verloren. Trotzdem kamen immerhin 3424 Euro Spendengeld zusammen (statt Geschenken). „Ich bin um 7 Uhr mit dem Zug nach Berlin zurück und konnte noch rechtzeitig aufwachen - sonst wäre ich nach Wien durchgerollt“, heißt es in einem meiner Thread-Beiträge als „Swamp Thing“ lapidar.
„Alta, dit is do‘ www.schneevonvorjestahn.de“ (Fil’s Didi & Stulle: Endstation Mars)
The Ramones - I Wanna Be Sedated. https://www.youtube.com/watch?v=JBN1CkyRzmE

Sonntag, 26. Juli 2015

So wahr, dass es kracht

„Wenn man über 50 ist, morgens aufwacht und es tut nichts weh, dann ist man tot.“ (Jürgen von Manger)
Ein alter Sandkastenfreund eines Freundes, der inzwischen in Hamburg lebt … – und es ist echt: Dieser Typ gewinnt als Teenager aus Remscheid einen Jazz-Nachwuchs-Wettbewerb in NRW als Gitarrist, wird dann Berufsmusiker und schafft es sogar bis ins Fernsehen. Hintergrundband. Aber man kann davon leben. Nach einer Show erzählt ihm der Kollege an der Hotelbar, er hätte das Portemonnaie von Dagmar Berghoff (damals Tagesschau-Sprecherin) geklaut. Am nächsten Tag kommt es raus und sie werden beide gefeuert. Kurz darauf erbt er von einem Opa, der einen gut gehenden Werkzeughandel hatte (es war die Zeit vor den Baumärkten), 250.000 DM. Und er schafft es tatsächlich, die Kohle in zwei Monaten komplett durchzubringen. Er kauft sich zwar eine neue Gitarre und ein neues Fahrrad, aber der Rest geht für Alk, Drogen und Nutten drauf. Inzwischen hat er sein Musikerleben hinter sich und lebt als fünfzigjähriger Loser bei seiner Mutter in Bad Bentheim. So ein Leben musst du erstmal schaffen.
Frankie Goes to Hollywood - Rage Hard 12". https://www.youtube.com/watch?v=54vP7fHrJT8

Das deutsche Schwein

- Ein dicker einbeiniger Mann mit einer Krücke betritt von links die Bühne. Mit einem Stock treibt er ein riesiges Schwein zu einem Misthaufen in der Mitte der Bühne. Das Schwein beginnt, grunzend im Dreck zu wühlen –
„Na los, du Sau, geh schon. Beweg dich! Was hast du da? Hast du was gefunden?“
- Er hebt einen Klumpen Dreck auf –
„Das ist doch nur Scheiße. Mach weiter, du Mistvieh! Du sollst arbeiten. Dir werd ich den Rücken grün und blau schlagen. Mit dem Knüppel werd ich dich verprügeln, wenn du nicht arbeitest. Das ist doch alles nur Scheiße! Du wühlst nur in der Scheiße rum, du stinkst nach Scheiße, du bist Scheiße, du elende Drecksau!“
- Er reißt dem Schwein etwas aus dem Maul –
„Eine Wurzel. Was soll ich damit? Ich will Gold und Diamanten. Du blöde Sau taugst zu gar nichts. Totschlagen sollte man dich! Und jetzt wälzt sich dieses verfluchte Drecksvieh auch noch in der Scheiße! Ich bring dich zum Schlachter. Aus dir mach ich Wurst. An deinen dreckigen Ohren werd ich dich zum Schlachthof zerren. Da werden dir die Beine abgehackt und ich hab schönen Schinken. Wenigstens Schinken hab ich dann. Du bist zu nichts zu gebrauchen, du mieses Stück Scheiße, du Sau, die elendes Vieh!“
- Das Schwein geht nach rechts von der Bühne ab. Der Mann humpelt hinterher und schwenkt drohend seinen Stock –
„Komm zurück! Wo willst du denn hin in der Menschenwelt? Du wirst ja doch gefressen.“
- Vorhang –
Talking Heads - Making Flippy Floppy. https://www.youtube.com/watch?v=J2lxJ4S-2-M

Samstag, 25. Juli 2015

Die Kunst des Schweigens

Im Schein einer Ikea-Lampe
Seh ich den Schatten meiner Wampe
Trink das letzte Bier von der Tanke
Das war die ganze Story. Danke



(Johnny Malta: Gedichte gegen den Frieden)

 
„Johnny Malta ist der Pythagoras der Poesie“ (Andy Bonetti)

 
P.S.: Heute vor zehn Jahren: Johnny Maltas inzwischen legendär gewordene Zwischenfrage bei einer Lesung: „Verdaut hier irgendjemand gerade ein Zwiebelmettbrötchen?“
Snow – Informer. https://www.youtube.com/watch?v=StlMdNcvCJo

Jimmy Latex

“Sie hatte riesige Schneidezähne, die nie von der Oberlippe bedeckt waren. Ihr langes Haar war zu einem strengen Zopf zurückgebunden und durch die gewölbten Gläser ihrer Hornbrille wirkten ihre großen Augen beängstigend. Wieder und wieder traf ihre Peitsche seine zittittitternden Schschschenkel …“
Aus: Jimmy Latex, der Mann fürs Feinherbe. Band 1: Dominatrix, das Teufelsweib von Nieder-Olm.
Lesen Sie zu dieser neuen Krimi-Reihe, die in der rheinhessischen SM-Winzer-Szene spielt, auch das brandaktuelle Interview mit Andy Bonetti, dem publizistischen Zentralgestirn des deutschen Bahnhofsbuchhandels, im Rolling Stone Magazine: „Confessions of a crap artist“.
Werbetext
Jimmy Latex. Er sagt Sätze wie „Salat ist kein Nahrungsmittel“, „Nordic Walking ist homosexuell“ oder „Hausarbeit schadet der Männlichkeit“. Er weiß, wie die rheinhessischen Winzer wirklich drauf sind. Fässer und Fesselspiele. Rebstöcke und andere Schlaginstrumente. Weinlese mit Nietenhalsband. Schwarzer Lederschoppen. Der rasierte Intimbereich um feuchte Männerlippen. Nippelkorken. Bondage im Gewölbekeller. Reverse Cowboy auf der Kelter.
Bauern in Ketten – Schreiende Frauen – Unzucht in Zeitlupe
Kaufen Sie jetzt: Jimmy Latex, der Mann fürs Feinherbe. Sie wollen es doch auch!
Andy Bonetti. Wer sonst?
Pressestimmen
„Die Dialoge sind so billig wie das Plastikspielzeug in den Cornflakespackungen.“ (Binger Bote)
„Eine Riesensauerei! Nagelt Bonetti ans Kreuz!!“ (Vatikan heute)
„Geilomat! Fifty Shades of Riesling.“ (Björn – das Männermagazin)
„Da hätte sogar ein Ring Fleischwurst Gänsehaut bekommen.“ (Piggy, Fachzeitschrift der Metzgerinnung Frankfurt)
„Ich sage nur: Bonetti. Eine Kapazität!“ (Börsenblatt des nordhessischen Bahnhofsbuchhandels)



