Samstag, 22. April 2017

Gedanken aus dem Wirtshaus

„Auf dem Lande geschieht im Grunde genommen auch mehr, als in der Stadt; denn dort liest man die Geschehnisse kalt und gelangweilt aus der Zeitung, während sie hier von Mund zu Mund fieberisch und atemlos erzählt werden.“ (Robert Walser: Geschwister Tanner)
Wie frei ist man in einem Land, in dem selbst eine so harmlose und friedfertige Sache wie der Schlaf vielerorts verboten ist? Ich sitze im Wirtshaus, auf dem Tisch stehen die sanft und schön geschwungenen Weizenbiergläser, und achte kaum auf die Erzählung meines Gegenübers. Was wäre, wenn ich an diesem Tisch einschliefe? Die Kellnerin würde mich sicher wecken, denn es ist nicht erlaubt, im Wirtshaus zu schlafen. Wo ist das Schlafen erlaubt? In einer Bankfiliale, in einem Supermarkt, in einer Bäckerei? Kann ich mich einfach auf den Bürgersteig legen und schlafen? Der Schlaf ist von Verboten umzingelt. Für den Schlaf haben wir das Schlafzimmer und im Schlafzimmer wiederum das Bett. Das eigene Bett natürlich, denn wir haben es hier mit Begriffen wie Besitz und Territorium zu tun. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn ich ungefragt in ein anderes Haus ginge und mich dort in ein Bett legte. Man würde die Polizei rufen. Oder stellen Sie sich vor, sie wären zum Essen bei Freunden eingeladen und gingen nach dem Essen in deren Schlafzimmer, zögen sich aus und würden in deren Bett schlafen. Es wären keine Freunde mehr.
Wo kann ich also ungestraft einschlafen? In der U-Bahn? Nur begrenzt, denn an der Endstation heißt es: „Alle aussteigen“. Auf einer Sitzbank oder im Park ist es bestenfalls geduldet und die Schläfer stehen im Regelfall außerhalb der bürgerlichen Ordnung. Sie haben kein Geld, keine Adresse, keine Zukunft – sie haben nichts mehr zu verlieren. Wir schauen an diesen Schläfern vorbei, mancher rümpft missbilligend die Nase und klagt über den Verfall der Sitten in seiner schönen Stadt. Der Schlaf ist nicht frei, der Schlaf ist an feste Regeln und Gesetze gebunden. Aber der Gedanke ist tröstlich, dass der Schlafende in seinen Träumen von all dem nichts merkt. Ja, der Schlafende ist frei, wenn auch nur innerlich. Seine Freiheit endet, wenn er aufwacht. Oder wenn man ihn weckt.
Während die Erzählung meines Gegenübers kein Ende nehmen will, trinke ich in langen Zügen mein Bier und freue mich an meinen kleinen Wirtshausbeobachtungen. Am Nachbartisch ist eine große Familie versammelt, vielleicht sind es auch zwei oder drei Familien, denn es sind viele Erwachsene und wenige Kinder. Eine Frau hat gerade verkündet, sie sei Fan von Borussia Dortmund. Ein Mädchen, sie ist vielleicht vier Jahre alt, antwortet fröhlich: „Ich bin Fan von Biene Maja.“ Später fragt sie, wie das Schwein heißen würde, dessen Fell an der Wand hängt. Tatsächlich hängt ein großes Wildschweinfell im Wirtshaus. Hat sich jemals ein Mensch die Mühe gemacht, nach dem Namen des Tiers zu fragen? Selbstverständlich bekommt das Kind keine Antwort. Nur die Unfreien haben Namen, die Tiere im Wald brauchen diese Albernheiten nicht.
Bald darauf gehen die Familien und ich sehe das kleine Mädchen, als es ausgiebig den ausgestopften Fuchs in der Ecke streichelt, den noch nicht einmal die Hunde beachten. So sanftmütig und naiv möchte ich noch einmal sein. Sie denkt vermutlich, der Fuchs würde nur schlafen. Ich weiß, dass sie eine Leiche liebkost. Mit gutem Appetit verspeise ich mein Rumpsteak und bestelle noch ein Hefeweizen.
Blondie – Denis. https://www.youtube.com/watch?v=ahGxiSV_LH0

2 Kommentare:

  1. Nunja, letztlich muss ich da mal 'ne Lanze Lanze für meine Heimatstadt brechen (wie auch immer das gehen mag). Wachte doch da vor kurzem eine vollverschleierte Frau von tiefdunkler Hautfarbe auf und fragte mich (wobei ich nur den Namen der Station verstand) nach eben dieser der Station von der wir gerade losgefahren waren.

    Sie musste also auf bei der Einfahrt, auf dem Abstellgleis im Tunnel, beim wiedereinstellen und beim Abfahren tief und fest geschlafen haben.

    Ein paar Mädels in ihrem Alter sind dann mit ihr ausgestiegen und haben Sie zur S-Bahn auf dem Gegengleis begleitet. Die Welt ist wohl bei weitem nicht so schlecht wie man so annimmt hab ich da gedacht. Vermutlich zu Recht.

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  2. Wissen Sie, mit drei Kindern & Hind gehört Ihnen nicht mal mehr das Sofa zum Schlafen. Ich fühle mit Ihnen.

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