Sonntag, 4. September 2016

Merkunwürdig

„Wenn wir Schatten euch beleidigt,
O, so glaubt – und wohl verteidigt
Sind wir dann! – ihr alle schier
Habet nur geschlummert hier
Und geschaut in Nachtgesichten
Eures eignen Hirnes Dichten.”
(William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum)
„Es ist eine wahre Geschichte. Deswegen ist sie auch so kompliziert. Ich fange einfach irgendwo mittendrin an.“ Das sind die ersten Sätze, die ich an diesem Morgen auf meinem Notebook schreibe. Ich sitze an einem kleinen Küchentisch. Hinter dem Tisch ist die Spüle, dahinter die Toilettenschüssel. An der Wand sind Regalbretter, auf denen ich die Hinterlassenschaften meines Vormieters finde. Einige säuberlich zusammengelegte Geschirrtücher, aber auch drei Handgranaten. Rechts von mir ist das Küchenfenster, durch das ich einen belebten Bahnsteig sehen kann. Gestern Abend bin ich von einer langen Reise zurückgekommen. Der Zug hatte Verspätung und ich war acht Stunden unterwegs gewesen. Die Wohnung ist sehr klein. Hinter meinem Küchenstuhl steht ein Bett an der Wand und zwischen Bett und Wohnungstür ist nur ein schmaler dunkler Flur. Ich wohne im Erdgeschoss, meine Wohnungstür führt direkt auf eine Seitenstraße. Es ist neun Uhr und ich verlasse das wie jeden Morgen, wenn ich nicht gerade auf Reisen bin, das Haus und gehe um die Ecke zum Bahnhof. Der Schwede wartet schon. Außerdem zwei Nachbarn, die ich nur vom Sehen kenne und die sich jetzt leise unterhalten. Dann kommt der Zug an und eine Frau mit langen Haaren steigt aus. Der Schwede geht sofort auf sie zu und beginnt seinen Monolog. Sie solle nicht zu ihm gehen, sie solle bei ihm bleiben. Er bittet, er droht, aber sie ist unerbittlich. Sie sagt ihm, dass sie zu ihrem Ex-Mann zurückkehre. Der Entschluss sei gefallen. Dann läuft sie los. Es ist ein Ritual, jeden Morgen das gleiche. Sie läuft etwa bis zur Mitte des Weges zwischen dem Bahnhof und der Wohnung ihres Ex-Manns, denn geht sie wieder zurück. Sie dreht sich nicht um und läuft zurück, nein, sie geht rückwärts, so als würde man einen Film rückwärts laufen lassen. Der Schwede ist beruhigt. Sie steigt in den nächsten Zug und fährt davon. Morgen früh wird sich der Vorgang wiederholen. Und meine Nachbarn und ich werden dem Vorgang wieder als Zuschauer folgen. Merkwürdiger Traum.
„Jeden Morgen will ich nicht aufwachen, weil ich im Traum schon weiß, dass es mich gar nicht gibt und wie furchtbar es ist für ein Nichts, wach zu werden und ein Etwas spielen zu müssen.“ (Matthias Beltz)
Bernard Herrmann - Psycho (theme). https://www.youtube.com/watch?v=qMTrVgpDwPk

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