Das offizielle Pressefoto von Jimmy Latex. (Copyright: Studio Pralinski)
P.S.: Das Copyright liegt in Wahrheit bei Linda (11). Wie machen die Kids das nur? Für so ein Bild hätte ich damals den Arsch vollgekriegt. Und sie hat sich noch kaputtgelacht, bevor sie es mir gezeigt hat … *Grins-Emoji*
Ideal - Ganz in Gummi. https://www.youtube.com/watch?v=xN-3rLOxoig

Freitag, 24. Juli 2015

Wo der Teufel einkauft

Sie kennen diese Einkaufszentren, die sich wie ein Krebsgeschwür über eine Stadt oder einen Stadtteil legen und dem Einzelhandel vor Ort die Kehle zudrücken? Natürlich. Ich habe als Kiezschreiber im Brunnenviertel drei Jahre zugeschaut, wie das Gesundbrunnencenter die geringe Kaufkraft vor Ort wie ein Staubsauger eingesogen und in der Brunnenstraße, dem „Ku’damm des Nordens“, für Leerstand und Automatencasinos gesorgt hat. Danke, ECE. So heißt die Einzelhandelsheuschrecke, die nicht nur im Wedding aus einer funktionierenden Marktwirtschaft der Familienbetriebe einen Konzernkapitalismus macht.
Wenn Sie sich vor einem Plakat dieser seelenlosen Profitjünger fotografieren lassen, gibt es tatsächlich eine ganze Kugel Eis. Keine Glasperle. Die Währung hat sich geändert, das Konzept nicht. Das Eis schmilzt, die Glasperle wäre Ihnen als Altersvorsorge geblieben. Diese Beobachtung vom Bahnhof Gesundbrunnen habe ich nicht selbst gemacht. Sie stammt von meinem Kollegen Mike.
Deswegen bin ich ein echter Fan von ihm. Andere gehen achtlos an dem Plakat vorüber, aber der Stadtsoziologe namens Kiezneurotiker sieht es und analysiert es präzise bis in die Ikonographie hinein. Und wo der Soziologe Schluss macht, geht er noch einen Schritt weiter. Er entwirft die Szene, in der ein Alpha-Kevin vom Gesundbrunnencenter die anderen Kevins im sozialen Brennpunkt gepflegt verarscht. Hätte ich nicht schon die eisgekühlte Flasche Riesling entkorkt, würde ich glatt noch den entsprechenden Einakter dazu schreiben.
Komm, Alter, du gehst doch nachher noch um die Ecke vom Center zu Lars ins Offside. Liefer ein Foto ab, in der das Plakat nur zu einem Drittel drauf ist, fang eine Riesendiskussion mit den hirn- und rückgratlosen ECE-Borgs an und schon hast du das Material für den nächsten Text :o) 

Du kannst in mir lesen wie in einem offenen Buch

„Auf den Einwand: ‚Sie haben sich verschrieben‘, antworte: ‚So sieht es, wenn ich schreibe, immer aus‘!“ (Daniil Charms)
Ist es nicht eine tröstliche Vorstellung, dass einige Menschen nach unserem Tod Blumen oder einen Kranz vor unsere Stammkneipe legen werden? Wo wäre das in meinem Fall? Pony Express, Eule, Hobo, Club – in Ingelheim sind alle Stammlokale längst geschlossen. Pfalz, Hinkelstall, Bierpumpe in Schweppenhausen – tempi passati. Das Kloster in Kreuzberg – vorbei. Also geht, wenn ihr wollt, nach meiner Abreise ins Nichts in den Wedding. Das Offside. Trinkt bitte einen Bushmills 16Y Three Woods auf mein Wohl. Seid fröhlich. Denn es ist immer gut, wenn ein Platz an der Theke frei wird.
Wo bin ich nach meinem Tod? Sicher nicht unter einem Grabstein, der meinen Namen trägt. Ich werde die Figur in einigen Anekdoten sein, die sich die Leute erzählen. Und in meinen Texten.
Wir hinterlassen Spuren, keine Geister oder Seelen.

