Freitag, 26. Juni 2015

Rheinkind, Kapitel 5

Letzter Schultag vor den Sommerferien. In der dritten Stunde würde es von der Klassenlehrerin, Frau Seydlitz, die Zeugnisse geben. Sie war Englischlehrerin und stammte eigentlich aus Großbritannien, hatte aber einen Deutschen geheiratet und seinen Nachnamen angenommen. So etwas war nicht ungewöhnlich. Die Großmutter seines Freundes Julian hatte einen französischen Besatzungsoffizier geheiratet, der in den Nachkriegszeit die Lieferungen der Firma kontrollierte, die ein Viertel ihrer Produktion an Frankreich abgeben musste. Und in der Firma arbeitete sogar ein Inder, wie seine Mutter ihm berichtet hatte.
Sie war längst an ihrem Arbeitsplatz, in der leeren Wohnung war es ganz ruhig. Selbst das Ticken der Küchenuhr war im Badezimmer nicht mehr zu hören. Der Junge konnte sich Zeit lassen und blickte sich um. An den vanillepuddinggelben Kacheln klebten einzelne Pril-Blumen, die man von der Plastikflasche abziehen konnte. Am Kühlschrank in der Küche klebten auch noch welche. Auf der Waschmaschine lag das Sammelsurium seiner Mutter: Bürsten, Haarklammern, Lippenstift, Haarspray, Cremes für Hände und Gesicht, Sonnenmilch und tausend andere Sachen. Auch ein paar Plastikbecher mit verschließbarem Deckel. Seine Mutter nahm an „humanpharmakologischen Versuchsreihen“ teil, wie das offiziell hieß, um Geld nebenher zu verdienen. Dabei wurden neue Medikamente an Menschen getestet. Der Junge musste ihr regelmäßig einen dieser Becher für die geforderten Urinproben füllen. Bis zur Abgabe stand der Becher dann im Kühlschrank. Das fand er ekelhaft, wollte aber nichts sagen.
Seit seine Mutter alleine war, trank sie. Nach der Scheidung seiner Eltern hatte sie gelegentlich auf Kontaktanzeigen geantwortet, aber die Beziehungen hatten nie lange gedauert. Abends saß sie allein im Wohnzimmer und immer häufiger hörte er, wie eine Flasche Wein entkorkt wurde. Manchmal kam sie später noch in sein Zimmer und war sichtlich angetrunken. Er beobachtete, wie seine Mutter durch das Trinken erst glücklich und dann wieder unglücklich wurde, und zwar viel unglücklicher als in nüchternem Zustand, so als würde sie erst volltrunken das ganze Ausmaß ihres Unglücks erkennen.
Das heiße Badewasser war eingelaufen und der Junge stieg vorsichtig hinein. Er sah an seinem Körper hinab. Die Beine waren schon immer mit dunklen Haaren bedeckt gewesen. Richtig schwarz, die Haare auf seinem Kopf waren so braun wie seine Augen. Nur die tausendfach aufgeschürften Knie lugten wie zwei Glatzen aus dem Badewasser, als er sich setzte. Auch zwischen seinen Beinen wuchsen längst Haare. Er musste an die Bemerkung von Oliver Hassemer denken, der neulich in der Schule einen blöden Witz über den Flaum unter seiner Nase gemacht hatte. Ob auf seiner Brust irgendwann einmal Haare wachsen würden? Er wusste nicht, ob sein Vater oder einer seiner Großväter eine behaarte Brust hatten. Der Junge konnte sich an die Menschen in seiner Familie immer nur in voller Bekleidung erinnern. Ob er jemals so groß wie sein Vater werden würde? Als er sich zuletzt in den Osternferien gemessen hatte, war er nur Ein Meter neunundfünfzig groß gewesen.
Rechts leuchtete eine Operationsnarbe auf seinem Bauch. Er musste daran denken, wie er vor drei Jahren im Krankenhaus von Katzenelnbogen gelegen hatte. Sie hatten ihn im unerträglich heißen Sommer 1976 wirklich „der alte Mann“ genannt. Er war am Blinddarm operiert worden, mühsam und gebeugt schlich er wochenlang durch die Flure des Krankenhauses, das stumme Gespenst der Stationen. Wegen Überfüllung der Kinderstation hatte er zwei Wochen lang in einem Zimmer mit drei erwachsenen Männern gelegen. Die Großeltern waren jeden Tag vorbei gekommen und hatten ihm Fachinger Heilwasser gekauft, die Mutter hatte nur zweimal am Wochenende kommen können.
