Sonntag, 27. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 3, Szene 6

Marek Smrz saß in der letzten Reihe eines Seminarraums in der Kastanienallee 85 im Prenzlauer Berg. Der Kastanienkeller, wie er genannt wurde, gehörte den „BesetzerInnen im Prenzlauer Berg (BIP e.V.)“ und konnte nur durch das Café Morgenrot betreten werden. Rechts neben ihm saß Ludmilla Kesselfleisch, schön wie der erwachende Morgen mit ihren wohlgeformten Wangenknochen und der üppigen Unterlippe. In Mareks Augen war es der beste Platz in der Versammlung. Die Stimmung war aufgewühlt nach den Angriffen vom Nachmittag.
„Die erste Geste, damit etwas mitten in der Metropole hervorbrechen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, besteht darin ihr Perpetuum Mobile zu stoppen", zitierte der fusselbärtige Elias Merck aus dem revolutionären Manifest „Der kommende Aufstand“. „Richtig“, pflichtete ihm Leo Streitwieser bei. „Wir schalten Berlin ab, die Stadt geht auf Pausenmodus.“
„Aber was ist mit den Nazis, die uns angegriffen haben?“ fragte Sabrina Rossbach.
„Ja, genau. Wir müssen zurück schlagen!“ forderte Felix Schlosser.
„Tim, was hatten die Nazis denn für Forderungen?“ fragte Naomi Kutscher.
Tim Kuhn stand auf und zögerte etwas, bevor er sprach. „Die Schweine wollen uns fertig machen. Wir müssen uns wehren. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es einen Toten gegeben hat. Ihr kennt alle unsere Grundsätze: Keine Gewalt gegen Menschen, nur Gewalt gegen Sachen.“
„Genau. Eine Million Sachschaden für jedes besetzte Haus, das die Bullen räumen“, rief Merck dazwischen. „Denkt doch mal an den Kampf um die Liebig 14. Neun Leute haben im besetzten Haus gegen viertausend Bullenschweine gekämpft. Wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen! Vati Staat hat die Aktion damals 1,6 Millionen gekostet. Dazu kommt noch ein Sachschaden in Millionenhöhe, weil wir den Bullen und den Banken in der ganzen Stadt die Scheiben eingeschmissen haben. Viel Geld, um das Eigentumsrecht eines einzigen Bonzen durchzusetzen. Und so müssen wir weitermachen!“ Die Liebigstraße 14 war das letzte besetzte Haus in Berlin gewesen. Nach dem Mauerfall standen im ehemaligen Ost-Berlin viele Wohnungen leer, weil die Bewohner in den Westen umgezogen waren. Man konnte damals einfach eine leerstehende Wohnung aufbrechen, das Türschloss auswechseln und dann unbehelligt darin leben. Die Miete wurde irgendwie von der untergehenden DDR gezahlt, Strom und Wasser gab es auch weiterhin. Nach der Wiedervereinigung mussten erst die ganzen Eigentumsfragen geklärt werden, so dass es Anfang der neunziger Jahre eine riesige Hausbesetzerszene im Prenzlauer Berg und in Friedrichshain gab. „Eine Million Sachschaden für jede Räumung!“ Diese Parole stammte aus der Berliner Hausbesetzerszene und war inzwischen über dreißig Jahre alt. Nach der Räumung des Hausprojekts in der Liebigstraße 14 in Friedrichshain Anfang 2011 gab es Plakate mit dem Aufdruck: „Für jede Räumung eine passende Antwort: Eine Million Sachschaden“.
Alle johlten zustimmend und die schöne Ludmilla glühte vor Begeisterung. Marek und Merck sahen es mit Wohlwollen. Nur ein echter Barrikadenkämpfer würde ihr Herz erobern können, soviel stand fest.
„Wenn wir Menschen töten, haben wir die ganze Polizei im Nacken. In unserem eigenen Interesse sollten wir nach dem Täter des Brandanschlags suchen. Wir wollen keine Mörder in unserem Reihen“, sagte Kuhn. Der Beifall der Pazifisten fiel spärlich aus. „Ich schlage vor, wir gründen eine revolutionäre Bewegung und greifen die Nazis in ihren Home Zones an.“ Tim Brauser hatte sich eingeschaltet.
Jetzt jubelte wieder der ganze Saal.
„Heute ist der neunte August. Wir sollten uns ‚Bewegung neunter August’ nennen.“
Nochmal Jubel im Saal.
„Lasst uns ein Aktionskomitee gründen und Maßnahmen gegen die Neonazis planen!“ Vanessa Schäfer war eine Meisterin der gruppendynamischen Diskussionsprozesse. Das hatte sie in der ALB gelernt. Die „Antifaschistischen Linke Berlin“ hatte sich als Dachorganisation jedoch längst in einzelne Gruppen zerlegt. Derzeit bestimmten ARAB („Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin“) und NEA („North East Antifascists“) die öffentliche Wahrnehmung der Linksautonomen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste Demonstrationszug durch Lichtenberg oder Marzahn-Hellersdorf ziehen würde.
Marek Smrz kannte diese Pseudorevoluzzer bis zum Abwinken: Während des Semesters probten sie in der Hauptstadt die Pose des Klassenkämpfers und in den Ferien fuhren sie mit ihren Eltern zum Skiurlaub nach St. Moritz.

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