Sketchbook Berlin

Ein Blatt Papier, der Kugelschreiber von der Berliner Sparkasse und das gute Gefühl, wenn die Hand vom Schreiben schmerzt. Drei Monate an der Tastatur und du musst dich wieder an die eigene Handschrift gewöhnen.
Alles Licht und Blau. Die Wiese legt sich zu mir und wir schließen die Augen.
Das Schicksal ist wechselhaft und launisch wie das Wetter, das Leben ist wie der weite Ozean – und du? Du gehst mir einfach nur unglaublich auf den Sack.
Ein dürrer Mann mit einem viel zu großen Hut lief durch einen Wald, trat in ein Kaninchenloch und fiel hin. Hinter ihm rannte ein dicker Mann mit einem schwarzen Vollbart und einem Beil in der Hand. Er kam näher, doch dann stolperte er über eine Wurzel und fiel ebenfalls hin. Der dürre Mann versteckte sich hinter einem Busch, so dass nur noch der Hut hervorlugte. Der dicke Mann rannte brüllend weiter und schwang das Beil über seinem Kopf. Das Publikum lachte und war froh, eine Komödie zu sehen, denn über eine Komödie muss man nicht nachdenken.
Die sauberen neuen Banknoten, die aus dem Automat kommen. Man sieht weder Blutspuren noch die Fingerabdrücke korrupter Politiker, weder Schweißtropfen noch Tränen.
Wenn achtzig Prozent deiner Pläne in Berlin aufgehen, war es ein guter Tag. Darum ist es die einzige europäische Stadt in Deutschland. Wenn in Stuttgart oder Düsseldorf nur 99 Prozent klappen, ärgern sich die Menschen schwarz.
Der Friseur kürzt nicht nur mein Haar, sondern auch meine Augenbrauen. Er würde gerne ein Augenbrauen-Waxing bei Theo Waigel machen, verrät er mir. Jeder Beruf bringt seine eigenen Träume hervor.
Die Euro-Zone ist wie die Mafia. Du kannst diese „ehrenwerte Familie“ nicht verlassen oder du findest dich mit ein paar hübschen Betonschuhen auf dem Grund eines Sees wieder. Für die Sieger ist das alles nur ein Spiel, für die Verlierer geht es um Leben und Tod. Und Deutschland ist eindeutig der Gewinner der Euro-Einführung und der Globalisierung.
Erst die Bewegung macht den Spiegel lebendig.
Schubiack ist ein altes Wort, das Bettler oder Gauner bedeutet.
„Wir unterbrechen den Text für einen Verbraucher-TTIP: Jetzt im Sonderangebot! Nur für kurze Zeit! Koteletts von kontrolliert freilaufenden Bio-Klon-Viechern aus Texas. Das Kilo nur 2,99. Extra lecker!“
Früher war das Gedächtnis des Menschen mit Bildern gefüllt, die er selbst gesehen hat. Er konnte nur träumen, was er selbst erlebt und mit den eigenen Augen wahrgenommen hatte. Seit einigen Generationen ist das anders. Wir füllen unseren Kopf mit Fernsehbildern und Filmszenen, mit fernen Ländern und fremden Menschen, mit anonymen Phantasien, die uns im Traum erscheinen können. (Ich habe heute Nacht ein Fernsehinterview mit dem unsäglichen Zwergschlaumeier Lucke geträumt, in dem er die ganze Zeit alberne Kinderantworten wie „Ich will eine andere Frage“ oder „Jetzt habe ich vergessen, was ich sagen wollte“ gegeben hat)
Wissenschaftler haben jetzt herausgefunden, dass am 12.7.110.000.002.015 das gesamte Universum in einem Schlussknall verschwindet. Über die genaue Uhrzeit sind sich die Forscher noch nicht einig. Es lohnt sich also gar nicht mehr, morgens aufzustehen.
Der Ire William Painter (1838-1906) hat nicht nur den Kronkorken erfunden, sondern auch den Flaschenöffner. Kluger Mann.
Hätten Sie es gewusst? Rainer Calmund ist mit Helium gefüllt.
Wer glaubt, bei einer Auktion herren- oder damenloser Koffer zu Reichtum zu kommen, wird enttäuscht sein: Die Koffer werden vor der Versteigerung auf Wertsachen und Drogen durchsucht.
Neues Politmagazin auf SAT 1: „Steile Thesen, heiße Fakten“.
Tipp des Tages: Ehepartner halten sich länger, wenn man sie in einem Karton im Keller lagert, wo es dunkel und trocken ist.
Daniel Pofinger, der später unter seinem Künstlernamen David Bowie in Berlin-Schöneberg zu Ruhm und Ehre kommen sollte, lernte seine Frau Gisela 1976 bei der Kiwiernte in Neuseeland kennen. Sie entwarf die Cover seiner beiden ersten LPs Psychedelic Furniture und Nothing For Ungood.
Eine charmante Vorstellung: Im hohen Alter ziehe ich zurück nach Ingelheim. Aus dem Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, wäre inzwischen ein Altersheim geworden. Ich verlasse diese Welt im selben Zimmer, in dem ich auf die Welt gekommen bin. Der Kreis hätte sich geschlossen.
Es gibt Stellen, an denen die Stadt offen gescheitert ist. Ruinen, Brachland, Leere, nur ein paar Kinder. Ein etwa zehnjähriger Junge kommt mit dem Fahrrad vorbeigefahren. Er lacht und schreit: „Ich ficke! Ich ficke den Wind in mir.“ Der Wanderer setzt sich auf einen Baumstumpf und holt sein Notizbuch hervor. Später am Abend dann die Lesung. Der Ort stellt sich als Bahnhofskneipe heraus. Er liest aus seinen Notizen über die Verwüstung, die Zerstörung. Nur wenige Gäste hören zu. (Traum)
Martin-Jochen Hartwigsen, von seinen Freunden kurz Majo, von allen anderen kurz Wixer genannt, … (Fragment)
Neulich im Radio: „Mein Name ist Günther Walewski und ich leite eine Jugendselbsthilfegruppe zum Thema RTL II in Neukölln …“
Wir leben schnell, wir vergessen schnell. Die Mindesthaltbarkeit von Nachrichten schrumpft von Jahr zu Jahr, irgendwann verfaulen die Informationen schon am Baum.
Ich fühle mich in unserer Sprache zu Hause, aber nicht in diesem Land. Muttersprache, Vaterland.
An Weihnachten habe ich der Tochter eines Freundes „Tschick“ von Herrndorf geschenkt. Jetzt hat sie in der sechsten Klasse ein Referat über das Buch gehalten und eine 1 bekommen. Kuhlikowski.
Jamiroquai - Space Cowboy. https://www.youtube.com/watch?v=FU-VSGr0MnM

Donnerstag, 23. Juli 2015

Stars & Strikes

Die US-Geheimdienste hören also seit über zwanzig Jahren das Bundeskanzleramt ab. Die Regierung Merkel duckt sich wie gewohnt weg. Deutschland wird offenbar an der kurzen Leine geführt. Eines Tages bekommen wir unseren eigenen Stern auf der amerikanischen Flagge, bemerkt mein 81jähriger Vater zu dieser Meldung. Noch Fragen?
The Beatles - Baby It's You. https://www.youtube.com/watch?v=X6Bdi_rTSig