***
Nach der Schule standen die Kinder noch in Gruppen auf dem Schulhof und sprachen in der gleißenden Julisonne über ihre Zeugnisse. Der Junge hatte die achte Klasse geschafft, er hatte fast nur Dreier und Vierer, eine Zwei in Sport, eine Fünf in Chemie. Aber es war ihm egal, er bekam sowieso kein Geld für die Noten. Julian und Michael bekamen für eine Eins zwei D-Mark, für eine Zwei eine D-Mark, manche Kinder kassierten bei ihren Großeltern gleich noch einmal. Die Jugendlichen aus der Oberstufe prahlten lautstark mit ihren schlechten Noten und überboten sich in ihrer Verachtung für bestimmte Lehrer. Die älteren Schüler sprachen auch über die politischen Ereignisse. Vor einigen Tagen hatte die RAF, eine terroristische Gruppe, einen Bombenanschlag auf den amerikanischen Oberbefehlshaber der NATO verübt. Einige Jungs mit Parka und langen Haaren fanden lobende Worte für die Terroristen, die dem „US-Imperialismus“ den Kampf angesagt hätten, und blickten sich triumphierend um.
Der Junge erinnerte sich an die Terrorwelle im Herbst vor zwei Jahren. Als die Leiche eines Entführungsopfers gefunden wurde, war er gerade bei seiner anderen Oma in Diez gewesen. Die Nachricht hatte damals alle Erwachsenen erschüttert. Sie machten Gesichter, als hätten sie einen nahen Verwandten verloren. Die geplante Ausstrahlung eines Heinz-Rühmann-Films, auf den er sich gefreut hatte, wurde abgesagt. In den Postämtern hingen Plakate mit vielen Schwarz-Weiß-Porträts, von denen einige mit einem dicken schwarzen Stift durchgestrichen waren. Er hatte das Gefühl gehabt, als sei eine großangelegte Jagd auf eine verwegene Räuberbande im Gang gewesen. Klammheimlich hatte er damals den Räubern die Daumen gedrückt, aber niemandem etwas davon gesagt.
Die Maulhelden im Parka mochte der Junge nicht. Das ganze Gerede von der Politik war doch nur eine neue Form von Balz- und Imponiergehabe, dachte er. Genau wie die langen Haare und die Musik. Er verließ den Schulhof und ging zu seinem Rad. Mit dem Ranzen auf dem Gepäckträger fuhr er zum nahen Bahnhof. Links vor dem Säulenportal des Gebäudes stand eine Imbissbude in Form eines Fliegenpilzes. Hier belohnte sich der Junge für sein Zeugnis mit Pommes frites, die er mit einem gelben Plastikgäbelchen aus einer spitzen Papiertüte herausfischte. Oben hatte man immer ganz viel Mayo und unten ganz viel Salz. Seine Mutter hatte ihm extra drei Mark zum Essen mitgegeben, die Mark für die Cola sparte er sich. Er würde zu Hause Wasser trinken und sich nächste Woche lieber das neue MAD-Heft im Laden der Benders kaufen.
***
Als er vor der Bude stand und gerade versuchte, die harten braunen Brösel aus der letzten Ecke der Tüte zu bekommen, stand plötzlich Jan vor ihm. Jan, ein alter Freund aus seiner Grundschulzeit. Er erinnerte sich an frühere Zeiten, in denen er mit seinen alten Freunden durch die Felder gestreift, heimlich Feuer gelegt und Fußball gespielt hatte.
„Der Zirkus ist da“, rief ihm Jan freudestrahlend zu.
„Echt?“ fragte der Junge überflüssigerweise. Er warf die Papiertüte in den Mülleimer und stieg auf sein Rad.
Sie fuhren, so schnell sie konnten, an den Gleisen entlang, durch die Unterführung und durch das Werksgelände der Firma. In Ingelheim-West gab es an der Veit-Stoß-Straße ein großes Mietshaus mit fünf Stockwerken, das jeder nur „das blaue Haus“ nannte. In diesem Haus wohnte Jan mit seiner Familie. Der Vater war schrecklich, er schrie seine Kinder oft an und schlug sie. Nördlich der großen Wohnanlage waren Wiesen und Felder bis zur Autobahn. Und genau hier, an der Matthias-Grünewald-Straße, war jeden Sommer ein Wanderzirkus.
Als sie endlich ankamen, waren schon einige andere Kinder da. Sie standen neugierig um die drei Holzwagen herum, die einen Kreis um ein Stück Wiese bildeten. Der Zirkus war nicht groß. Eigentlich war es nur eine einzige Familie, wie es schien. Die Erwachsenen saßen auf Holzkisten an der Feuerstelle und sprachen in einer unbekannten Sprache miteinander. Ein Mädchen balancierte mit einer Stange auf einem Seil, dass nur eine Handbreit über dem Boden zwischen zwei Pfosten aufgespannt war. Ein anderes Mädchen saß auf einem großen weißen Pferd, das von einem Jungen in zu kurzen Hosen im Kreis geführt wurde. In einem der Wagen waren ein paar Rhesusaffen mit Halsbändern angekettet. Ein barfüßiges Kind fütterte sie gerade mit Obst und Brot.
