Dienstag, 6. Juni 2017

Heimweh nach Helsinki

An der Bonetti University™ können Sie Creative Writing lernen. Hören wir dem Meister für einen Augenblick zu, der gerade vor einer Gruppe Erstsemester doziert.
„Literatur ist ein knallhartes Geschäft. Sie müssen ein guter Verkäufer sein, sonst verdienen Sie keinen Cent in dieser Branche. Dieses Geschäft ist dreckig und es ist brutal. Ich habe vorher im Gebrauchtwagenhandel und im Offshore-Heizdeckenvertrieb gearbeitet. Ich weiß, wovon ich rede. Sehen Sie nach links und sehen Sie nach rechts.“
Die Studenten wenden brav den Kopf nach beiden Seiten.
„Das sind die Konkurrenten, gegen die Sie auf dem Buchmarkt antreten. Neun von zehn Autoren scheitern in den ersten zwei Jahren. An dieser Universität lernen Sie, zu den Überlebenden zu gehören. Soll ich Ihnen jetzt verraten, wie Sie eine gute Story schreiben?“
„Ja“, rufen die Studenten im Chor.
„Ich kann Sie nicht hören.“
„Ja“, brüllen alle, so laut sie können.
„Entscheidend an einem Text ist die Überschrift. Nur eine fesselnde, eine packende Überschrift bewegt den Leser dazu, Ihren Text zu lesen. Dazu brauchen Sie Catchwords, die den Leser emotional bewegen oder ihn neugierig machen. Fangen wir mit einem emotionalen Begriff an. Liebe und Tod gehen immer. Was sollen wir nehmen?“
„Heimweh“, sagt ein Student.
„Sehr gut. Heimweh. Und jetzt ein Ort. Er sollte bekannt sein, aber eigentlich darf keiner Ihrer Leser dort gewesen sein, sonst wird die Recherche zu aufwändig. Haben Sie eine Idee?“
„Helsinki“, schlägt eine Studentin vor.
„Ausgezeichnet. ‚Heimweh nach Helsinki‘. Jetzt haben wir einen Titel, das ist die halbe Miete. Und wir haben die ersten Handlungsfäden. Wer hat Heimweh nach Helsinki? Natürlich ein Finne. Was ist seine Handlungsmotivation? Er will nach Hause. Was heißt das? Er ist gerade nicht in Helsinki. Warum will er ausgerechnet jetzt nach Helsinki? Weil etwas passiert ist, weswegen er zurück in seine Heimat muss. Damit haben Sie den Plot bereits skizziert. Verstanden?“
„Ja, Herr Bonetti“, rufen die Studenten, die eifrig mitschreiben.
„Jetzt brauchen wir einen Namen. Kennen Sie einen Finnen?“
„Aki Kaurismäki.“
„Sehr gut. Wir brauchen einen Namen, der ähnlich klingt. Richtig finnisch, nach Ansicht des Lesers, der auch nicht mehr weiß als Sie. Zu diesem Zweck geht man bei Wikipedia auf die Seite der Fußballmannschaft des betreffenden Landes und sucht sich einen Namen. Wichtig ist, dass Sie Vor- und Nachnamen von verschiedenen Spielern nehmen, damit Ihnen kein findiger Leser auf die Schliche kommt. Haben Sie einen Namen? Und bitte nichts Kompliziertes. Denken Sie daran, dass Sie den Text vielleicht einmal während einer Lesung vortragen müssen.““
Die Studenten befummeln eifrig ihre Smartphones.
„Jarko Hämäläinen.“
„Gut. Unser Finne in der Fremde heißt Jarko Hämäläinen. Was ist das Motiv für sein Heimweh? Denken Sie daran, dass der Leser emotional bewegt werden will.“
„Seine Mutter ist plötzlich krank geworden“, schlägt eine Studentin vor.
„Perfekt. Welche Krankheit hat Sie? Es muss unserem Helden genug Zeit geben, die Heimreise anzutreten, aber ihn gleichzeitig auch unter Zeitdruck setzen, damit wir die Handlung vorantreiben können.“
„Krebs im Endstadium.“
„Nehmen wir. Warum hat er überhaupt das Land verlassen? Suchen Sie einen Grund, den der Leser innerlich ablehnt, damit er sich mit dem Protagonisten und seiner Handlungsmotivation identifiziert.“
„Geld.“
„Genau. Er hat einen Job angenommen, der ihn zwar wohlhabend gemacht hat, ihm aber keine persönliche Befriedigung verschafft hat. Er kann frohen Mutes zurück nach Helsinki. Er hinterlässt nichts, was ihn emotional bindet. Ein Golden Retriever, der gerade zehn Welpen bekommen hat, würde Ihnen die Story kaputt machen, verstehen Sie?“
Die Studenten lachen.
„Gut. Kommen wir zum Anfang der Geschichte. Die ersten Sätze sind immer sehr wichtig. Steigen Sie in eine dramatische Szene ein. Und fangen Sie mitten in der Szene an, quasi auf ihrem Höhepunkt. Den Rest erklären Sie im Anschluss. Der Leser muss von der ersten Zeile an gefesselt werden. Er darf nicht mehr aussteigen. Die erste Szene könnte also das Telefonat sein, bei dem der Protagonist von der Erkrankung seiner Mutter erfährt“, erklärt Bonetti und fährt mit verstellter Stimme fort: „Oh nein, nicht mein Mutter. Warum ausgerechnet sie?“
Die Studenten lachen erneut.
„Jetzt habe ich Ihnen den Plot skizziert und eine Idee für den Anfang geliefert, der immer etwas schwierig ist. Bis nächste Woche schreibt jeder von Ihnen eine Kurzgeschichte von mindestens zehn Seiten.“
The Electronic Circus - Direct Lines. https://www.youtube.com/watch?v=suN-TBGCHDY

3 Kommentare:

  1. Ich hab die Woche viel zu tun. Ende Juni ist auch noch okay?

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    1. Wenn Sie später mal bei Bonetti Media einsteigen wollen, sollten Sie lernen, Prioritäten zu setzen. Bis Ende Juni? Okay. Aber dann in fünffüßigen Jamben.

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  2. Komisch, warum klappt es bei mir nicht, wenn es doch so logisch und eingängig ist, ein Stück zu schreiben? Denke ich werde auch mal das Seminar besuchen...

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