Der erste Schultag

„Slama steht da, mit gesenkten Augen und ratlosen Händen, die auf einmal leer geworden sind, als hätten sie bis zu diesem Augenblick etwas gehalten und soeben fallen gelassen und für immer verloren.“ (Joseph Roth: Radetzkymarsch)
Sie wusste von Anfang an, dass es schwer werden würde. Der Junge war nicht nur mit seiner Mutter erschienen, sondern mit dem Bürgermeister. In einem Dorf macht der Bürgermeister alles. Sie sprachen Englisch miteinander, aber sie spürte, dass die Frau nicht alles verstand. Der Junge verstand kein Englisch, die Mutter erklärte ihm alles auf Arabisch. Die ersten Wochen werden schwierig, dachte sie. Aber er macht den Deutsch-Kurs an der Volkshochschule. Es wird von Tag zu Tag besser werden und in ein paar Monaten kann er unsere Sprache. Nicht perfekt, aber gut genug. Er wird von den anderen Kindern viele Worte aufschnappen, es gibt das Fernsehen und das Internet. Kinder in diesem Alter lernen sehr schnell.
Vier Wochen später stellte sie den neuen Schüler vor. Die 4a. Ihre Klasse. Sie kannte die Kinder schon seit ihrer Einschulung.
„Das ist Kemal“, sagte sie.
Der Junge schaute scheu zu Boden. Die ganze Klasse glotzte ihn stumm an.
„Kamel“, schrie der dicke Jonas, der Sohn des Schreinermeisters, und das Gelächter von zwanzig Kindern entlud sich über Kemal wie ein Gewitter.
„Ruhe!“ rief die Lehrerin streng. „Kemal ist aus Aleppo. Das ist in Syrien. Er ist mit seiner Familie vor dem Krieg geflüchtet und lebt jetzt bei uns im Dorf.“
„Aleppo“, wiederholten einige Kinder leise und kicherten. „Aleppo-Popo.“
„Kemal“, sagte die Lehrerin mit sanfter Stimme. „Dort hinten ist noch ein freier Tisch. Da kannst du sitzen.“
Er verstand nicht gleich und sah sie nur stumm an.
„Do you understand? Sit down, please.“ Sie führte ihn zu seinem Platz.
Die Blicke der Kinder folgten ihm. Er hatte noch nicht einmal einen Ranzen, sondern nur einen Stoffbeutel bei sich. Er trug Jeans, ein zu großes Sweat-Shirt und No-Name-Turnschuhe.
Er setzte sich allein an den Tisch in der letzten Reihe. Die Lehrerin ging wieder nach vorne an die Tafel und begann mit dem Unterricht. Kemal sollte nur zuhören, sie würde in den ersten Wochen nichts von ihm verlangen. Es war für ihn schwer genug. Vielleicht könnte er in ein paar Wochen vor der Klasse etwas von seiner Heimat erzählen. Aber sie durfte nichts überstürzen. Geduld, sagte sie sich. Es wird sich alles entwickeln. Kinder in diesem Alter lernen sehr schnell.
In der großen Pause stand Kemal allein am Rand des Schulhofs. Die Mädchen standen zusammen und redeten. Sie beachteten ihn so wenig wie die anderen Jungs. Die Jungs spielten zusammen und versuchten, die Mädchen zu ärgern oder mit derben Kraftausdrücken zu beeindrucken. Alle aßen ihre Brote und Apfelstückchen aus ihren Plastikboxen, nur Kemal aß nichts. Er schaute auf den Boden und wartete, bis die Pause zu Ende war.
Nach der letzten Stunde packte er sein Mäppchen und sein Heft in den Stoffbeutel und ging nach Hause.
Hinter ihm gingen der dicke Jonas und zwei Klassenkameraden.
Einer hob eine Kastanie auf und warf sie nach Kemal. Sie traf ihn am Rücken.
Der Junge ging einfach weiter.
Da hob auch Jonas eine Kastanie auf und warf sie nach dem Jungen.
Er traf ihn am Bein. Der Junge drehte sich um.
„Na, du Kamel“, sagte Jonas, und er lachte mit seinen Freunden.
Kemal ging auf ihn zu, ohne ein Wort zu erwidern, und schlug ihm ins Gesicht.
Jonas schrie auf. Blut lief ihm aus der Nase.
Dann ging Kemal nach Hause.
Am Nachmittag rief der Bürgermeister bei der Lehrerin an und berichtete ihr alles. Die Polizei sei dagewesen. Man wäre im Dorf ja tolerant. Aber es gäbe Grenzen. Die Eltern von Jonas seien empört. Mit so einem Gewalttäter wolle man das eigene Kind nicht in die Schule gehen lassen.
Andere Eltern schalteten sich ein. So ginge das nicht weiter. Man lasse sich die nette Dorfschule nicht von Flüchtlingen kaputt machen. Erst im vergangenen Sommer habe man das Schulgebäude auf eigene Kosten und mit viel eigener Arbeit neu gestrichen und die Klassenräume verschönert. Solle denn alles umsonst sein?
Kemal durfte nicht mehr an die Schule zurückkehren. Man bemühte sich um eine Unterbringung der Familie in der nahe gelegenen Stadt.
Der Junge lernte seine neue Heimat sehr schnell kennen.
Arcade Fire - Half light I. https://www.youtube.com/watch?v=0J_XT_nfTUw

Mittwoch, 22. Juli 2015

Sapori italiani

„In den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts teilte sich die Bevölkerung meiner Vaterstadt in zwei Gruppen: Es gab nur sehr Reiche und sehr Arme. Man könnte ebenso gut sagen: Herren und Diener. Denn die Armen schien der liebe Herrgott, der es allezeit mit den Reichen hält, nur zu dem Zwecke geschaffen zu haben, um den Reichen das Leben zu erleichtern.“ (Joseph Roth: Von dem Orte, von dem ich jetzt …)
Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal in Reinickendorf gewesen bin. Und selbst wenn ich zufällig an diesem unscheinbaren Lokal vorbeigekommen wäre, hätte ich es sicher übersehen. Selbst an diesem Tag, an dem mich die Empfehlung des Kiezneurotikers, dem ich für diese Entdeckung zu großem Dank verpflichtet bin, an diesen Ort führt, laufe ich zunächst an dem „Imbiss“, wie man sich selbst bescheiden nennt, achtlos vorüber und muss kurz darauf umkehren.
 Im „Sapori italiani“ gibt es nur eine Handvoll Tische, keine Theke oder aufwändigen Wandschmuck. Aber einen netten Kellner, der mir nicht nur die Speisekarte bringt, sondern auch die Tagesangebote erläutert. Ich entscheide mich für ein mir völlig unbekanntes Nudelgericht (Passatelli) und werde gleich drauf mit einem kleinen Gruß aus der Küche über den ersten Hunger hinweg getröstet. Das Essen ist köstlich und ich komme mit dem Kellner ins Gespräch. Riccardo, der Kellner, und Roberto, der Koch, kommen aus der Emilia-Romagna. Die Rezepte sind aus ihrer Heimat, ebenso der Wein. Pizza gibt es nicht, dafür frische Nudeln, Ente und Schweinebraten. Roberto hat es über Moskau, Stuttgart und England nach Berlin geführt.
Ich nehme noch eine Portion Gnocchi all’antara (mit Enten-Ragù) für den Abend mit nach Hause. Der Kellner bespricht vorher mit dem Koch, welche Gerichte man aufwärmen kann und welche nicht. Sehr aufmerksam, wie überhaupt alles mit viel Liebe gemacht wird (Blumen auf der Toilette – das gibt’s ja nicht mal in großen Restaurants). Am Ende verrate ich ihm noch, wer mir den Tipp gegeben hat. Den Namen „Kiezneurotiker“ hat er noch nie gehört, weist mich aber ganz entspannt auf die nahegelegene Nervenheilanstalt hin. Zum Abschied fragt er mich, wann ich wieder komme. Schon sehr bald, antworte ich. Dieses Lokal kann man wirklich empfehlen. „Sapori italiani“ heißt auf Deutsch übrigens italienische Geschmäcker. Man möchte dieses herzergreifend zerbrechliche Bonsai-Lokal mit dem guten Dutzend warmer Speisen am liebsten in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen.
***
Die Heimreise auf die andere Seite des West-Berliner Äquators (vulgo: Ku’damm) führt mich durch den Wedding und Moabit. Unbezahlbare Gesprächsfetzen in der U 9. Eine Frau erzählt ihrem Kollegen, sie hätte sieben Jahre als „Filzdesignerin“ gearbeitet. „Sisda, Lis’ning!“ Ihr Sohn würde diesen Sommer in der Schule sitzenbleiben, was aber nichts mache, da er ganz toll jonglieren, zaubern und Einrad fahren könne und später sowieso mal Berufsakrobat werden würde. Rechts neben mir sitzt eine Afrikanerin und ruft die ganze Zeit „Sisda, Lis’ning!“ in ihr Handy, dann hört man eine Frau in einer fremden Sprache keifen und meine Nachbarin keift in derselben Sprache zurück. Gegenüber erklärt ein zwölfjähriger Junge seiner Mitschülerin, er wolle einmal Türsteher werden und was zu diesem ehrenwerten Beruf alles dazugehört. Dit is Berlin. „Sisda, Lis’ning!“ Bei mir im Westen wollen alle nur BWL und Maschinenbau studieren.
***
Ich laufe den Eichborndamm entlang. Hier gehen die kleinen Mietskasernen allmählich in Vororthäuser über. Manche Ecken wirken sympathisch, andere abschreckend (Haus Nr. 7 ist das hässlichste Gebäude Berlins). Jugendliche rufen ausgelassen „Kalaschnikow“, „Atombombe“ und „Keiner darf überleben“. Keine Ahnung, ob es um Fußball, die aktuellen Nachrichten oder ein Computerspiel geht.
Bei meinem zweiten Besuch im „Sapori italiani“ (Haus Nr. 80) sitzen bereits acht Gäste in dem kleinen Bistro. Das freut mich. Ich bestelle Tagliatelle al ragù, eiskalten Prosecco und zum Nachtisch das beste Tiramisu meines Lebens. Augenblicklich werde ich unheilbar mascarponeabhängig, im Gespräch berichtet der Kellner aus eigener Erfahrung von den gleichen Symptomen der Sucht nach der hausgemachten Creme aus Frischkäse, Ei und Zucker.
Die Laudatio des Kiezneurotikers und die Kommentare hat er inzwischen gelesen und sich sehr gefreut. Ich verspreche ihm einen Text in meinem Blog und grüße an dieser Stelle ganz herzlich das gastfreundliche Duo in Reinickendorf. Per Handschlag verabschieden wir uns. Bei meiner nächsten Berlin-Reise im Herbst werde ich wieder hier sein.
https://www.facebook.com/saporitalianiberlin
P.S.: Wenn Essen und Trinken olympische Disziplinen wären, könnte man meine drei Wochen Berlin unter der Rubrik „Sporturlaub“ verbuchen.
Alice - Per Elisa. https://www.youtube.com/watch?v=Yv3wl1uadXI

