Dienstag, 4. April 2017

Hypochondrie ist heilbar

Eines Abends lag Wehrlein gemeinsam mit seiner Frau im Bett. Nachdenklich betrachtete sie seine nackte Brust.
„Ist dir schon mal aufgefallen, dass deine Brustwarzen seit dem letzten Jahr gewachsen sind?“
„Nein“, antwortete er überrascht.
„Außerdem ist die linke Brustwarze größer als die rechte.“
„Das kann nicht sein.“ Ärger hatte sich in seine Stimme geschlichen.
Seine Frau lächelte. „Schau es dir doch selbst an.“
Wehrlein versuchte, im Liegen auf seine Brust hinunterzuschauen, aber sein kräftiges Kinn verhinderte, dass er den Kopf weit genug senken konnte. „Ich seh nix“, antwortete er trotzig.
Damit hatte er sogar recht, aber seine Frau interpretierte den Tonfall seiner Antwort als Leugnung der Tatsachen und sagte: „Dann schau doch mal in einen Spiegel.“
Für seine Verhältnisse sprang Wehrlein fast behende aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Waren seine Brustwarzen wirklich gewachsen? Er hatte nie darauf geachtet. Aber es schien, als sei die linke Brustwarze tatsächlich etwas größer als die rechte. Oder bildete er sich das nur ein? Sollte er einen Zollstock holen? Und was konnte das bedeuten?
Die Fragen schossen nun unkontrolliert durch seinen Kopf. Waren die Östrogene im Bier daran schuld? Tschernobyl oder der Klimawandel? Bekam er Brustkrebs? Als Mann? War das möglich? Und wie sollte man einem Mann die Brust amputieren? Vorsichtig tastete er seine Brustwarzen ab. Waren darunter nicht kreisrunde Knoten?
Beunruhigt ging er ins Schlafzimmer zurück.
„Du hast recht.“
„Siehst du. Geh doch mal zum Arzt. Vielleicht ist es was Ernstes.“
Am nächsten Tag ging Wehrlein in die Praxis seines Hausarztes. Er wollte wissen, wie lange er noch zu leben hatte.
Hypochonder warten ihr ganzes Leben auf einen solchen Moment. Er musste ein Testament machen. Sich von seinen Liebsten verabschieden. Die letzten Dinge regeln. Er schluchzte vor Selbstmitleid, als er sich seine eigene Beerdigung vorstellte.
Wehrlein gab der Arzthelferin mit einem tiefen Seufzer seine Versicherungskarte und setzte sich ins Wartezimmer. Er sah die Werbeplakate für den nächsten Christopher-Street-Day und die Schwulenberatung an den Wänden, dachte sich aber nichts dabei. Nervös blätterte er in einer alten Illustrierten und tat das, was man in diesen Zimmern zu tun pflegte: warten.
Endlich saß er im Behandlungszimmer Dr. Mühsam gegenüber und schilderte ihm seinen Fall.
„Ziehen Sie bitte mal das Hemd aus.“
Dann stand Wehrlein vor dem Arzt, der routiniert seine Brust abtastete. Angestrengt sah er an dessen Gesicht vorbei und konzentrierte sich auf einen Farn, der aus einem Terrakottatopf wuchs. Dann fiel sein Blick auf die Schwarz-Weiß-Fotografien von muskulösen Männerkörpern an der Wand.
In diesem Augenblick wurde ihm alles klar. Schlagartig. Als ob ein jäher Blitz die finstere Landschaft seiner Schande beleuchten würde: Ein Schwuler begrabschte gerade seine Biertitten.
Es war wie ein Alptraum, aus dem er nie wieder erwachen würde. Er hatte sich komplett zum Idioten gemacht. Wie konnte er auch nur eine Sekunde annehmen, er wäre an Krebs erkrankt? Es war ein herzzerreißend peinlicher Augenblick und die Diagnose unterstützte das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben.
Er habe keinen Brustkrebs, sagte der Doktor ruhig. Und die unterschiedliche Größe der Brustwarzen ließe sich darauf zurückführen, dass er als Linkshänder eben eine größere linke Brustwarze und Brust hätte. Das sei vollkommen normal. Natürlich konnte Wehrlein nach diesem Ereignis die Praxis seines Hausarztes nicht mehr betreten. Niemals. Unter keinen Umständen.
Billy Idol – White Wedding. https://www.youtube.com/watch?v=AAZQaYKZMTI

1 Kommentar:

  1. Schön und in weiten Teilen treffend beschrieben. Doch ich glaube, Sie unterschätzen Hypochonder. Davon würden wohl nur die wenigsten davon abgehalten werden, zum Arzt zu gehen. ;)

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