Der Junge und sein alter Freund traten näher. Hier fühlte er sich immer wohl. Nur schade, dass er morgen schon wieder zu seinen Großeltern fahren musste. Aber seine Mutter konnte nicht für die ganzen Sommerferien Urlaub beantragen, er wusste es und widersprach auch nicht. Früher hatte er sich jeden Nachmittag beim Zirkus herumgetrieben, wenn er in der Stadt war. Und er war immer traurig, wenn der Wanderzirkus eines Tages verschwunden war. Affen, Pferde und ein paar Kunststücke – die Aufführungen waren langweilig, aber die vertrödelte Zeit nach der Schule war herrlich gewesen. Und die Erwachsenen waren auf unerklärliche Weise freundlich zu den Kindern und nahmen sich für alles Zeit, so als ob sie Millionäre wären.
Einmal hatte eine alte Frau dem Jungen sogar aus der Hand gelesen. Sie hatte ihn angelächelt, ein Gesicht voller Falten und Zahnlücken, und dann gesagt, seine Lebenslinie sei sehr lang und stark, er hätte eine starke Gesundheit und einen festen Willen. Die Kopflinie weise auf Klugheit und Phantasie hin. Allerdings sei die Herzlinie unterbrochen und die Schicksalslinie nur kurz, was auf wenig Erfolg in Liebe und Beruf hindeute. Aber am Ende seines Lebens würde sich alles zum Guten gewendet haben. Der Junge hatte es nicht vergessen.
Als er den Zirkuskindern zusah, die sich die Affen auf die Schultern setzten, erinnerte er sich auch an das angeblich zahme Kaninchen, das er auf dieser Wiese vor ein paar Jahren gefangen und mit nach Hause gebracht hatte. Seine Mutter war entsetzt gewesen. Das Tier hatte tatsächlich eine Krankheit namens Myxomatose gehabt und war kurz darauf verstorben. Seither waren Haustiere kein Thema mehr gewesen.
***
Um achtzehn Uhr, zur Abendbrotzeit, stieg der Junge vom Rad und trug es in den Fahrradkeller des Hauses. Mutter würde sicher schon mit dem Essen auf ihn warten. Er hatte sich mit Jan für die Sommerferienzeit verabredet, wenn er wieder aus Klingelbach zurück sein würde. Sie wollten telefonieren, aber der Junge war sich nicht sicher, ob Jan anrufen oder ob Jans Vater ihn ans Telefon holen würde. Jan durfte nicht alleine telefonieren und der strenge Vater hatte dem Jungen einmal zwanzig Pfennig abgeknöpft, weil er mit seiner Mutter telefonieren wollte.
Als er die Treppe hinauf ging, kam ihm Petra entgegen. Sie trug den Müll hinunter und grüßte ihn freundlich. Immer wenn der Junge sie sah, bekam er ein schlechtes Gewissen. Es war zwar schon fünf Jahre her und Petra war damals noch ganz klein gewesen. Sicher erinnerte sie sich schon längst nicht mehr an den Vorfall, den sie lächelte ihn immer mit großen Augen an, wenn sie ihn traf. Er hoffte zumindest, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte. Er selbst dachte fast jede Woche einmal daran, wie er die kleine Petra auf der Wiese vor ihrem Mietshaus gesehen hatte. Sie saß auf ihrem Dreirad und biss gerade in eine Rosinenschnecke, als er mit seinem Fußball unterm Arm in die Wohnanlage kam. Er erinnerte sich, wie neidisch er auf das kleine Mädchen mit ihrer Süßigkeit war. Er hätte auch gerne etwas Süßes gegessen, aber seine Mutter kam erst später nach Hause. Etwa zehn Meter von dem ahnungslosen Mädchen, das ganz alleine auf der Wiese seine Rosinenschnecke aß, legte er seinen Fußball auf den Rasen. Ob er wohl mit einem gezielt gezirkelten Schuss das Mädchen treffen konnte?