Dienstag, 21. Juli 2015

Alles oder nichts

„Die Natur braucht das Denken nicht.“ (Thomas Bernhard: Gehen)
Nichts fasziniert uns mehr als das Nichts, die Null, die vollkommene Leere. Sie ist das Ziel jeder Meditation und als Nirwana das Ziel der buddhistischen Religion. Für den Physiker besteht die Welt zwischen den kleinsten subatomaren Teilchen und zwischen den Himmelskörpern aus Nichts.
Nicht-Handeln => Nicht-Denken => Nicht-Sein
Die westliche Welt funktioniert ganz anders: mehr machen, mehr haben, mehr sein wollen. Vielleicht fühlen sich deswegen so viele Menschen von dieser Gesellschaftsform abgestoßen.

Kicking the can down the road

„Merkwürdig, wenn man drüber nachdenkt, aber wenn man nicht drüber nachdenkt geht’s.“ (Fil’s Didi & Stulle: Der Plan des Gott)
Was ist mit dem Verschieben eines Problems in die Zukunft, mit Prokrastination, mit dem „Kaufen von Zeit“ in der Politik eigentlich gewonnen? Schließlich wird auf diese Weise ja kein Problem gelöst.
Erstens ist der eigenen Bequemlichkeit gedient. Wenn ich mir vorgenommen habe, heute das Bad zu putzen, und verschiebe es auf morgen, habe ich heute den unmittelbaren Vorteil der Arbeitserleichterung. Heute habe ich mir Arbeit gespart und Zeit gewonnen. Wenn ich mir vorgenommen habe, an Silvester mit dem Rauchen aufzuhören, nach Mitternacht aber die nächste Zigarette anzünde und mir vornehme, an Ostern mit dem Rauchen aufzuhören, erspare ich mir auf der Silvesterparty die Qual der Suchtbekämpfung. Jeder von uns kennt den glücklichen Moment des Prokrastinierens – es geht natürlich immer um unangenehme Dinge, nie um die nächste Tafel Schokolade – aus seinem Alltag. Für manche Menschen besteht die Woche aus 7 x „morgen“.
Für Politiker kommt noch ein zweiter Aspekt dazu. Sie sind nur auf Zeit gewählt. Sie verschieben die Probleme also auf ihre Nachfolger. Stellen Sie sich vor, Sie verschieben nicht nur den Hausputz auf morgen, sondern es muss dann auch noch ein anderer machen. Herrlich! Griechenlands Staatsschulden? Kicking the can down the road. Läuft seit fünf Jahren, wurde gerade verlängert. Etwaige moralische Entrüstung über dieses Verhalten sollten wir uns ersparen. Was machen wir mit unserem Atommüll, nachdem wir die Energie der Kraftwerke durch unseren Schornstein geblasen haben? Bis zum Ende dieses Jahrhunderts soll ein Endlager gefunden werden. Dann sind wir alle längst tot. Was machen wir mit den zwei Billionen Euro Staatsschulden, die wir angehäuft haben? Wir prokrastinieren, wir verschieben die unangenehmen Probleme auf die Generation unserer Kinder und Enkel. Wem werden sie wohl den schwarzen Peter weiterreichen?
„Verschiebe nicht auf morgen, was genauso gut auf übermorgen verschoben werden kann“, hat Mark Twain einmal geschrieben.
P.S.: Nicht das wir uns falsch verstehen: Diese Verzögerungstaktik ist vollkommen idiotisch und führt zu nichts. Aber sie ist politische Praxis, die wir jeden Tag beobachten können. Und daher müssen die Politiker sich nicht wundern, wenn wir sie verachten.
Nana Mouskouri - Küsse süßer als Wein. https://www.youtube.com/watch?v=lp2vC8U4xm4
Bent - K.i.s.s.e.s. https://www.youtube.com/watch?v=aB_gBa9LORE

Montag, 20. Juli 2015

Iris

Es ist jetzt über zwanzig Jahre her. Aber du kommst immer an ihnen vorüber. Die kleinen Landstraßen zwischen den Dörfern. Die Gedenksteine. Wenn du anhältst, siehst du die Gesichter. Ovale Porträtfotos. Damals haben sie noch gelebt. Iris. Ich habe sie auf einer Party kennengelernt. Eine wilde Frau. Wo sie gewesen ist, war das Leben. Heroin. Sie hat es überwunden. Die Fahrt nach Hause. Sie weicht einem Wildschwein aus. Auf dem Randstreifen steht ein Lkw, den sie frontal erwischt. Sie stirbt, bevor Hilfe eintrifft. Sie wurde 21 Jahre alt. Und jedes Mal, wenn du an dieser Stelle vorbei fährst, gibt es dir einen Stich ins Herz. Auch das ist Heimat.

