Sonntag, 22. April 2012
Der Wedding ist die Zukunft
Not macht erfinderisch, sagte schon mein Großvater, als er, zum Entsetzen meiner Großmutter und zu meinem stillen Entzücken, den Suppenteller an der Unterlippe ansetzte und den Rest ausschlürfte. Modern formuliert: Armut macht kreativ. Mit viel Geld lässt es sich einfach und bequem leben. Aber mit wenig Geld ein gutes Leben zu führen, das ist eine Herausforderung, der man sich täglich stellen muss. So betrachtet sprüht der Wedding nur so vor Ideen, seine vibrierende Lebendigkeit unterscheidet das Viertel vorteilhaft vom saturierten Prenzlauer Berg, von dem sich die Kreativen gerade verabschieden – von den arrivierten oder älteren Exemplaren einmal abgesehen. Die Armut (und die damit verbundenen Freiräume, günstigen Mieten, niedrigen Lebenshaltungskosten usw.) ist also der Standortvorteil Nummer 1 für den Wedding und natürlich auch für Gesundbrunnen.
Vorteil Nummer 2 ist die Vielfalt der Kulturen. Wenn es stimmt, dass sich die ganze Welt miteinander vernetzt und die vielen hundert Kulturen einander immer näher rücken, dann sind die Netzknoten die Orte, an denen sich diese Entwicklung am deutlichsten manifestiert. Berlin ist einer dieser globalen Netzknoten und in Berlin sind es die Innenstadtteile wie der Wedding, wo dieser historisch einmalige Prozess konkret stattfindet. Wenn es hier bei uns im Wedding klappt, dann klappt es auch in der ganzen Welt. Wenn sich hier die unterschiedlichen Kulturen gegenseitig verstehen lernen, wenn sie es schaffen, einen gemeinsamen Lebensalltag in ihrem Kiez zu gestalten, dann strahlt diese positive Erfahrung auch auf die kleineren Städte, auf die Dörfer oder kurz: auf die Peripherie ab. Und das läuft im Internetzeitalter schneller als man denkt. Der Wedding ist natürlich kein amerikanischer „melting pot“, hier entsteht kein Amalgam aus alten Kulturen, sondern ein lebendiges Mosaik aus vielen hundert Steinen, das dennoch ein harmonisches Bild ergibt. Die Vielfalt bleibt erhalten und bietet Anregungen für Bewohner und Besucher des Viertels.
Wer den Wedding unterstützt, trägt buchstäblich zum sozialen und kulturellen Fortschritt bei. An Orten wie dem Wedding entscheidet sich die Zukunft unserer Gesellschaft. Jedes Engagement ist eine Hilfe auf diesem Weg. Weitere Infos unter www.bürgerstiftung-wedding.de
Dienstag, 10. April 2012
Geilomat
Zu Kaisers Zeiten waren die Dinge, die uns begeisterten, „fabelhaft“ oder „enorm“. In meiner Kindheit waren sie „toll“, danach wurden sie „super“, in meiner Jugend waren sie "grell" oder geil" und als Erwachsener bezeichneten wir sie als „spannend“ oder „groß, wirklich ganz groß“. Im 21. Jahrhundert wurden die Dinge dann „krass“ und jetzt sind sie „voll porno“. Wohin wird die Begeisterung unsere Sprache noch führen?
Montag, 2. April 2012
Gratulation, Magic Ray!
Kennen Sie Ray Dalio? Der Mann ist 62 Jahre alt und arbeitet im schönen Westport, Connecticut, als Hedgefonds-Manager. Im Jahr 2011 hat er muntere 3,9 Milliarden Dollar verdient. Ja ja, jetzt höre ich schon wieder das neidische Gekeife von irgendwelchen Minderleistern: Das ist zuviel! Ich nenne solche Kommentare: Tyrannei der Masse! Aber das Prekariat hat sein Leben nun einmal der spätrömischen Dekadenz gewidmet und verliert im Shitstorm der Empörung schnell die Übersicht. Schon die lächerlichen 17 Millionen Euro Jahresgage für den VW-Chef erschienen ihnen als überzogen. Ray Dalio verdient jeden Tag etwa halb soviel wie Martin Winterkorn im Jahr – auch an Sonn- und Feiertagen oder im Urlaub. Und wenn ich das jetzt auf die Schnelle richtig im Kopf gerechnet habe, sind das 123 Dollar pro Sekunde. Oder man bekäme bis ins 328. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Hartz IV. Das ist doch eine großartige Leistung, das muss man doch mal anerkennen, das wird man doch mal sagen dürfen. Und wer hindert all die Kritiker eigentlich daran, selbst einen Hedgefonds zu gründen oder Vorstandsvorsitzender zu werden? Stichwort „Anschlussverwendung“?! Ich jedenfalls drücke Ray die Daumen, dass er in diesem Jahr noch eine Schippe drauflegt. Bei 3,9 Milliarden ist noch Luft nach oben …
Sonntag, 1. April 2012
Ein Nachbar
Es kommen immer wieder alte Menschen nach Berlin, die hier in kürzester Zeit zugrunde gehen. Sie laufen durch die Kulissen ihrer Jugendträume, aber sie können den Zauber ihrer früheren Sehnsucht nach einem Leben jenseits bürgerlicher Konventionen nicht mehr heraufbeschwören. Sie geben ihr altes Leben in München oder Osnabrück auf (die Kinder haben sich längst ihre eigene Existenz aufgebaut, der Lebenspartner ist verstorben oder verschwunden), ziehen aus einer Altersverzweiflung heraus in die Hauptstadt und bleiben hier allein, weil sie vergessen haben (oder weil sie es nie wussten), dass man im Alter keine Freunde mehr findet; nur andere einsame Menschen, die jemanden suchen und die doch ähnlich abgestumpft und erloschen sind wie sie selbst. Sie ziehen in mein Viertel, meine Straße, mein Haus, um ein neues Leben zu beginnen, und sterben hier in der kürzesten Zeit. Womöglich erlangen sie erst hier das Stadium vollständiger Resignation und sie begreifen, dass ihnen all das Geld aus München oder Osnabrück im Diesseits nichts mehr nützen wird. Ein solcher Unglücksmensch lebt in der Wohnung neben mir. Ich sehe seinen Niedergang, er nimmt stetig ab und eitrige Geschwüre plagen ihn an Hals und Rücken. Einst ein stolzer und kräftiger Handwerksmeister, ist er binnen weniger Monate ein weinerlicher Greis geworden. Er überzieht jeden Mitbewohner mit seinem Wehklagen, seinem Zorn auf die Menschen, auf die Hitze und die Kälte, auf den Tag und die Nacht. Bald werden sie seinen Sarg zunageln und ihn eingraben, ich kenne diesen Zerfallsprozess, diesen Vernichtungsvorgang zur Genüge.