Bevor er noch länger darüber nachgedacht hatte, flog der Ball schon in ihre Richtung. Er sprang ein paar Mal auf und traf den Lenker des Dreirads. Durch die plötzliche Erschütterung fiel dem Kind die Rosinenschnecke aus der Hand und landete im Dreck des Fußwegs. Die Kleine brauchte eine Weile, um ihr Unglück zu begreifen, und weinte dann jämmerlich. Der Junge hatte es gleich begriffen und sich umgedreht. Er war schon weit weg, als endlich die Mutter der kleinen Petra aus dem Haus kam, um ihr Kind zu trösten. Sicher hatte die Kleine die böse Geschichte vergessen, aber ihm brannte die Scham im Gesicht, wenn er daran zurück dachte. Er hatte nie jemandem von der Sache erzählt, aber mit seinen Erinnerungen büßte er diesen Fehler tausendfach.
„Wo bist du denn gewesen?“ Seine Mutter riss ihn aus allen Gedanken. Sie hatte ihn wohl die Treppe heraufkommen gehört und die Wohnungstür geöffnet.
„Der Zirkus ist in der Stadt“, antwortete der Junge.
„Ach, der Zirkus“, sagte seine Mutter ärgerlich. „Du bist doch viel zu alt für solche Sachen. Hast du denn schon gepackt? Du bist für drei Wochen weg!“
„Das habe ich doch in nullkommanix erledigt. Kann ich nachher noch Fernsehen gucken?“
„Ich glaube, du spinnst. Diese Zirkusleute setzen dir doch nur dumme Ideen in den Kopf. Setz dich erst mal und iss was!“
Der Junge zog die Schuhe aus und setzte sich an den Esstisch. Er schmierte sich zwei Schreiben Brot und belegte sie mit Bierschinken. Seine Mutter hantierte derweil stumm in der Küche und im Badezimmer, wo noch Wäsche zum Trocknen hing.
Nach dem Abendbrot ging er in sein Zimmer und setzte sich auf seinen Lesesessel. Der Junge sah sich in seinem Zimmer um. An den Wänden die Poster von James Dean und King Kong aus der „Bravo“, dazu diverse Rockbands, die aber häufig wechselten. An einem Nagel baumelten auch die ungenutzten Boxhandschuhe eines Bekannten seiner Mutter, der ein paar Monate zu Besuch gekommen war. Über seinem Bett standen in einem Holzregal lange Reihen mit Kinderbüchern und neueren Erwerbungen. Jules Verne und andere Science Fiction, Drei Fragezeichen und Enid Blyton. In einer Ecke saßen seine Lieblingsteddys, mit denen er natürlich nicht mehr spielte, aber dennoch gelegentlich für einen inneren Dialog nutzte, wenn es ihm nicht gut ging. Sie verstanden den Wahnsinn der Erwachsenenwelt noch am besten.
Auf seinem Schreibtisch, unter einem Stapel Comichefte und Kritzeleien verborgen, sah er sein Briefmarkenalbum. Da er heute sowieso nicht „Mit Schirm, Charme und Melone“ sehen durfte, konnte er sich wenigstens die schönen Marken anschauen. Manche Marken waren aus fernen Ländern wie Argentinien oder Südafrika, dann stellte er sich vor, wie es in diesen Ländern aussehen mochte. Oder welche Abenteuer man erleben konnte. Manche Marken waren aus uralter Zeit, als es noch Kaiser und Kalifen gegeben hat. Sein Urgroßvater väterlicherseits war als Kolonialoffizier in Afrika gewesen, genauer gesagt in Kamerun. Auf bräunlichen alten Fotos sah man ihn mit einem Tropenhelm inmitten von farbigen Menschen stehen. Im Wohnzimmer hing das Fell einer Gazelle, die der Urgroßvater selbst erlegt hatte. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass vor dem Familiensitz, der längst in Schutt und Asche gefallen war, zwei gewaltige Elefantenschädel das Portal flankiert hätten, und dass am Wochenende die afrikanische Sammlung für neugierige Besucher geöffnet gewesen sei. Vor dem Krieg war ja kaum ein Mensch aus seinem Land heraus gekommen und so hatte der Urgroßvater, der später an den Folgen der Malaria gestorben war, immer viel zu berichten gehabt.
Seine Mutter stand mit einem Stapel Unterwäsche in seiner Zimmertür.
„Hast du immer noch nicht mit dem Packen angefangen? Jetzt wird’s aber Zeit!“
Sie legte den Wäschestapel auf den Stuhl am Schreibtisch und öffnete seinen Kleiderschrank.
Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und zog den alten braunen Kunstlederkoffer herunter, der auf dem Schrank lag. Sie legte ihn geöffnet auf das Bett und machte eine ironische Geste der Aufforderung. „Und zwar heute noch, Monsieur!“
„Ja, Mutter“, sagte der Junge resigniert. Du hast gewonnen, du hast wie immer Recht, dachte er. Aber du solltest dich fragen, was du gewonnen hast.

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