Theaterdonner

“Greece owes Europe some money. Europe owes Greece Western civilization. Call it even?” (God ‏@TheTweetOfGod)
Wir haben uns an der griechischen Tragödie sattgesehen, wir sind müde. Wir möchten das Theater verlassen, wir wollen aus dem dunklen Kinosaal hinaus ans Tageslicht. Die unerträgliche Berichterstattung in den Medien hat nur auf Emotionen gesetzt, nach Wochen des Dauerfeuers sind wir emotional ausgepumpt. Immer die gleichen Bilder: Menschen vor Geldautomaten. Darauf reduziert sich unser Bild von Griechenland. Und die Politik bedient sich der gleichen Methoden. Ihre Sprechblasen sind mit den Begriffen „Rettung“ und „humanitäre Hilfe“ gefüllt, die „europäische Solidarität“ wird beschworen, während es doch in Wahrheit nur um ein milliardenschweres Kreditgeschäft geht, an dem viele prächtig verdienen werden – nur die Menschen vor den Geldautomaten in Athen oder Thessaloniki sicher nicht.
Was ist das Bild, was ist das Narrativ, das wir am Ende dieser aufwühlenden Inszenierung der Politik und der Medien im Gedächtnis behalten werden? Es ist die Szene, in der ein großherziger deutscher Kaufmann dem armen griechischen Rentner am Ende doch noch einen Hunderter zusteckt, obwohl es dieser freche und faule Schlawiner eigentlich nicht verdient hat. Beim Verlassen des Theaters werden wir Tränen der Rührung in den Augen haben. Wir werden ergriffen sein von der Größe unseres eigenen Charakters, von unserer Barmherzigkeit, unserem Mitleid, unserer Gutmütigkeit und unserer geradezu sprichwörtlichen Großzügigkeit, mit der wir die Früchte unseres deutschen Fleißes unter die Bedürftigen dieser Welt verteilen.
Jetzt, nach dem schönen, aber auch ein wenig langen Theaterabend, interessieren uns die lästigen Details der „Rettung“ nicht mehr. Der arme Rentner, den wir wochenlang jeden Abend vor dem Geldautomaten gesehen haben, zahlt mit einer Rentenkürzung für den Kredit an die Banken und die Regierung? Das wollen wir nicht hören. „Undankbares Volk!“, werden wir rufen. Noch nicht einmal Danke können diese Griechen sagen.
Wir sollten uns wie Odysseus an einen Mast binden und die Ohren mit Wachs verschließen lassen, um den Sirenenklängen der Journalisten und Politiker zu widerstehen. Vergessen wir einfach, was Politiker in ihren Volksreden erklären und was ahnungslose Journalisten ihnen nachplappern. Auch wenn Schäuble als „Dr. Strangelove“, Merkel als „die kindliche Kaiserin“ und Varoufakis als „Bruce Willis“ hervorragende schauspielerische Leistungen geboten haben. Um was geht es wirklich? Um Macht und Geld. Schließlich sind wir nicht wirklich in einer Theaterinszenierung, sondern in der realen Politik – auch wenn sie uns als Theaterstück aufgeführt wird. Und die Frage lautet in der Politik – wie in der Wirtschaft - immer: Wer profitiert?
Die entscheidenden Informationen, die eigentliche Motivation der beteiligten Akteure werden uns vorenthalten. Erstens haben alle westlichen Staaten erhebliche Schulden. Da geht es um einen zweistelligen Billionenbetrag, dagegen sind die Milliardenschulden Griechenlands die sprichwörtlichen Peanuts. Auf diese Schulden werden aktuell praktisch keine Zinsen gezahlt. Deutschland hat nur deswegen einen ausgeglichenen Staatshaushalt, weil keine Zinszahlungen fällig sind. Würden wir Zinsen wie vor zehn Jahren zahlen, wären auf die zwei Billionen Euro Schulden hundert Milliarden Zinsen fällig – pro Jahr. Darum gibt man Griechenland lieber ein paar Milliarden Euro an neuen Krediten. Es ist schlicht günstiger. Denn steigende Zinsen wären Gift für den völlig überschuldeten Kapitalismus der westlichen Welt.
Es kommt noch ein zweiter Punkt hinzu: In angeblich sicheren Staatsanleihen der USA, der EU-Staaten usw. ist ein erheblicher Teil des Geldvermögens der ganzen Welt gespeichert. Und das zu den angesprochenen lausigen Konditionen – es gibt nach Abzug der Inflation keine Rendite auf diese Staatsanleihen. Ihr Trumpf ist einzig die Sicherheit als Aufbewahrungsort von Vermögen. Was ist, wenn diese Sicherheit, die bekanntlich eine rein psychologische Angelegenheit ist, als Argument wegfällt? Wenn Griechenland Bankrott gehen würde (was nach den Regeln der Marktwirtschaft längst hätte geschehen müssen), wenn die griechischen Staatsanleihen ausfallen, wenn die Lage in anderen Ländern wie Spanien oder Portugal als ähnlich bedrohlich angesehen wird, wenn über einen Dominoeffekt spekuliert wird – was passiert dann? Wenn das Vertrauen in den Westen und sein Geldsystem gestört wird, wenn es zu einer Flucht aus diesen Staatsanleihen kommen sollte, wenn es zu einer Art Mega-Bank Run kommen würde, dann bricht die Wirtschaft Amerikas und Europas, dann bricht der gesamte Kapitalismus wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Eine Weltwirtschaftskrise wäre die Folge, gegen die der Lehman-Crash 2008 nur ein laues Lüftchen gewesen ist.
Die Welt braucht die westlichen Staatsanleihen – übrigens ebenso wie einen stabilen Dollar und einen stabilen Euro als Weltwährung -, und daher braucht sie auch die Illusion ewig währender Sicherheit. Alle Akteure dieser Inszenierung wissen das. Also muss die alberne und bizarre Farce – Griechenland als solider Bestandteil der westlichen Welt – aufrechterhalten werden. Die neue griechische Regierung, die nach der Abwahl der alten Garde im Augenblick den Harlekin und den Hofnarren spielt, der die alten Zausel in Berlin, Brüssel und Washington ein bisschen ärgert, wird sich in ihre eigentliche Rolle fügen. Denn es ist und bleibt für alle Beteiligten ein gutes Geschäft. Sonst würden sie es ja nicht machen. Es geht also nicht um „humanitäre Hilfe“ oder „europäische Solidarität“, sondern um vitale Kapitalinteressen der gesamten westlichen Welt. Habgier ist und bleibt der Wesenskern unserer Gesellschaftsordnung. Deswegen kann man sich das ganze Medientheater auch komplett sparen. Alles nur Show. Regie: Obama, Merkel u.a.. Die Strategie heißt daher auch weiterhin (wie ich schon Anfang des Jahres schrieb): Kicking the can down the road.
http://kiezschreiber.blogspot.de/2015/02/die-akropolis-von-berlin.html
Die gescheiterte Austeritätspolitik, mit der Deutschland und andere so prächtig verdienen, wird fortgesetzt – zugekleistert mit dem Pathos einer angeblichen „Rettung“. Und nebenbei bekommen alle Zuschauer dieser schäbigen Inszenierung vorgeführt, wie eine Welt ohne Geld und ohne Banken aussehen würde: das blanke Chaos. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Kapital. Die spanische Protestbewegung Podemos hat während der Aufführung des Griechenland-Dramas ein Drittel ihrer Wähler eingebüßt. Wer profitiert also? Wer zahlt die Zeche? Jeder kann sich diese Fragen selbst beantworten. Keiner von uns kann dem kapitalistischen System entkommen. Wir sind alle Passagiere eines Hochgeschwindigkeitszugs, für den keine Haltepunkte und Ausstiegsmöglichkeiten vorgesehen sind.
Inzwischen gibt es keine „richtige“ Lösung mehr für Griechenland. Der Fall erinnert an einen Junkie, der völlig von seinem Dealer abhängig ist. Der Dealer ist die Troika (EU, EZB, IWF) und die Drogen sind Kredite und Importe (Griechenland stellt weder eigene Medikamente, Autos, usw. her). Macht man weiter wie bisher, stürzt man den Abhängigen immer tiefer ins Elend, er wird von Monat zu Monat kranker. Setzt man ihn auf kalten Entzug (Grexit), geht er durch die Hölle. So oder so – der Junkie wird garantiert in der Gosse landen: Entweder er begibt sich mit seinem ganzen Besitz endgültig in die Hände des Dealers (Privatisierung der Häfen usw.), bei dem er bereits riesige Schulden hat, oder er beendet das Abhängigkeitsverhältnis und verhungert, weil er die Importe nicht mehr bezahlen kann (da die Drachme, die im Falle eines Grexits eingeführt wird, stark abwerten wird, so dass man das Geld für Medikamente, Autos usw. nicht mehr aufbringen kann).
Verpassen Sie also nicht „Die Hard 4“ (deutscher Verleihtitel „Das vierte Hilfspaket“)! Demnächst in einem Theater oder einem Lichtspielhaus ganz in Ihrer Nähe. Der Steuerzahler hat Eintritt für dieses ergreifende Trauerspiel bezahlt und so wird dieses Stück sicher noch häufiger zur Aufführung kommen.
P.S.: Es gibt immer jemanden, der sagt, dass die Musik nach 22 Uhr leiser gemacht werden muss. Und den Verzweifelten raunt er zu: „Schreien Sie bitte etwas leiser, meine Kinder schlafen schon“. Schließlich gibt es Regeln. Gut, dass es uns Deutsche gibt.
The Clash – Lost in the Supermarket. https://www.youtube.com/watch?v=qsrEAWcAvRg

