Samstag, 12. Dezember 2015

Berliner Zimmer

„Ich habe immer noch keine Ahnung. Aber so muss es eben sein. Alles ist so. Alles auf der Welt muss langsam und verkehrt laufen, damit der Mensch nicht hochmütig werde, damit der Mensch traurig und verwirrt sei.“ (Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki)
Prager Hopfenstuben, Karl-Marx-Allee. Wohlbeleibte deutsche Anständigkeit im Rentenalter, aus unsichtbaren Lautsprechern strömt das beruhigende Genöle von Udo Lindenberg an meinen Tisch. Während ich zum Pilsener Urquell ein Gulasch verzehre, steckt sich am Nachbartisch ein alter Mann einen wellenförmigen Bierdeckel von Staropramen in die Jackentasche.
Traurig: Männer, die Bierdeckel sammeln.
Noch trauriger: Männer, die zu Bierdeckeltauschbörsen gehen.
Ich hatte mal einen Schulfreund, der Bierdosen gesammelt hat. Um seine Sammlung zu erweitern, ist er immer zu einem riesigen Getränkemarkt auf die andere Rheinseite gefahren. Wir haben dann bei ihm ständig irgendwelche schrecklichen Biersorten von anderen Kontinenten testen müssen. Manches Bier konnte man nach einem Schluck wirklich nur in den Ausguss schütten. Aber Hauptsache, die Sammlung in seinem Kinderzimmer wurde immer größer. Bestimmt hat er den ganzen Haufen Weißblech längst entsorgt.
Auf dem Heimweg werde ich von einem Zweijährigen angestaunt. Ich sehe ja auch aus wie Rübezahl. Ich lächle ihn an, Schnullerbacke lächelt zurück. Funktioniert immer. Nur bei Erwachsenen geht das nicht mehr.
In der U-Bahn hängen überall die Werbeplakate eines Lieferservice: „Schneller ist besser“. Die Religion der Geschwindigkeit. Ich hatte sie in meinem Dorf schon längst vergessen.
„Dass Geschwindigkeit an sich in modernen Gesellschaften ein Wert ist, mag an unserer Wahrnehmung liegen: bewegte Objekte (bzw. sich selbst bewegende Lebewesen) werden schneller wahrgenommen als unbewegte, schneller bewegte früher als langsamer bewegte. Auf plötzliche Veränderungen in seiner Umwelt reagiert der Mensch mit einer Orientierungsreaktion: seine Aufmerksamkeit richtet sich voll auf den neuen Aspekt in seinem Wahrnehmungsfeld. Unsere Wahrnehmung ‚bevorzugt‘ also Bewegung und Wandel vor Stillstand und Dauer, diese vorbewusste Ordnung der Sinneseindrücke hat Einfluss auf unsere Weltsicht. Geschwindigkeit – gleichgesetzt mit Effizienz, Wichtigkeit (= Dringlichkeit) und Leistung – findet ihre Apotheose im öffentlich zur Schau gestellten Leistungssport, in der Jagd nach dem Rekord, der mit immer neuen Mitteln um lächerliche Bruchteile von Sekunden unterboten, ‚verbessert‘ wird.“ (aus meinem Notizbuch, 1994 geschrieben, eine Seite später der hellsichtige Satz: „Karriere machen kann heute jeder, Nichtstun ist die große Herausforderung“).
Das hysterische Kreischen der U-Bahn-Bremsen. Das melancholische Seufzen der Busbremsen. Als ob ein Wal zischend ausatmet.
In meiner Wohnung ist immer noch der gute Geruch von gebratenem Speck und Spiegeleiern, die ich zum Frühstück hatte. Diesen Geruch müsste es als Raumspray geben. Es ist schön, wenn am Morgen der Speck in der Pfanne prasselt wie ein englischer Sommerregen.
P.S.: Ein Berliner Zimmer ist ein Durchgangszimmer, das innerhalb einer Wohnung Vorderhaus und Seitenflügel (oder Seitenflügel und Hinterhaus) miteinander verbindet. Es ist groß, aber dunkel, da es nur ein einziges Fenster zum Hof hat. Erfunden hat es Karl Friedrich Schinkel.
P.P.S.: Noch ein Restaurant-Tipp für Berlin-Bewohner und –Besucher: „Shaniu’s House of Noodles“, ein kleines asiatisches Lokal in der Pariser Straße, das sich auf gebratene Nudeln (z.B. Bami Goreng), Udon-Nudelsuppen und chinesische Küche spezialisiert hat. Hier trifft man eine Menge junge Asiaten und Studenten, alle Gerichte kosten nur sechs Euro.
B-52's – Downtown. https://www.youtube.com/watch?v=MzStM5ZsMvU

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