Sonntag, 19. Juli 2015

Berlin-Extrakt

„Das Unglück ist, dass jeder denkt, der andere ist wie er, und dabei übersieht, dass es auch anständige Menschen gibt.“ (Heinrich Zille)
Ich steige am Bahnhof Zoo aus der S-Bahn und gehe mit schlafwandlerischer Sicherheit die Treppenstufen hinunter, die mich direkt zu Ullrich führen. Sonntagnachmittag, der Supermarkt ist voll. Vor mir an der Kasse bezahlt ein älterer Herr mit verwaschenen Tätowierungen auf beiden Handrücken und braun gebranntem Bauerngesicht, Schiebermütze und Joppe (ich tippe auf Balkan) sein Mittagessen, bestehend aus zwei Rex-Pils, einem 5cl-Wodkafläschchen und einer Packung Salzstangen, mit Kleingeld, Messing- und Kupfermünzen, bis die geduldige Kassiererin „Stop“ ruft.
Ich packe meine Weizenbierflaschen in den Rucksack und gehe zur U-Bahn. Im Zug eine dicke junge Frau mit dem Das-Leben-ist-beschissen-Blick und ein alter Mann in einem kurzärmeligen, zweifarbigen „Freizeithemd“ mit einem Knopf (geschlossen) und linker Brusttasche (leer).
Prager Platz. Aus einem Hofdurchgang weht der süße Geruch verwesender Kotze. Auf der Straße ein schreiender Verrückter, der wild mit den Armen fuchtelt. Dann der erste Pfandflaschensammler. Durch eine bunte Blumenmauer von ihnen getrennt sitzen adrette Ehepaare mit ihren Kindern und genießen die mediterrane Küche und das schöne Wetter. Ich bin wieder da.
***
Kreuzberg. Die U 1 heißt jetzt U 12. Neben mir sitzt Frau Nguyen aus Vietnam und füllt in Großbuchstaben eine “Verpflichtungserklärung” aus. Deutsche Mysterien, Teil 71: das Formular.
Junge Amerikaner mit riesigen Vollbärten. Ich würde sie gerne fragen, ob man bei dieser Hitze nicht unter der Wolle schwitzt. Die Frauen spielen das alte Spiel: Lost in Handtasche (Format DIN A 2).
***
Rückblende („Wow! Tolle Dramaturgie”)
Der Morgen nach der Party. Um sieben Uhr wache ich auf, nach vier Stunden Schlaf. Wir haben in einem Garten in Poppenbüttel gefeiert, etwa sechzig Leute, von denen ich einige seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Aus Kindern, die ich als Baby auf dem Arm gehalten habe, sind baumlange Studenten geworden.
Mein Hotelzimmer hat die Größe einer Schiffskajüte, etwa 5 qm, und ins „Bad“ kann ich mich nur seitwärts hineinschlängeln. Ein düsterer Hinterhof wie in Brooklyn. Im Frühstücksraum sitzen rechts von mir Ostasiaten, vor mir Afrikaner. Das komplette Hotelpersonal ist arabischer oder persischer Herkunft. Auf den Straßen von Wandsbek die gleiche Metropolenmischung. Es fühlt sich alles nach Urlaub, nach großer weiter Welt an.
Gut gelaunt fahre ich mit der S-Bahn zum Hamburger Hauptbahnhof. Auf dem Bahnsteig ein paar Punker. Keiner sieht aus wie der andere, aber alle erfüllen die optischen Klischees der Achtziger (Bahnhof Zoo-Version): einer mit kurzen grünen Haaren, abgewetzter Lederjacke, Shorts und Springerstiefeln, einer mit bunten Haarstacheln (halber Meter), schwarzer Hose und schwarzem Shirt, Punker-Freundin im Minirock mit Strapsen über den dicken Beinen, Haare blau und wasserstoffblond, ein großer Hund ohne Leine und als Exot ein Typ mit Rastafrisur und zitronengelbem Sommerhütchen. Sie sind laut, weil es dazu gehört. Ghettoblaster. Gespräche erschreckend normal. Im Zug wollen sie alle erstmal kacken gehen. Sie haben Fahrkarten und kaufen sich beim Bäcker süße Teilchen. Dann steigen sie in den Regionalexpress Richtung Rostock.
***
Tian Fu heißt übersetzt: brennender Schlund der Hölle. Jede Wette. Es gehört zu meinen kulinarischen Berlin-Ritualen: Gulasch und Bier in den „Prager Hopfenstuben“, der erste Döner und die Sichuan-Küche des „Tian Fu“ in der Uhlandstraße, wo ein maliziös lächelnder Teufel mit roten Hörnern am Kochtopf steht. Jeder Schluck Schwarzbier verteilt die Schärfe weiter in Mund und Rachen, erhöht den Schmerz und verhöhnt die Bitte um Linderung der lukullischen Qualen. Aber hinterher, wenn man sein ganzes Inneres mit dem Napalm der Chili-Schote ausgebrannt hat, fühlt man sich unglaublich gut.
Ich sitze an einer Bushaltestelle und sehe mir in Ruhe den knallroten Sechziger-Jahre-Sportwagen an, dessen Motor wie ein Schiffsdiesel brummt. Am Steuer sitzt ein cooler Typ mit Sonnenbrille und Zopf, neben ihm die unvermeidliche Blondine. Wenn sie nicht im Stau an einer Baustelle stehen würden, wäre ich beeindruckt.
Immer wieder lustig: das Outdoor-Outfit in der Innenstadt, vorzugsweise von Touristen präsentiert. In einer Stadt, in der gefühlt alle zehn Meter ein Bäcker, Metzger, Kiosk, Supermarkt oder Restaurant genügend Lebensmittel bereithält, wirken sie mit ihren Rucksäcken, Wasserflaschen und Jack-Wulfskin-Klamotten so, als müssten sie heute nach dem Kaffee noch auf den Nanga Parbat.
Durch das Fenster der S-Bahn sehe ich eine Baubrache. Am Zaun hängt ein Schild: „Event-Fläche zu vermieten“. Wer mal eine Nacht an den S-Bahn-Gleisen feiern will …
Die S-Bahn bringt mich zum Wannsee. Der beruhigende weite Blick über das Wasser. Dann die schönen alten Villen in Nikolassee, die Stille atmen wie hundertjährige Bäume. Frühstück bei „Uncle Sam“ in Zehlendorf, daunenzarte Pancakes mit Ahornsirup. Es ist nichts los, ich komme mit dem Wirt ins Gespräch. Ich erfahre eine Bemerkung zu spät, dass die hübsche Bedienung seine Tochter ist. No problem, er grinst.
***
36 Grad im Schatten. Ein Tag wie geschaffen für die deftige polnische Küche. Ich sitze im Filafood in der Grünberger Straße auf einem bequemen Sofa mit Blick auf die Straße und schwitze in ein Gulasch mit köstlichen schlesischen Klößen. Warum gibt es in dieser Stadt – nur sechzig Kilometer von der Grenze entfernt und mit zehntausenden polnischen Mitbürgern – eigentlich kein größeres Angebot an polnischen Restaurants? Im Internet habe ich nur zwei gefunden und das Filafood ist ein winziger Imbiss, in dem der Koch selbst serviert und kassiert. Da hat Berlin noch erheblichen Nachholbedarf.
Staropramen: Der Schaum sahnig glatt wie eine Wolke, das satte Honiggelb des Biers, ungestört durch lästige Aktivitäten der Kohlensäure. In drei tiefen Zügen ist das Glas geleert, kein Völlegefühl, kein Aufstoßen. Der nächste halbe Liter wird angefordert. So läuft es in den „Prager Hopfenstuben“.
U 2, Alex. Mir gegenüber sitzt ein alter Mann mit schlohweißem Haarkranz um die Glatze. Die gesammelten Pfandflaschen klappern in seinen Plastiktüten. Auf seinen Unterarmen sind grobe Tätowierungen, wie mit einem dicken schwarzen Edding gezeichnet. Rechts eine Frau mit einer hohen Sechziger-Jahre-Frisur, links eine Asiatin mit Strohhut, darunter steht „Shanghai“. Ich würde ihn gerne nach seiner Geschichte fragen, aber trotz dreier Staropramen und einem Becherovka wage ich es nicht. Ein ungeschriebenes Gesetz der Stadt: Quatsch niemanden an.
Ein Restaurant mit dem Namen „Führerbunker“ würde bei britischen Touristen einschlagen wie eine Bombe, um nicht zu sagen: wie eine V 2.
***
Sonntagsausflug nach Lichterfelde. Schöne Villen, Ruhe und Grün. In der beschaulichen Ferdinandstraße sitze ich in einem österreichischen Gartenlokal und genieße Wiener Schnitzel, Erdbeertiramisu und das Bier der Alpen (Danke für den Tipp, Tano!).
Der Himmel über Berlin ist blind. Die Sterne sind nur gemalt – auf Häuserwände.
Alberne Tätowierungen: Ein Wolf, über ihm ein Vollmond, vor dem ein Raubvogel schwebt, Marke Groschenheft-Cover, gesehen auf dem Unterarm eines etwa achtzehnjährigen adipösen Vollhorsts; zwei Theatermasken (Komödie, Tragödie), umgeben von botanischem Geschörkel, gesehen auf dem Oberarm einer etwa zwanzigjährigen Trulla.
***
Am letzten Tag spaziere ich die Hermannstraße entlang, eine meiner Berliner Lieblingsstraßen. Abstecher in den Schillerkiez, in dem mein letzter Berlin-Krimi angesiedelt ist. Ein junger Mann mit dunkelblonden Rastazöpfen bis zu den Knöcheln trägt eine Kiste mit leeren Saftflaschen vorüber. Ich trage ein ausgeblichenes Borussia-Mönchengladbach-Retro-Shirt, das meinen Bauch besonders zur Geltung bringt, und werfe den jungen, gutaussehenden, schlanken Mittelschicht-Hipstern (Typ Tourist/Gentrifizierer), die auf dem Bürgersteig an mir vorübergehen, vernichtende Blicke zu („Ick heiße Harald, bin langzeitarbeitsloser Lackierer uff Umschulung zum Bewährungshelfer und fordere Milljöhschutz“). Merke: Zugereiste erkennt man an der Mateflasche, Einheimische an der Bierflasche. Der weite Blick über das Tempelhofer Feld. Kleine nette Gärten, dazwischen hässliche EIGENTUM-Schilder.
Letzte Molle in den Prager Hopfenstuben, nochmal Prager Gulasch. Ein Rentner mit Rollator spricht mich über den Gartenzaun der Terrasse auf Berlinerisch an, ob ick nen Jroschen hätte. Dann zieht er die Mütze und hält sie mir hin. Er bekommt den einzigen Euro, den ich in drei Wochen verschenke.
The Pogues - Poor Paddy On The Railway. http://www.youtube.com/watch?v=yGL4ZtvDN0o